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Reisende im StauVon Thomas Molke / Fotos: © Annemone TaakeRossinis Il viaggio a Reims nimmt im Kanon der wiederentdeckten Werke des Schwans von Pesaro eine besondere Stellung ein. Als "Cantata scenica" hatte Rossini das Stück eigentlich nur für die Krönungsfeierlichkeiten des französischen Königs Karl X. konzipiert und es nach drei Vorstellungen vom Spielplan genommen, um mehr als die Hälfte der Musik für seine spätere Oper Le Comte Ory zu verwenden. Doch das Werk wurde ohne Rossinis Autorisierung noch zweimal wiederverwendet. Unter dem Titel Andremo a Parigi? lud es 1848 auf die Barrikaden nach Paris ein, und zur Hochzeit von Kaiserin Sissi und Kaiser Franz Joseph I. stand es 1854 als Il viaggio a Vienna in Wien auf dem Spielplan. Danach wurde es allerdings still um das Stück. Erst eine aufwendige Rekonstruktion in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts beim Rossini Opera Festival in Pesaro führte 1984 zu einer grandiosen Wiederentdeckung unter der musikalischen Leitung von Claudio Abbado. Dabei galt das Stück für "gewöhnliche" Opernhäuser eigentlich als nahezu unaufführbar, da bei insgesamt 18 solistischen Rollen mindestens zehn sehr anspruchsvolle Partien zu besetzen sind. Schließlich hatte Rossini in Paris für die Krönungsfeierlichkeiten die erste Garde der italienischen Opernstars der damaligen Zeit versammelt. Dennoch etablierte sich das Werk als absolute Kultoper bei zahlreichen Festivals, Workshops, Akademien und Konservatorien, und so hat diese "Gelegenheitskomposition" mit über 600 Aufführungen in mehr als 150 Produktionen mittlerweile einen unaufhaltsamen Siegeszug über die gesamte Welt angetreten. In Pesaro ist Il viaggio a Reims seit 2001 in jedem Sommer zweimal im Rahmen des alljährlichen Festival Giovane mit jungen Sängerinnen und Sängern der Accademia Rossiniana in einer Inszenierung von Emilio Sagi zu erleben. Nun kommt die Oper in Aachen, der Partnerstadt von Reims, die wie Reims auf zahlreiche Krönungszeremonien in ihrer langjährigen Geschichte zurückblicken kann, heraus. Eine Handlung im eigentlichen Sinne hat die Oper nicht. Eine illustre Reisegesellschaft aus ganz Europa macht im Badehotel "Zur Goldenen Lilie" in Plombières Zwischenstation, um von dort zu den Krönungsfeierlichkeiten des neuen französischen Königs Karl X. nach Reims aufzubrechen. Doch am Tag der Abreise sind keine Pferde aufzutreiben, und nach anfänglicher Enttäuschung machen die Gäste aus der Not eine Tugend und feiern im Garten des Hotels ihr eigenes Fest. Vorher kämpfen die leicht exaltierten Gäste allerdings noch mit ganz anderen Problemen. Die modeverrückte französische Contessa di Folleville ist verzweifelt, weil die Kutsche mit ihrer Garderobe verunglückt ist und sie nicht weiß, was sie nun zu den Feierlichkeiten tragen soll. Der russische General Conte di Libenskof ist rasend eifersüchtig auf den spanischen Grande Don Alvaro, der heftig mit der polnischen Marchesa Melibea flirtet, und will den Rivalen zum Duell fordern. Der schüchterne Lord Sidney ist unsterblich in Corinna, eine römische Improvisationskünstlerin, verliebt, bringt es aber nicht fertig, ihr offen seine Liebe zu gestehen, ganz im Gegenteil zu dem französischen Offizier Cavaliere Belfiore, der, obwohl er eigentlich mit der Contessa di Folleville liiert ist, Corinna unverhohlen den Hof macht. Der italienische Literat Don Profondo ist als