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Hereinspaziert
Von Roberto Becker / Fotos von Barbara Braun
In Berlin war die Abwicklung des Schillertheaters ein kulturpolitischer Skandal. Aber diesem Haus das Ensemble zu streichen, das hat wenigstens im Nachhinein den Vorteil, dass keine der übrig gebliebenen Bühnen bei einer allfälligen Sanierung der Häuser in irgendein Zelt ausweichen muss, sondern in dieses Theater an der Bismarckstraße umziehen kann. Im Falle der Staatsoper Unter den Linden wurden aus den anvisierten drei am Ende sieben Jahre. Jetzt ist die Komische Oper dran - geplant sind hier gleich sechs Jahre- es wäre ein Wunder, wenn es dabei bliebe.
Barrie Koskys Intendanten-Nachfolger Susanne Moser und Philip Bröking konzentrierten sich freilich auf die Vorzüge, die das Schillertheater auch bietet. Ob nun als Aufmunterung oder als Zeichen der Resignation (so nach dem Motto: wer weiß, wie lange wir wirklich hier bleiben!) ist jedenfalls die Büste von Theatergründer Walter Felsenstein sicherheitshalber gleich mit in den Westteil der Stadt umgezogen. Und auch Barrie Kosky begleitet in seiner Rolle als erfolgsverwöhnter Regisseur mit eigener Wiederentdeckungs- und Blickerweiterungs-Agenda diesen temporären Umzug von Berlin Mitte in den Westen der Stadt. Nachdem man mit Tobias Kratzers Henze-Inszenierung Das Floß der Medusa in Tempelhof ambitionierten Opernernst unter Beweis gestellt hat, hat die Komische das Haus jetzt mit Chicago, eines von Koskys Lieblings-Musicals, in Besitz genommen. Mit einem umwerfenden Bühnenbild von Michael Levin, einer perfekten Besetzung und all' den Klangvorzügen, die ein Opernorchester mit reichlich Operetten- und Musical-Erfahrung zu bieten hat. Adam Benzwi und das Orchester der Komischen Oper zeigen hier, was sie in Sachen Musical drauf haben. Was als Bühne funkelt, das hat durchweg seine akustische Entsprechung im Graben.
Kosky hatte in seiner Zeit als regieführender Intendant selbst dafür gesorgt, dass West Side Story, Anatevka und La Cage aux Folles das Haus zum Kochen brachten. Wobei bei diesen Klassikern hinter dem musikalischen Furor immer auch eine moralische Botschaft durchscheint. Im Falle von Chicago konnten die Autoren zwar auf eine wahre Begebenheit aus den Zwanzigerjahren in Chicago zurückgreifen. Aber hier ist die Abwesenheit von Moral die Botschaft des Ganzen. Kosky hat sich von der Broadway-Urinszenierung des "Musical-Vaudevilles" von John Kander, Fed Ebb und Bob Fosse aus dem Jahre 1975 inspirieren lassen. Erika Gesell und Helmut Baumann haben eine derbfreche deutsche Textfassung beigesteuert. Die beiden Heldinnen des Stückes, Velma Kelly und Roxy Hart, sind beide wegen Mordes im Gefängnis gelandet, leugnen ihre Taten nicht einmal, gieren nach der Aufmerksamkeit einer sensationslüsternen Journaille, manipulieren mit Hilfe eines schmierigen Staranwalts die Geschworenen, kommen davon und starten dann obendrein auch noch eine gemeinsame Bühnenkarriere. Katharine Mehrling und Ruth Brauer-Kvam machen das mit einer so entwaffnenden Rotzigkeit, vollem Stimm- und Körpereinsatz, dass die beiden allein schon eine Show für sich sind.
Dazu kommen die so menschlich entwaffnend korrupte Andreja Schneider (von Geschwister Pfister) als Gefängnischefin Mama Morton. Und Ivan Turši? als stets von allen übersehener Ehemann Amos, mit dem Roxy machen kann, was sie will. Der Mann in diesem Käfig voller Frauen ist der Anwalt Billy Flynn. Mit seinem Revuecharme verheimlicht Jörn-Felix Alt dessen Geldgier nicht. Er merkt sich zwar keine Namen, weiß aber genau, wie man die Geschworenen manipuliert, so dass sie am Ende sogar geständige Mörderinnen frei sprechen. Im Falle Roxy erfindet er sogar eine Schwangerschaft. In Gestalt von Hagen Matzeit als Klatschreporterin Mary Sunshine kriegt auch noch die Presse als Teil dieses verlogenen Systems (eher harmlos) ihr Fett weg. Und natürlich das amerikanische Justizsystem, sogar mit der öffentlichen Hinrichtung einer Unschuldigen. Die Frau konnte sich wohl einfach nur keinen Anwalt leisten, der was taugte. Aber auch das ist Teil der Show: Amerika wie es leibt und lebt bzw. wie es mordet und betrügt.
Während der drei Stunden im Schillertheater faszinieren die Energie der Musik, der Wille zur Show, die Perfektion ihrer Präsentation durch die Crew. Man spürt auch, dass hier etwas entlarvt und vorgeführt wird, wie es ist und nicht sein sollte. Aber der bemühte Vergleich zur Dreigroschenoper? Oder die deklarierte Fallhöhe, die auch Empathie mit den Opfern ermöglichen würde? Die muss man schon sehen wollen. Kosky reduziert dieses "Musical-Vaudeville" (was nichts anderes als eine Nummernrevue ist, bei der die Darsteller aus ihren Rollen treten, um ihre Nummern ansagen), auf ihren musikalischen Drive und er verpasst dem Ganzen einen imponierenden Rahmen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die bühnenfüllende Gitterkonstruktion, auf der sage und schreibe 6500 Glühlampen verteilt sind, entfalten ihr Eigenleben. Pulsend lebendig. In die Kälte einer Gefängnisanmutung wechselnd. Räume imaginierend. Und doch jeden Naturalismus vermeidend. Was hinter dieser faszinierenden Oberfläche fehlen mag, müssen die Protagonisten mit ihrem Charisma und das Publikum mit dem festen Willen, sich mitreißen zu lassen, ausfüllen. Bei der Premiere waren alle dazu wild entschlossen.
In Berlin gehts nach dem Motto: Wenn schon Ausweichquartier, dann mit großem Tamtam. Barrie Kosky lässt im Schiller-Theater das Musical Chicago funkeln. Sogar noch mehr, als dessen Substanz hergibt. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Co-Regie und Choreographie
Licht
Chöre
Dramaturgie
Solisten
Roxy Hart
Velma Kelly
Billy Flynn
Mama Morton
Amos Hart
Mary Sunshine
Kitty
Liz
June
Annie
Mona
Hunyak
Fogarty
Aaron
Fred
Tänzer
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