Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Ist das noch Kunst, oder kann das weg?
Von Stefan Schmöe /
Fotos von Emma Szabó
In der St.-Martins-Kirche in Kirchsahr im Landkreis Ahrweiler, nicht weit von Bonn entfernt, hängt eine Madonnenfigur aus dem Jahr 1720, die sogenannte "Türkenmadonna". Vom Strahlenkranz umgeben, hält sie in der rechten Hand ein Schwert, in der linken das Jesuskind, das seinerseits den abgeschlagenen Kopf eines Türken hält. Solche Darstellungen zeugen vom Trauma der Türkenkriege, die mit der Belagerung Wiens 1683 auch im fernen Rheinland als existentielle Bedrohung wahrgenommen wurden. Die heilige Jungfrau ist in dieser Zeit häufig als wehrhafte Schutzheilige gegen die türkischen Invasoren dargestellt worden. Parallel dazu stellt im Theater die Gattung der "Türkenoper" eine künstlerische Form der Verarbeitung der Krise dar, am prominentesten in Mozarts Entführung aus dem Serail, 1782 fast genau 100 Jahre nach der Wiener Beinahe-Katastrophe uraufgeführt. Der heutige Blickwinkel wird schnell ein anderer - da droht eine "Türkenoper" kurzerhand zwischen Schlagworten wie "kulturelle Aneignung" und "Postkolonialismus" zermahlen zu werden. "Man hat es bei der Entführung aus dem Serail an zahlreichen Stellen mit einem Stück jenseits der 'political correctness' zu tun", erklärt Regisseurin Katja Czellnik im Programmheft dieser Neuinszenierung. Und so bekommt die Kirchsahrer Türkenmadonna ein Bühnenleben als Kronzeugin gegen Mozart und christlich-westeuropäische Verfehlungen.
Man kann allerlei einwenden gegen diesen allzu verkürzten Regieansatz, von der Figur des Bassa Selim, der in der Entführung aus dem Serail bekanntlich das von Christen begangene Unrecht verzeiht, bis zu Lessings humanistischer Botschaft in dessen fast zeitgleich entstandenem Nathan. Um feinsinnige Argumente ist die Regisseurin aber gar nicht erst bemüht. Sie knallt dem Publikum gleich zu Beginn Schilderungen von Gräueltaten im Zuge der kolonialistischen Eroberungen vor den Kopf, dazu zeitverhaftete Zitate von Rousseau über die Rolle der Frau und deren "natürliche Bestimmung" (das Spiel mit der Puppe bereitet auf ein entsprechendes Leben vor). So wird im Handumdrehen die Aufklärung diskreditiert und zur Kolonialgeschichte umgedeutet. Der eigentliche Feind ist wohl die Spezies, die heute gerne vereinfachend als "alter weißer Mann" bezeichnet wird. Damit berührt die Regie zwar manchen heiklen Punkt in der Rezeptionsgeschichte dieser oft verniedlichend wahrgenommenen Oper (die sich scheinbar ideal für das Puppen- und Marionettentheater anbietet), aber sie macht es sich mit dieser groben Überzeichnung viel zu einfach.
Diskutieren über Geschlechterrollen: Osmin (rechts) und Blonde (mit rosafarbener Perücke)
Czellnik inszeniert das "deutsche Singspiel" vor diesem Hintergrund als quietschbunte Revue zwischen Comicstrip und Puppentheater (Ausstattung: Hank Irwin Kittel). Dafür streicht sie erst einmal sämtliche gesprochenen Texte - und damit auch die Handlung einschließlich der zentralen Figur des Bassa Selim, denn das ist bekanntlich eine reine Sprechrolle. Das Problem, wie man ohne kulturelle Aneignung einen Türken wie den Osmin im Sinne Mozarts (und der Musik, die es ja auch noch gibt) darstellt, löst sie kreativ dadurch, dass der Sänger sich auf offener Bühne einen vorgehängten Bauch umschnallt und eine wilde Perücke aufsetzt: Ich war's nicht, will die Regisseurin wohl sagen, das verlangt das böse Stück von mir. Nicht nur hier wird dekonstruiert, was das Zeug hält. So tragen die Türken riesige erigierte Stoffpenisse vor den Hüften, die bewusst albern aussehen. Damit wird offenbar karikiert, wie "der Europäer" sich "den Türken" vorstellt, dem er ein triebgesteuertes Verhalten ebenso unterstellt wie eine unheimliche sexuelle Potenz. (Zu Mozarts Zeiten? Heute? Vermutlich beides.) In dieser Art springt die Regie beherzt von einer Metaebene zur nächsten, wobei die Bildsprache vor manchen pubertären Momenten nicht zurückschreckt.
