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Ein Ballett der verpassten Chancen
Von Stefan Schmöe / Fotos von Bettina Stöss
Wer ist Giselle? Jedenfalls nicht das lebensfrohe Bauernmädchen, dass sich in Albrecht, den smarten Fremden, verliebt, der sich allzu spät als (für sie unerreichbarer) Adeliger zu erkennen gibt. Was Giselle, so sieht es die originale Handlung vor, in Wahnsinn und Tod treibt, worauf sie als Geist, als "Wili", mit ihren Gefährtinnen junge Männer in den Tod lockt. Mit dem Frauenbild des 1841 uraufgeführten Balletts nach einem Libretto von Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges und Théophile Gautier weiß Choreograph Demis Volpi nicht viel anzufangen, zumal diese Giselle sich dann als Geist auch noch schützend vor den geliebten Albrecht stellt - das, so der Befund, ist nicht mehr zeitgemäß. Warum muss man dann Giselle überhaupt aufführen, könnte man fragen. Oder man könnte untersuchen, ob diese Frau tatsächlich die zerbrechliche femme fragile ist oder nicht doch eine ziemlich starke Persönlichkeit, die gegen bürgerliche Konventionen ankämpft. Volpi geht einen ganz anderen Weg und baut ein ziemlich abenteuerliches Konstrukt auf, um das Stück zu retten - das dann aber nicht mehr Giselle heißen dürfte, sondern unbedingt Bathilde. Denn diese Randfigur, die standesgemäße Verlobte des in amourösen Angelegenheiten flatterhaften Albrecht, wird zur Hauptrolle aufgewertet, und Volpi erzählt ihre Sichtweise der Geschichte.
Das geht so: Albrecht und Bathilde besuchen eine Vorstellung des Balletts Giselle, wobei Bathilde der Hauptdarstellerin Blumen überreichen möchte und irgendwie in den Backstage-Bereich und auf die Bühne gelangt - und dort sofort von Giselle oder deren Darstellerin fasziniert ist. Derweil werden einzelne Szenen der gerade vergangenen Aufführung noch einmal nachbesprochen und die Bühnenarbeiter gehen ihrer Arbeit nach, zudem gibt es eine kleine Party, womit ganz abwechslungsreich die einzelnen Nummern des Balletts und ein paar historische Requisiten (Bühne: Heike Scheele) in die Handlung integriert werden. Giselles mahnende Mutter kommt nicht vor, dafür gipfelt die Szene in einem intensiven Kuss zwischen den beiden Frauen (was im Parkett tatsächlich den einen oder anderen Schreckenslaut hervorruft). Damit hebelt Volpi das klassische Ballettschema mit selbstverständlich heterosexuellem Liebespaar aus, was an sich ja eine interessante Idee sein könnte, und anstelle des Konflikts einer Liebe über Standesgrenzen hinweg tritt die Frage der klassischen Geschlechterrollen und deren Negation. Damit bewegt sich Volpi nahe am queeren Zeitgeist. Das hätte er auch leichter haben können mit einem Tausch der Partien von Albrecht und Bathilde: Bauernmädchen verliebt sich in eine schöne Fremde, die aber aufgrund der bürgerlichen Konvention bei ihrem männlichen Verlobten bleibt. Aber mit dem Perspektivwechsel und dem Fokus auf die Figur der Bathilde wird die Angelegenheit kompliziert. Giselle und die Wilis Es bleibt die Frage: Wer ist denn nun diese Giselle? Meint Volpi die romantische Bühnenfigur als Projektionsfläche für unerfüllbare Wünsche Bathildes, oder meint er ganz konkret die Tänzerin? Jedenfalls liefert er keinen ersichtlichen Grund, warum Giselle wahnsinnig wird (hier wirft sie ihre Ballettschuhe weg), denn es ist ja Bathilde, deren Gefühle durcheinandergebracht werden, und so bleibt der Schluss des ersten Aktes und damit das zentrale Moment von Giselles Verwandlung in eine "Wili" unmotiviert. Der zweite Akt zeigt die gealterte Bathilde am Ende ihres Lebens, die ihren verpassten Chancen nachtrauert. In einer kurzen Szene sieht man sie mit Albrecht und einem Kind als glückliche moderne Familie. Die Wilis sehen jetzt alle aus wie Giselle, ein Geisterzug der Erinnerung. Volpi lässt diese Giselle-Doubles von Frauen und Männern tanzen, und auch hier spielt er auf die Aufhebung tradierter Geschlechterrollen an, nur bringt dies weitere Probleme mit sich. Wenn der erste Akt seine Spannung daraus bezieht, dass Giselle als Objekt von Bathildes Liebe gerade kein Mann ist, dann macht es wenig Sinn, ihre Doppelgängerinnen teilweise von Männern tanzen zu lassen. Um die Geschlechtszugehörigkeit als entscheidendes Merkmal für Liebe grundsätzlich aufzuheben, müsste die Choreographie von Beginn an konsequenter damit umgehen. Hier aber trägt Giselle ein niedliches, typisch weibliches Oberteil und ein weißes Tutu (Kostüme: Katharina Schlipf), wie konsequenterweise dann auch die Männer. Das führt zum nächsten Problem: Männer im Tutu sind als Bild einfach kabarettistisch verbraucht. Warum also diese Kostüme? Offenbar möchte Volpi trotz allem auch eine romantische Giselle mit schönen Kostümen in dichter Atmosphäre zeigen - aber dadurch wird das Konzept dahinter allzu unscharf.
