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Schneeballschlacht der Heimatlosen
Von Stefan Schmöe /
Fotos von Sandra Then
Langeweile auf dem Land: (von links) Larina, Olga und Filipjewna; in der Ecke hinten Tatjana
Die wichtigsten Requisiten dieser Aufführung sind Koffer. Sie stehen im Zentrum des Bühnenbilds der ersten beiden Akte, einer Art Scheune (wenn sich die Rückwand öffnet, auch ein Hof) auf einem Landgut in der Provinz. Die Schränke im abgegrenzten Esszimmer sind ziemlich leer: Eine Heimat gefunden haben die Witwe Larina und ihre Töchter Tatjana und Olga hier offensichtlich nicht gefunden. Es ist, wie man per Texteinblendung erfährt, das Haus einer fernen Verwandten, der Filipjewna, in dem sie nach dem Tod des Gatten respektive Vaters untergekommen sind. In Tschaikowskijs Libretto (nach Alexander Puschkins Versroman) ist das streng genommen ein wenig anders (da gehört das Anwesen der Larina, und die Filipjewna ist das alt gewordene Kindermädchen). Ein paar (kleine) Freiheiten gegenüber der Vorlage nehmen sich Regisseur Vasily Barkhatov und sein Team (Bühne: Zinovy Margolin, Kostüme: Olga Shaishmelashvili) schon heraus, um ihren Figuren nahezukommen. Die introvertierte, sich in die Literatur flüchtende Tatjana und die angeblich lebenslustige, hier allerdings eher vom Leben enttäuschte Olga sind offenbar entwurzelt. Wirklich überzeugend ist der Ansatz nicht: Die Tragödie der unglücklich und unerhört in den Dandy Onegin verliebten Tatjana ist wohl kaum die Sehnsucht nach einem besseren Ort zum Leben.
Olga (auf dem Rad) erhält Besuch von Lenskij, der erst einmal von oben beobachtet - und seinerseits von Tatjana (unter der Rampe) beobachtet wird
Andernfalls sollte ihre spätere Ehe mit dem betagten Fürsten Gremin im großstädtischen Petersburg wohl mehr Glück ausstrahlen als hier, wo es im dritten Akt nicht einmal ein feudales Stadtpalais für die Abendgesellschaft gibt. Stattdessen trifft man sich zu einem Stehempfang in einer Bahnhofshalle, und natürlich hat man hier, klar, Koffer bei sich. Onegin, der nach Jahren ruheloser Wanderschaft gerade angekommen ist, sowieso; aber auch Fürstin Tatjana und Gatte, ein sympathischer Oligarch von nebenan, reisen alsbald ab. Eine Heimat gesteht die Regie niemandem zu. Olga hat da bekanntlich schon längst ihren Verlobten verloren: Der Dichter Lenskij wurde im Duell von Onegin getötet. Wobei Barkhatov das Duell ausfallen lässt; der Streit der beiden führt bestenfalls zu einer Beinahe-Rauferei. Würde nicht das Volk auf eine ordentliche Prügelei drängen, die beiden hätten sich schnell vertragen oder wären gelangweilt auseinander gegangen. So fällt Lenskij unglücklich von der Rampe, die hinter dem Haus schräg ansteigt. Blöd gelaufen. Aber ein "richtiges" Duell mit Pistolen hätte Barkhatov wohl zu sehr nach Historiendrama ausgesehen, und dass soll die Inszenierung ganz sicher nicht sein.
In den besseren Momenten gelingt es Barkhatov, die Geschichte einigermaßen historisch spielen und dennoch ziemlich modern wirken zu lassen. Das funktioniert durch die sehr genaue Personenregie. Vor allem Anna Princeva als Tatjana spielt sehr differenziert und hält ihre Figur in der Schwebe zwischen kindlicher Naivität und erwachendem Begehren. Vokal gibt sie eine strahlende, großformatige Tatjana. Dagegen wirkt der stimmlich solide Giorgos Kanaris als Onegin vergleichsweise eindimensional, ein wenig bieder und eher unzureichend empathisch als überheblich und arrogant. Auch an die Eloquenz von Tatjanas späterem Gatten Gremin (Pavel Kudinov singt ihn mit kerniger Stimme ziemlich direkt: Seine populäre Arie über die Liebe im fortgeschrittenen Alter ist eher klare Ansage an Onegin als Selbstreflexion) reicht er nicht heran, und das ist ein wenig die Leerstelle der Inszenierung. Den traurigen Lenskij nimmt die Regie nicht allzu ernst (Santiago Sánchez gibt ihm einen höhensicheren, nicht allzu lyrisch geprägten Tenor). Der hält, wozu ist man schließlich Dichter, die Worte seiner Abschiedsarie vor dem fatalen Duell gleich auf Papier fest (um es postwendend zu verbrennen), und seine Zuneigung zu Olga hält vermutlich so lange an wie deren Bewunderung für seine Dichtkunst. Echte Liebe ist das wohl nicht.
Wiedersehen am Bahnhof: Onegin und Tatjana
Insgesamt aber geht das Gesellschaftspanorama in dieser Inszenierung, die (vergleicht man die Szenenfotos) so oder ganz ähnlich schon in Stockholm und Wiesbaden zu sehen war (im Programmheft findet man nichts dazu), recht gut auf. Im zweiten Akt allerdings kippt die Inszenierung zwischenzeitlich allzu sehr in Richtung Genrebild ab. Den Namenstag Tatjanas feiert man bei Schneetreiben im Freien, und die für Lenskij tödliche Rampe, die zu Beginn noch metaphorisch nach oben anstieg und Onegin bei seinem ersten Auftritt wie vom Himmel herabsteigen ließ, wird jetzt zur banalen Piste für Schlittenfahrten umfunktioniert. Vielleicht möchte Barkhatov die Banalität des Lebens vorführen, schließlich sind ja alle irgendwie ständig gelangweilt (das Publikum zum Glück weniger, denn es passiert ziemlich viel auf der Bühne). Ein wenig klischeehaft wirkt die Koffer-und-Reise-Metaphorik aber auf Dauer schon.
Angesichts der überzeugenden musikalischen Interpretation ist das zu verschmerzen. Auch in den kleineren Partien wird sehr schön gesungen. Charlotte Quadt gibt die Olga mit glutvoller, intensiver Stimme, und auch Eva Vogel als Larina und Rena Kleifeld als Filipjewna sind bestens bei Stimme, dazu keineswegs alt (wie sonst fast immer), sondern Frauen in den besten Jahren, die sich irgendwie pragmatisch mit der Situation arrangiert haben. Sehr zuverlässig (und manchmal für das offenbar sehr stimmfreundliche Bühnenbild, das wie ein Schalltrichter wirkt, ein wenig zu laut) singt der auch spielerisch sehr agile Chor. Kapellmeister Hermes Helfricht trifft mit dem auch im Detail sorgfältig phrasierenden Beethoven Orchester sehr schön den leicht wehmütigen, nicht zu dramatischen Tonfall dieser von Tschaikowskij als "lyrische Szenen" bezeichneten Oper.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Licht
Chor
Solisten* Besetzung der Premiere
Larina, Gutsbesitzerin
Tatjana
Olga
Filipjewna, Amme
Eugen Onegin
Lenskij
Fürst Gremin
Triquet
Saretzkij/Ein Hauptmann
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