Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Kollektiver Wutanfall
Von Stefan Schmöe
Der Beginn dieses Tanzabends sieht aus wie die Eingangssequenz eines Fernseh-Tatort. Ein kleines Zimmer, darin ein Tisch, mehr Feinmechaniker-Werkbank als Schreibtisch, und eine Liege, auf der eine Frau mit weißem Kleid offenbar schläft (Julie Anne Stanzak); ein charismatischer, irgendwie nerdiger Mann (Andrzei Berezin), der an nicht näher bestimmbaren Objekten herumbastelt. Das fernsehkrimigeschulte Auge des Zuschauers sucht nach Indizien für einen möglichen Kriminalfall. Die sehr ruhige Szene hat einen stark narrativen Charakter, der freilich sofort surreal unterlaufen wird. Das Zimmer ist eben nur durch die Position der Objekte im an sich leeren Bühnenraum angedeutet. Das vermeintliche Fenster gibt den Blick frei auf einen Monitor, auf dem man Landschaftsaufnahmen sieht. Die Gegenstände sind wohl doch Fantasiekreationen. Alles nur ein "als ob". Stephanie Troyak (Foto © Klaus Dilger)Für Konzeption und Choreographie dieses rund zweieinhalbstündigen Abends für 14 Tänzerinnen und Tänzer verantwortlich ist Rainer Behr, seit 1995 aktiv in Pina Bauschs Tanztheater Wuppertal und schon häufiger mit eigenen Arbeiten hervorgetreten. Die Dramaturgie des Stückes folgt in seiner collagenhaften Struktur stark der Pina Bauschs. Eine Handlung gibt es nicht, vermeintlich erzählerische Momente wie am Beginn nur en miniature. Die Grenzen zwischen Tanz und Theater sind fließend. Kleine Spielszenen sind eingebaut; so läuft eine Tänzerin mit nur einem Schuh über die Bühne und ein Tänzer legt zum Höhenausgleich Pflastersteine für den anderen Fuß bereit. Wie an manchen der Bausch-Abenden aus den 1980er-Jahren wird das Publikum in der ersten Parkettreihe direkt angesprochen, allerdings nicht komplizenhaft höflich, sondern als konkrete Drohung: "Ich mache Dich fertig. Ich vernichte Dich". Die Darsteller*innen gewinnen allerdings eher wenig Individualität und bleiben austauschbar. Nazareth Panadero, seit 1979(!) Mitglied der Compagnie (jetzt nur noch "als Gast") und mit ihrem charakteristischen Akzent oft für schräg-witzigen Momente zuständig, erhält vor allem in der zweiten Hälfte Präsenz (allerdings wirkt die Choreographie da recht unentschlossen, welches Gewicht das bekommen soll). Tragik, Witz und (vergleichsweise wenig) Melancholie stehen nebeneinander, können blitzartig ineinander umschlagen. Emma Barrowman (Foto © Evangelos Rodoulis)
Getanzt werden eine Reihe von sehr schönen, ausdrucksstarken Soli und auch ein paar große Ensembles. In der zentralen Szene sitzen die Tänzerinnen und Tänzer in mehreren Reihen auf Stühlen frontal zum Publikum, und es entwickelt sich ein kollektiver Wutanfall. Obwohl es Behr sehr gut gelingt, den Abend organisch zu rhythmisieren und die Übergänge zwischen den Szenen fließend und zwingend zu gestalten, könnte Schlafende Frau noch mehr solcher Ensemblenummern vertragen. Hier spielt wohl auch die Entstehungsgeschichte der Produktion eine Rolle: In Pandemie und Lockdown konzipiert, war zunächst die Videokonferenzplattform Zoom das Mittel der Verständigung, dann gab es notgedrungen nur Einzelproben, solange kein Arbeiten in der Gruppe erlaubt war. Die erste "Aufführung" war dann auch eine reine Videoproduktion, jetzt erlebt das Werk seine Uraufführung auf der Bühne. Trotzdem wirkt es keinesfalls wie ein Zusammenschnitt von Einzelszenen, selbst da nicht, wo ein fulminates Solo einer sehr zornigen Julie Shanahan als Video eingeblendet wird (die Tänzerin, im Kosmos des Wuppertaler Tanztheaters seit Jahrzehnten in der Rolle der Diva, ist an diesem Abend nicht "live" auf der Bühne). Nazareth Panadero (Foto © Evangelos Rodoulis)Schlafende Frau (der Titel bezieht sich auf Tonaufnahmen einer schlafenden Frau, die letztendlich gar keinen Eingang