leidenschaftlicher Sammler stets auf der Suche nach skurrilen Antiquitäten, und der Major Barone di Trombonok sieht sich mit "deutscher Gewissenhaftigkeit" als Schatzmeister für die Organisation der Reise in der Pflicht. Das alles ist für sich betrachtet ein netter Blödsinn, wenn da nicht die unglaubliche Musik Rossinis wäre, dem es gelingt, für jede dieser Figuren grandiose Arien und Szenen zu komponieren, die die Charaktere bei aller Verrücktheit irgendwie liebenswert erscheinen lassen. Gestrandet auf der Autobahn: Madama Cortese (Larisa Akbari, Mitte) mit Maddalena (Irina Popova, rechts daneben), Don Prudenzio (Stefan Hagendorn, links daneben), Antonio (Vasilis Tsanaktsidis, dahinter) und Ensemble (Opern- und Extrachor) Das Regie-Team um Michiel Dijkema verlegt die skurrile Geschichte in die Gegenwart und stellt sich die Frage, wo in der heutigen Zeit Reisende auf ihrem Weg stranden können, ohne ihr Ziel zu erreichen. Daher befinden sich die Figuren des Stückes in einem Stau auf der Autobahn nach Reims (Bühnenbild: Dijkema). "Die goldene Lilie" ist ein Auto, das die Aufgabe übernommen hat, die Koffer von zahlreichen Reisenden nach Reims auf dem Dachgepäckträger zu transportieren. Maddalena, eigentlich die Leiterin des Badehotels, ist hier die Chauffeuse, die sich direkt in der Introduktion "Presto, presto" mit den Bauarbeitern anlegt, die den Weg für die Weiterreise versperren. Der von Jori Klomp einstudierte Opern- und Extrachor stellt dabei die Bauarbeiter sowie zahlreiche Reisende der unterschiedlichsten Nationen dar, die von dieser Sperrung betroffen sind. Das ist zwar für den musikalischen Klang in der Introduktion sehr gewaltig. Inhaltlich wäre es aber stimmiger gewesen, wenn sich Irina Popova als Maddalena hier nur mit den Bauarbeitern auseinandergesetzt hätte. Popova versprüht eine enorme Komik und zeigt sich sehr rabiat, worunter vor allem Vasilis Tsanaktsidis als Bauarbeiter Antonio zu leiden hat. Wenn Maddalenas Chefin Madama Cortese auftritt und versucht, die Wogen zu glätten, hat der Gesang von den Strahlen der Sonne ebenfalls eine gewisse Ironie, da der Himmel im Hintergrund absolut wolkenverhangen und düster ist. Larisa Akbari begeistert als Madama Cortese mit beweglichen Koloraturen und sauber angesetzten Läufen. Auch in den Parlando-Stellen punktet sie mit halsbrecherischem Tempo. Chaos unter den Reisenden: von links: Don Alvaro (Jorge Ruvalcaba), Contessa di Folleville (Suzanne Jerosme), Marchesa Melibea (Alexandra Urquiola), Barone di Trombonok (Pawel Lawreszuk), Don Luigino (Wonhong Kim), Don Prudenzio (Stefan Hagendorn), Madama Cortese (Larisa Akbari), Corinna (Laia Vallés), Cavaliere Belfiore (Ángel Macías), Conte di Libenskof (Randall Bills), Lord Sidney (Jonathan Macker), Don Profondo (SungJun Cho) und Modestina (Luzia Tietze) Es folgt die große Szene der Contessa di Folleville. Auch hier hat Dijkema einen großartigen Gag parat. Die Contessa holt ihren Koffer vom Dach des Wagens, um über ihr figurbetontes Leopardenkostüm (Kostüme: Jula Reindell) eine pinkfarbene grelle Jacke anzuziehen, lässt jedoch den Koffer auf der Straße liegen, wo er dann von Antonios Dampfwalze platt gemacht wird. Ihre heißgeliebte Garderobe klebt jetzt völlig zerfetzt an der Walze, was dazu führt, dass sie einen Nervenzusammenbruch bekommt. Suzanne Jerosme spielt die Contessa absolut exaltiert, auch wenn die Personenregie als männermordender Vamp vielleicht ein bisschen