Osmin soll in diesem Konzept die eigentliche Hauptrolle werden. Noch ohne Theaterbauch spricht er die oben erwähnten Texte; beim Schlussapplaus kommt er als letzter auf die Bühne wie der Star (der er, was die Komposition betrifft, nun wirklich nicht ist). Diese Bedeutung wird aber zu wenig motiviert und bleibt Wunsch und Behauptung der Regie. Sängerdarsteller Tobias Schabel belässt die Figur stimmlich solide in der Welt des Singspiels, wie überhaupt die musikalische Interpretation eher leichtgewichtig bleibt. Belmonte ist ein keinen Moment ernst zu nehmender Knallcharge mit clownesk geschminktem Gesicht. Manuel Günther gibt ihn mit leichtem, beweglichen Spieltenor, mit dem er die Partie überzeugend bewältigt. Konstanze erscheint im Reifrock als mechanische Puppe aus dem Rokoko, Vorwegnahme der singenden Puppe Olympia aus Hoffmanns Erzählungen. Diese Darstellung greift sehr konkret den zitierten Text Rousseaus von der Frau als Puppe auf. Der Sopran von Lisa Mostin klingt soubrettenhaft hell und ist nicht sehr groß, besticht aber mit souveränen Koloraturen. Nun hat Mozart ihr nicht nur virtuose, sondern auch im Tonfall große, das Singspiel sprengende Arien komponiert - diese Dimension kann die Sängerin nicht ganz einlösen, dazu fehlt es der Stimme an Statur. Um angesichts der konsequenten szenischen Verkleinerung der Figuren ihrer pathosgeladenen Musik einen passenden Rahmen zu geben, zitiert die Regie hier Mozarts berühmten Brief an Vater Leopold, in dem er vom Tod als dem "wahren Endzweck des Lebens" spricht. Diese biographische Wendung fällt zwar ein wenig aus dem Kontext heraus, sorgt aber für die überzeugendsten Bilder des überbordenden Abends, etwa wenn ein comichaft gezeichneter Wagen mit vielen Totenköpfen vorbeirollt. Bei allem Unsinn, den die Regie verzapft: Ein paar suggestive Bilder gibt es dann doch.
Zum Finale erscheint die "Türkenmadonna" aus Kirchsahr gleich mehrfach persönlich auf der Bühne.
Wobei die Grenze zwischen Witz und Albernheit oft schwer auszumachen ist. Wenn Konstanze von den Benimmregeln beim Flirten singt ("Durch Zärtlichkeit und Schmeicheln"), dann erscheint eine Reihe als Pudel verkleideter Herren mit entblößtem Unterleib, und auch sie tragen Stoffpenisse (von sehr viel bescheideneren Dimensionen als die Türken) - Blonde lässt sie wie eine Zirkusdompteurin durch einen Ring springen. In dieser Art wird die Partitur Nummer für Nummer seziert und ironisch zerlegt. Alina Wunderlin, als Blonde mit einer scheußlichen rosafarbenen Perücke gestraft, singt mit leicht metallischem, durchdringendem Sopran. Ihr Liebhaber Pedrillo (solide: Tae Hwan Yun) bleibt eine Randerscheinung, was ein wenig verwundert angesichts einer Regie, die ansonsten gar nicht weiß wohin mit all' ihren durchgeknallten Ideen. So nimmt die "Entlarvung des christlichen Chauvinismus" (so schreibt die Regisseurin im Programmheft) ihren unheilvollen, bildmächtigen Lauf. Katja Czellnik ignoriert geflissentlich, dass in den letzten Jahrzehnten kaum eine Inszenierung der Entführung diesen Chauvinismus unreflektiert dargestellt hat, und sie unterschätzt Dramaturgie wie Musik dieser Oper hoffnungslos. Bedauerlich nicht zuletzt für den ausgesprochen zuverlässig und klangschön singenden Chor (Einstudierung: Marco Medved) und das unter der Leitung von Hermes Helfricht elegant und filigran aufspielende Orchester.
Katja Czellnik zerlegt reichlich oberflächlich die Entführung in eine schräge Nummern-Revue mit großen Bildern, die das Singspiel umgehend als chauvinistisches Machwerk entlarven und zertrümmern möchte. Mozart wird's verkraften.
|
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Ausstattung
Licht
Chor
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der rezensierten Aufführung
Konstanze
Blonde
Belmonte
Pedrillo
Osmin
|
© 2023 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de