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Sehnsucht nach Nähe und Anschmiegsamkeit
Von Stefan Schmöe / Fotos von Ingo Schäfer
Darf's ein bisschen Mathematik-Nachhilfe sein? Als "Oskulation" (lat. "das Küssen") bezeichnet man in der Geometrie die Berührung von zwei Kurven, die sich aneinander anschmiegen. Das lässt sich (etwas präziser formuliert) im Programmheft dieser Produktion nachlesen, und es wird als Text in der Aufführung aus dem Off eingesprochenen. Es ist schließlich auch mehr als eine Pointe, sondern ein zentrales Motiv der rund zweistündigen Choreographie von Dominique Dumais, die um Distanz und Nähe kreist, die aber auch in vielen Figuren das Element des Anschmiegens verwendet. Wirklich geküsst wird dabei nur gelegentlich, auch wenn eine großformatige Röntgenaufnahme eines küssenden Paares auf dem Vorhang den Abend ironisch eröffnet.
Das Stück, das keine Geschichte erzählt, aber vage einer narrativen Struktur folgt, ist in zwei recht unterschiedliche (von der Pause voneinander getrennte) Akte unterteilt. Die Bühne wird von einer strengen Fassade umgeben, die ein modernes Bürogebäude im sachlichen Bauhausstil andeutet (Ausstattung: Tatyana van Walsum). Tänzerinnen und Tänzer erscheinen zunächst in grauen Anzügen, bei denen das leuchtende Rot der Innenseite allerdings auf die noch verborgenen Sehnsüchte und die viel farbigere Ästhetik des zweiten Teils hindeutet. Die formale Anlage des Werkes ist recht einfach: Aus der geschäftsmäßigen Distanz des Beginns (in der das Küssen den Charakter einer formalen Geste besitzt) entwickelt sich eine wechselseitige Annäherung, die sich auch im Ablegen der Anzüge ausdrückt. Im zweiten Teil tragen alle Akteure unabhängig vom Geschlecht rote Kleider, und vor die Betonarchitektur haben sich Pflanzen und von oben herabhängende Äste mit herbstlich eingefärbtem Laub in warmen Farben geschoben. Realität vs. Utopie? Gesellschaftliche Konvention vs. emotionale Bedürfnisse? Zu eindeutig gibt sich die Choreographie zum Glück nicht, sondern lässt genug Raum für eigene Gedanken. Das Ablegen der Anzüge bedeutet auch eine Öffnung: Futaba Ishizaki und Daniele Bonelli Die 1968 geborene Kanadierin Dominique Dumais, aktuell Ballettdirektorin am Mainfranken Theater Würzburg und zuvor von 2002 bis 2016 Hauschoreographin und Stellvertreterin von Ballettchef Kevin O'Day am Nationaltheater Mannheim, hat mit A Kiss to the World eine poetische und unangestrengt leichte Arbeit für das Ballett am Rhein geschaffen. Die Entwicklung hin zu mehr Nähe und die damit einhergehende Verletzlichkeit wird nicht überstrapaziert, sondern gibt einen nachvollziehbaren Rahmen für den oft in kleinen Gesten assoziationsreichen Tanz. Dumais verwendet eine vom neoklassischen Ballett ausgehende Bewegungssprache, allerdings ohne Spitzentanz, die vielfach variiert und immer wieder auch ironisch unterlaufen oder abgewandelt wird. Auch wenn sowohl die Anzüge des ersten wie die Kleider des zweiten Aktes untereinander sehr ähnlich sind und fast keine Unterschiede zwischen Geschlechtern machen, bleibt die Individualität aller tanzenden Personen groß, wobei es keine klare Unterscheidung in Haupt- und Nebenrollen gibt. Zwar choreographiert Dumais (kleinere) Soli und mehrere sehr schöne und gewichtige Pas de deux, aber die Hierarchisierung des klassischen Balletts ist ebenso aufgehoben wie dessen Uniformität der Gruppe.
Eine Reihe von Elementen scheinen vom Tanztheater Pina Bauschs inspiriert (die in 1980 die Breite eines Rasenstücks in Küssen vermessen ließ), ohne dass Dumais den Boden des Balletts wirklich verlässt. Dazu gehören große Ensemble-Szenen mit Bausch-typischen Bewegungen (und Aufstellung des gesamten Ensembles an der Rampe, auch mit kurzen gesprochenen Einlagen), oder auch Sprünge der Frauen in die Arme der Männer - wobei gerade dieser (das Theater von Pina Bausch konstituierende) Gegensatz der Geschlechter hier aufgehoben ist. Und während bei Bausch die Liebessehnsucht fast immer mit latenter Einsamkeit und Traurigkeit grundiert war, gibt sich A Kiss to the World entspannt heiter. Es fehlt, das ist die Schwäche des unterhaltsamen und durchaus berührenden Abends, ein wenig die Abgründigkeit hinter dem schönen Tanz. Nähe im pas de trois: Kauan Soares, Miquel Martínez Pedro, Doris Becker
Natürlich spielt schon der Titel des Werkes auf eine große Utopie an: "Diesen Kuss der ganzen Welt!" fordert Schiller in der durch Beethoven musikalisch monumental vergrößerten Ode an die Freude. Die ist allerdings gar nicht zu hören; The Kiss for the Whole World ist vielmehr ein kurzes Orchesterstück der 1970 im früheren Jugoslawien geborenen, seit 1995 in den USA lebenden Komponistin Alexandra Vrebalov, das (neben anderen Werken von ihr) live gespielt wird. Die moderat moderne Tonsprache hat sinnliche Qualitäten, über Dissonanzen und clusterhaften Blöcken liegt ein gefälliger Schleier von New-Age-Music. Als Kontrast erklingen einzelne Sätze aus dem Kanon des symphonischen Konzertbetriebs wie der langsame Mittelsatz aus Beethovens fünftem Klavierkonzert (mit Alina Bercu als unaufdringlich-sensibel aufspielender Solistin) und dem unverwüstlichen Adagio für Streicher von Samuel Barber. Alles in allem ist das vielleicht ein bisschen viel "einfach schöne" Musik (der wilde Kopfsatz von Mozarts "kleiner" g-Moll-Symphonie KV 183 sorgt im ersten Teil für eine Spur Dramatik), was freilich die Sehnsucht nach Zärtlichkeit unterstreicht. Unter der Leitung von Jason Tran musizieren die guten Düsseldorfer Symphoniker sowie Sopranistin Bogdana Bevziuk und Sebastian Bürger als Solist an der Viola zuverlässig und einfühlsam.
Dominique Dumais ist mit Witz und Poesie ein publikumswirksames Werk gelungen, das unterhaltsam und nachdenklich die Sehnsucht nach Nähe und Zärtlichkeit beschreibt und von der Compagnie des Balletts am Rhein sehr schön getanzt wird. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam* Besetzung der besprochenen Aufführung
Musikalische Leitung
Choreographie
Bühne und Kostüme
Licht
Sounddesign
Dramaturgie
Licht Düsseldorfer Symphoniker Solistinnen und Solisten
Sopran
Klavier
Viola
Musik
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