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Klimaziel verfehltVon Stefan Schmöe / Fotos: Thilo BeuEs ist heiß an diesem Weihnachtsabend in Paris. Einen richtigen Winter mit Kälte und Schnee gibt es hier offenbar schon länger nicht mehr, wie die offene Bauweise der Mansardenwohnung zeigt - Mauerwerk existiert nur noch als Ruine. Viel mehr allerdings hat sich in dieser dystopischen Zukunftsvision gegenüber unserer vergleichsweise kühlen Gegenwart nicht verändert. Eine Bohème ganz am Puls unserer Zeit? Vielleicht doch mehr eine Regie, die vergeblich dem Zeitgeist nachjagt. Und natürlich soll dieser Ansatz uns Puccinis Dauerbrenner aus dem Jahr 1896 ganz besonders nahebringen. Was dann, wenig überraschend, nicht gelingt. Das Verkehrsschild im Hintergrund vermittelt einen Hauch Aachener Lokalkolorit: Erste Begegenung von Rodolfo und Mimì an einem schwülwarmen Dezemberabend
Puccinis detailverliebte Dramaturgie setzt sich einmal mehr durch gegen ein bemühtes Konzept, zum Glück. Es ist relativ egal, ob Mimì und Musetta, wie hier von der Regie (Blanka Rádóczy) behauptet, von Beginn an beste Freundinnen sind. Zwar macht es dann wenig Sinn, dass Mimì sich in ihrem Kummer im dritten Akt Marcello anvertraut, denn der ist ja mit Musetta liiert und sicher sowieso über alles im Bilde - aber egal, die Musik ist trotzdem schön. Der Hausbesitzer Benoit und Musettas Kurzzeit-Liebhaber Alcindoro sind ein und dieselbe Person, noch dazu ein offenbar einflussreicher Lokalpolitiker - nicht mehr als ein Kuriosum am Rande. Ziemlich unsinnig, dass Rodolfo seine Dramenmanuskripte zwecks kurzzeitiger Erwärmung des Zimmers verbrennt, wenn es doch ohnehin zu heiß ist. Und wenn der Philosoph Colline im letzten Akt wortreich seinen Mantel zum Pfandleiher bringt, um Geld für Mimìs Medizin zu beschaffen, dann fehlt der Szene die Tragik - denn einen Mantel trägt er bei diesem Klima sowieso nicht. So geht's in einem fort. Es ist eine dieser Inszenierungen, bei denen man schnell denkt: Irgendwas muss halt ungewöhnlich und neu sein, um das Honorar zu rechtfertigen. Nur fehlt eine wirklich überzeugende Idee. Kein Café Momus in Sicht: Improvisierte Weihnachtsparty auf der Straße; in der Mitte Musetta
Ungeachtet solcher Einfälle bleibt Blanka Rádóczy eng am Textbuch und letztendlich ziemlich konventionell, was bei dieser Oper kein Schaden ist. Dazu hat sie ein junges, durchweg gutaussehendes Ensemble zur Verfügung, das auch bei mittelprächtiger Personenregie glaubwürdig spielen kann. Camille Schnoor singt die Mimì mit recht großem, im ersten Akt etwas unausgeglichenem, später souverän geführtem Sopran und starker Präsenz. Da kann der Rodolfo von Àngel Maciás, dessen Tenor in der Höhe ein wenig eng wird, nicht ganz mithalten. Larisa Akbari ist eine tolle, musikalisch wie szenisch sehr nuanciert gestaltete Musetta, Ronan Collett ein souveräner Marcello. Durchweg ordentlich sind auch die anderen Rollen besetzt. Chor und Kinderchor haben ein paar Koordinationsschwierigkeiten, singen aber zupackend forsch. Und auch wenn auf der ziemlich banal ausschauenden Drehbühne (Bühnenbild: Blanka Rádóczy und Andrea Simeon) die Adventszeit nur vage angedeutet ist: Die Kostüme des Kinderchors zeigen sehr amüsant ein breites Spektrum an scheußlichen Weihnachtspullovern (Kostüme: Andrea Simeon). Auch auf eine winterliche Zollschranke muss man verzichten, statt dessen könnte man hier Wasser holen: Rodolfo und Mimì (links), Musetta und Marcello im dritten Akt
Christopher Ward dirigiert das gute Sinfonieorchester Aachen detailversessen und hebt manche Nebenstimme hervor, die sonst unterbelichtet bleibt. Er schärft die Kontraste (sehr hart schneidet er im zweiten Akt den ausklingenden Walzer gegen den aufkommenden Marsch) und unterstreicht Puccinis Sinn für Alltagsgeräusche. Im zweiten Akt ahnt man schön den Verkehrslärm der Großstadt; die impressionistische Schnee-und-Nebel-Musik im dritten Akt verpufft leider angesichts des sommerlichen Wetters auf der Bühne. Ward kann aber auch unsentimental und doch gefühlvoll die Gesangslinien begleiten. Und wenn die großen Arien und Duette kommen, dürfen die Sängerinnen und Sänger auch gerne an die Rampe treten - ein in das Bühnenbild integrierter Steg gaukelt vor, das sei szenisch irgendwie sinnvoll. Der Fokus auf die Musik ist jedenfalls keine schlechte Idee. Das Ende: Mimí, frierend trotz der hohen Temperaturen, und Rodolfo erinnern sich an bessere Zeiten
Und dann schneit es im vierten Akt doch noch. Vermutlich setzt die Regisseurin hier auf ein Überraschungsmoment wie auf einen Verfremdungseffekt, weil doch alle in Shorts herumlaufen. Vermutlich will die widersprüchliche Wetterlage auch das subjektive Empfinden und Erleben von Kälte (auch im übertragenen Sinn) zeigen und den Gegensatz zwischen der erfrierenden Mimì und den schwitzenden Bohèmiens hervorheben. Nur sieht es letztendlich viel mehr nach einer Kapitulation der Regie vor Libretto und Partitur aus, weil Schnee und Kälte als Bilder eben doch viel, viel sinnfälliger sind als Dauersonnenschein. Mimì stirbt letztendlich ergreifend wie immer, mit besonders dickem, wärmendem Muff an den Händen. Viel Applaus für Sängerinnen und Sänger, für den Dirigenten und das Orchester, und ein kleines bisschen weniger für das Regieteam.
Die an sich ziemlich konventionelle Regie bemüht ein paar neue, wenig schlüssige Ideen, kann dem Stück damit aber nichts anhaben: Puccini ist stärker. Musikalisch überzeugend. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung und Bühne
Bühne und Kostüme
Chor
Licht
Video
Solisten* Besetzung der Premiere
Mimì
Musetta
Rodolfo
Marcello
Schaunard
Colline
Benoît/Alcindoro
Parpignol
Sergeant
Zöllner
Händler
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- Fine -