Den ersten Akt dominiert ungeachtet des Überbaus Futaba Ishizaki als quicklebendige, virtuose Giselle, die der verschüchterten Bathilde mehr als nur ein paar Tanzschritte beibringt. Allerdings bleibt diese Giselle in ihr hübsch anzuschauendes Kostüm eingehüllt wie in einen Kokon, der ihre Individualität verhüllt. Ihr Verehrer Hilarion bekommt arg konventionelle Auftritte (achtbar getanzt von Damián Torío), Bathildes Verlobter Albrecht (zur Erinnerung: eigentlich die männliche Hauptrolle) wird zum slapstickhaft überzeichneten Softie (Daniele Bonelli kann der Partie wenig Profil abgewinnen) - man mag nicht recht glauben, dass Bathilde an diesem Mann je Gefallen gefunden hat. Dabei sollte er doch wenigstens eine ernst zu nehmende Option für Bathilde sein, um sie mit ihren Empfindungen in einen Konflikt zu bringen. Im zweiten Akt gewinnt Doris Becker als junge Bathilde deutlich an tänzerischer Statur, die in den Erinnerungen der nur pantomimisch agierenden alten Bathilde (Angelika Richter) erscheint. Volpi fragt in ein paar schönen Szenen danach, wie ein Leben wohl hätte verlaufen können, wenn Entscheidungen anders getroffen worden wären. Gleichwohl ist die Geschichte schnell auserzählt, im Grunde bereits im deutlich kürzeren ersten Akt. Der zweite bewegt sich konzeptionell zwischen Klischee und Sentimentalität. Immerhin gerät er ungeachtet der "moderneren" Lesart auf leerer, raffiniert ausgeleuchteter Bühne (Licht: Bonnie Beecher) atmosphärisch dichter als die bejubelte, durch und durch traditionell-romantische Sichtweise Ben van Cauwenberghs in Essen. Nur noch eine ferne Erinnerung an eine verpasste Chance, aber doch sehr schön getanzt: Bathilde und Giselle
Im Orchestergraben zeichnen Mark Rohde und die guten Düsseldorfer Symphoniker die Partitur Adolphe Adams kammermusikalisch klar und sehr transparent nach, viel mehr um die leisen als um die knalligen Töne bemüht, wobei der Beginn in legatoseliger Behäbigkeit erstarrt und später im Nachhören der schönen Töne die Musik auch auf der Stelle treten kann. Aber viele Passagen erklingen dann doch delikat und feinsinnig und beschwören die Melancholie herauf, die in der Choreographie oft Behauptung bleibt. Für Volpi gab es am Ende dieser Premiere viel Applaus, aber auch manches lautstarke "Buh".
Mittelprächtiges Handlungsballett: Demis Volpi konstruiert sich arg bemüht eine neue Geschichte zusammen, die das Ballett wiedererkennbar und doch ganz anders auf die Bühne bringen möchte - dieser etwas halbherzige Mittelweg führt zu ein paar schönen Szenen, manchen Widersprüchen und allerlei Banalitäten. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Choreographie
Musikalische Leitung
Bühne
Kostüme
Licht
Dramaturgie
Giselle
Bathilde
Albrecht
Hilarion
Die alte Bathilde
Das Kind
Die Solistin
Die Ankleiderin
Der Ballettmeister
Die Produktionsassistentin
Die Tänzerinnen
Die Bühne
Die Party
Die Wilis
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