über das Ziel hinausschießt. Mit leidenden Höhen beklagt sie den Verlust ihrer Garderobe und läuft stimmlich mit halsbrecherischen Koloraturen zur Höchstform auf, wenn sie auf der Walze immerhin einen kleinen Hut retten kann. Für die nächste Szene ist ein kleiner Umbau nötig. Deshalb schließt sich der Vorhang, und das Sinfonieorchester Aachen unter der Leitung von Chanmin Chung stimmt noch einmal die Melodie der Madama Cortese an. Das kommt zwar eigentlich so im Stück nicht vor, ist aber eine nette Idee, um die Umbaupause zu überbrücken. Corinna (Laia Vallés, oben an der Harfe) beruhigt die Gemüter: von links: Don Profondo (SungJun Cho), Don Alvaro (Jorge Ruvalcaba), Barone di Trombonok (Pawel Lawreszuk) und Madama Cortese (Larisa Akbari). Wenn der Vorhang sich öffnet, sieht man einen anderen Teil des Staus. Im ersten Wagen sitzt der Spanier Don Alvaro, im letzten Auto die Marchesa Melibea mit dem Conte di Libenskof. Alvaro macht Melibea Avancen, was von Libenskof mit großen Eifersuchtsattacken erwidert wird. Jorge Ruvalcaba gibt den heißblütigen Spanier als selbstverliebten Macho mit virilem Bariton und lässt Alexandra Urquiolas Herz als Melibea höher schlagen, auch wenn sie in ihrem altrosafarbenen Kostüm mit den weißen Haaren alles andere als verführerisch aussieht. Ihr Kostüm passt optisch wirklich besser zu Libenskof, der modisch auch nicht gerade auf dem neuesten Stand ist. Randall Bills punktet als Libenskof mit kraftvollem Tenor, und gibt sich absolut kämpferisch. Urquiola stattet die Partie der Melibea mit sattem Mezzosopran aus. Die Streitereien werden dann schließlich von der Improvisationskünstlerin Corinna unterbrochen, die mit ihrem Wohnwagen zwischen den beiden anderen Wagen steht. Mit einer riesigen Harfe nimmt sie auf dem Dach des Wohnwagens Platz und glättet mit engelsgleichem Gesang die Wogen. Laia Vallés begeistert dabei mit strahlenden Höhen und leuchtendem Sopran. Da verwundert es nicht, dass sie diverse Männerherzen verzaubert. Lord Sidney, ihr heimlicher Verehrer, wird als Biker gezeichnet, der mit seinem Motorrad direkt hinter dem Wohnwagen steht. Dass er sich in seinem coolen Outfit nicht trauen soll, die schöne Corinna anzusprechen, wirkt ein bisschen unglaubwürdig, wird von Jonathan Macker jedoch mit intensivem Spiel und kraftvollem Bass wunderbar umgesetzt. Große Komik entfachen in dieser Arie die vier Chordamen, die als Bauarbeiter seine Gefühle für die schöne Corinna kommentieren. Etwas unter die Gürtellinie geht dann das anschließende Duett zwischen Corinna und dem Cavaliere Belfiore, der der jungen Frau ganz unverhohlen den Hof macht. Ángel Macías gibt den Franzosen als eitlen selbstverliebten Geck und punktet mit weichem Tenor. Auch hier schießt die Personenregie Dijkemas vielleicht ein bisschen über das Ziel hinaus, wenn Belfiore sein Geschlechtsteil fotografiert und es Corinna schickt. Doch Corinna weiß sich zu wehren. Mit Pfefferspray und gekonnter Selbstverteidigung setzt sie den aufdringlichen Kerl schachmatt und verschwindet anschließend mit Lord Sidney zum Schäferstündchen im Wohnwagen. Dann wird kurz vor der Pause die Reihenfolge der Musiknummern geändert. Es folgt das große Ensemble zu 14 Stimmen, in dem zunächst alle verzweifelt sind, weil die Reise nicht fortgesetzt werden kann, dann aber der Alternativplan entsteht, stattdessen nach Paris zu fahren und dort zu feiern. Im Anschluss wird dann erst einmal eine große Partie auf