in das Stück gefunden haben, lässt sich aber auf die Eingangssequenz sowie auf die insgesamt (alptraum-)hafte Atmosphäre umdeuten) wirkt auf verschiedenen Ebenen wie der Versuch, Pina Bauschs Konzeption des Tanztheaters in der Gegenwart neu zu erproben, und das gelingt gar nicht schlecht. Das betrifft auch die Musikauswahl (Andreas Eisenschneider, seit 1995 in dieser Funktion beim Tanztheater Wuppertal), die hier einen Hang zum Futuristischen, Maschinenartigen zeigt und dem Abend eine technische, "entmenschlichte" akustische Komponente gibt. Der Bühnenraum (Rainer Behr und Michael Simon) ist offen, vom Bühnenhimmel hängt ein Bündel von Scheinwerfern wie ein mysteriöser Asteroid herab (es fällt schwer, in diesen Zeiten darin nicht auch eine Anspielung auf das Corona-Virus zu sehen), wie überhaupt Scheinwerfer (auch auf rollbaren Gestellen montiert auf der Bühne) eine große Rolle spielen - das grenzt sich in seiner bewussten Offenheit durchaus ab zu den oft sehr poetischen Bühnenbildern Rolf Borziks und Peter Pabsts (die allerdings auch "offen" sein konnten und wollten wie etwa in Arien oder 1980), und sie signalisieren eher ein Nicht-Vorhandensein eines schützenden Raums. Die "Schönheit" auch dieses Raumes ist sehr viel unterkühlter und abweisender, und wenn Pina Bausch in Zusammenarbeit mit ihrer Kostümbildnerin Marion Cito mit eleganten Kleidern und Anzügen immer wieder die berückende Schönheit der Tänzerinnen und Tänzer feierte, so bleibt das bei Rainer Behr und Kostümbildnerin Susanne Stehe eine fast zitatartige Ausnahme, verkörpert vor allem durch Julie Anne Stanzak (seit 1986 in der Compagnie). Aber die Bilder sind disparater und damit auch zeitgemäßer geworden. Stephanie Troyak etwa (die in Die sieben Todsünden zum angehenden Star des Ensembles avancierte, inzwischen aber, ein Jammer, die Compagnie verlassen hat und auch nur noch als Gast mitwirkt) gibt in einem ziemlich bunten Haufen die rotzfreche Rebellin in schulterfreier Weste - das ist ein anderes Frauenbild. Stephanie Troyak (Foto © Ursula Kaufmann)
Es ist ein starkes Stück geworden, das Behr formal souverän schließt, indem er am Ende viele Szenen des Abends verkürzt nebeneinander montiert und damit verdichtet. Ein ziemlich düsteres Stück, das von Zukunfts- und Gegenwartsängsten erzählt, aber auch von Selbstversicherung und eben auch von Zorn. Das nichts erklären und nicht "gedeutet" werden will, keine "Botschaft" verschlüsselt, sich keinen Konventionen unterwirft (soweit das überhaupt möglich ist), seine Gestalt souverän aus sich selbst heraus findet. Das bei allen Stärken aber auch ein wenig neutral und distanziert bleibt, das Publikum nicht wirklich heranlässt, anders als die frühen Pina-Bausch-Stücke die Ängste tief im Inneren nicht so genau zeigen will. Und das auch dadurch im Wuppertaler Opernhaus ein wenig heimatlos wirkt, weil viele Sprechszenen in englischer Sprache gehalten sind, bereit für einen internationalen Tournee- und Festivalbetrieb und weniger für ein Stadttheater. Und ein wenig fehlt dann doch eine Gewichtung der einzelnen Szenen, ein Hervorheben der Momente, die sich einprägen und nachwirken sollen.
Schlafende Frau ist ein bemerkenswertes Stück Tanztheater ziemlich stark in der Tradition Pina Bauschs und doch eigenständig geworden, in seiner düsteren Atmosphäre manchmal abweisend, ein wenig sperrig, aber sehr sehenswert. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Inszenierung und Choreographie
Bühne
Kostüme
Musik Tänzerinnen und TänzerEmma BarrowmanAndrey Berezin Taylor Drury Jonathan Fredrickson Blanca Noguerol Ramírez Milan Nowoitnick Kampfer Nazareth Panadero Julie Shanahan Ekaterina Shushakova Julie Anne Stanzak Julian Stierle Christopher Tandy Stephanie Troyak Tsai-Chin Yu
|
© 2022 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de