der Baustelle gefeiert. Nach der Pause folgt dann die große Katalogarie des Don Profondo, in dem er die anderen Gäste und ihre Nationalitäten parodiert, eigentlich ein absolutes Paradestück für jeden Buffo-Bariton. SungJun Cho tut sich am Anfang der Arie mit den Tempi ein wenig schwer, was vielleicht der Premierennervosität geschuldet ist, findet dann in den Parodien aber mit feinem Humor in die Melodie. Dijkemas Personenregie bei der Figur ist allerdings zu hinterfragen. Wieso hat Don Profondo einen Fetisch für Unterwäsche, so dass er von jedem Reisenden einen Slip klauen muss, an dem er zunächst auch noch genüsslich schnuppern muss. Auch ein pädophil anmutender Zug, der sich im Spiel mit einer Barbie-Puppe äußert, schießt ein bisschen über das Ziel hinaus. Es ist fraglich, ob diese recht negative Darstellung der Figur gerecht wird. Auch die Zeichnung der kleinen Partie der Delia bleibt unklar. Im Stück ist sie eine junge Waise, die Corinna begleitet. Jelena Rakićs Spiel deutet aber eine Missbrauchsgeschichte an. Stets bewegt sich Delia abseits von den anderen Reisenden und kratzt sich die Arme auf. Das erschließt sich nicht aus der Musik oder dem Stück. Die Außerirdischen und König Karl X. (Statisterie) mit dem Opernchor Die große Frage ist, wie Dijkema nun den Bogen zum Schluss der Oper bekommt. Bis jetzt war ja noch gar keine Rede davon, dass man zu Krönungsfeierlichkeiten eines längst verstorbenen Königs nach Reims wollte. Wenn sich also alle Paare wiedergefunden haben und auf der Baustelle eine große Partie feiern, bei der ein Pizzabote alle mit Pizza versorgt, wird plötzlich unter einer Plane auf der Baustelle ein Raumschiff entdeckt, dem drei grüne Außerirdische entsteigen. Zunächst ist die Panik groß, aber die Außerirdischen zeigen sich friedlich und sehr interessiert an den menschlichen Sitten. So sind die Nationalhymnen, die nun von den einzelnen Reisenden angestimmt werden, wohl für die Außerirdischen gedacht, um ihnen die menschliche Kultur vorzustellen. Wenn es dann zu Corinnas Huldigung an Karl X. kommt, liest Barone di Trombonok aus einem Buch Informationen zu dessen Regierungszeit vor. Während Corinna ihre Improvisation zum Besten gibt und sich ein Außerirdischer mit ihr an der Harfe übt, scannen die beiden anderen den Buchtext und klonen mit einem riesigen Knall den leibhaftigen König, der dann ebenfalls dem Raumschiff entsteigt. Er begibt sich in den Zuschauersaal und versetzt das Publikum damit in die Zeit der Uraufführung. Das alles wird mit großem Beifall goutiert. Auch musikalisch sind keine Abstriche zu machen. Chanmin Chung führt das Sinfonieorchester Aachen mit sicherer Hand durch den so leicht klingenden Rossini-Sound und begeistert auf ganzer Linie. FAZIT Auch wenn einige Regie-Gags in Klamauk abdriften, bietet der Abend in den knapp drei Stunden kurzweilige und beste Unterhaltung mit einer großartigen Musik, die die Zeit im Fluge vergehen lässt. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie und Bühne Kostüme Choreinstudierung Licht Dramaturgie
Opern- und Extrachor Aachen Statisterie Theater Aachen Solistinnen und Solisten*Premierenbesetzung Corinna La Marchesa
Melibea La
Contessa di Folleville Madama
Cortese Il Cavaliere
Belfiore Il Conte di Libenskof Lord Sidney Don Profondo Il Barone di Tromonok Don Alvaro Maddalena Delia
Modestina
Don Prudenzio
Don Luigini
Antonio Zefirino
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