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Die Vertreibung aus dem Paradies, das nie eines gewesen ist
Von Stefan Schmöe / Fotos von Sandra Then
Anatevka ist eine Geschichte von Flucht und Vertreibung einer jüdischen Gemeinde aus einem Dorf im russischen Zarenreich. Und es ist eine Geschichte von Traditionen und deren Zerbrechen, von der Unvermeidbarkeit (und Notwendigkeit) des Wandels. Und natürlich ist es eine tragikomische Familiengeschichte, bei der drei der fünf Töchter gegen den Willen der Eltern dem vermeintlich falschen Mann folgen. Angesichts des armen, aber tüchtigen Schneiders Mottel kommen Vater Tevje, Milchmann und pragmatischer Jude, und seine Frau Golde bei der ältesten Tochter Zeitel über die unvorhergesehene Liebeshochzeit schnell hinweg - auch wenn sich damit die Aussicht auf Wohlstand durch einen vermögenden Schwiegersohn wie den reichen, aber eben auch ziemlich alten Fleischer Lazar Wolf zerschlägt. Hodel, die zweitälteste, folgt ihrem studentischen Liebhaber und Anarchisten Perchik in die Verbannung nach Sibirien - aber der ist immerhin Jude. Das ist der junge Russe Fedja nicht, mit dem Chava anbandelt, und da hat auch Tevje bei allen Vatergefühlen kein Einsehen und verstößt das Lieblingskind. Fast jede Inszenierung endet mit wenigstens einem kleinen Zeichen der Versöhnung der beiden. Diese nicht. Hier bleibt Tevje verbittert und sprachlos zurück. Tevje und der Fiedler auf dem Dach
Regisseur Felix Seiler belässt die Geschichte im Jahr 1905. Das zeigt sich vor allem an den schönen Kostümen (Sarah Rolke), die sich erkennbar historisch - oder besser: traditionell - geben, gleichzeitig eine gewisse Künstlichkeit und Zeitlosigkeit besitzen. Aus einem breiten Spektrum an Pastellfarben stechen Tevjes Frau und Töchter durch leuchtend blaue Kleider hervor. Eine wirkliche Dorfkulisse gibt es nicht; auf der zunächst leeren Bühne hängen die Menschen weiße Tücher auf wie ein Zeichen der Landnahme - und hängen sie ab, wenn sie das Dorf nach einem zaristischen Dekret binnen drei Tagen verlassen müssen, sodass eine leere schwarze Bühne zurückbleibt (Bühnenbild: Nikolaus Webern). Aus diesen Tüchern, raffiniert ausgeleuchtet (Licht: Volker Weinhardt), entsteht sehr eindrucksvoll eine fragile Welt, die in ihrer Abstraktion die Geschichte verallgemeinert. Dieses Anatevka kann überall liegen. Golde (links) und Heiratsvermittlerin Jette
Es gelingt der Regie gut, so viel Zeitkolorit wie nötig zu zeigen, ohne ins gefühlig-folkloristische abzudriften. Ein paar Auftritte eines Herren-Tanzensembles (Choreographie: Danny Costello) rücken manche Szenen in Richtung Revue - Seiler unterschlägt keineswegs, dass die Gattung Musical eben auch unterhalten möchte, und das tut sie auch hier mit Erfolg. Das ist kein Widerspruch zum ernsten Grundton. Der Fiedler auf dem Dach, der dem Werk (das im amerikanischen Original Fiddler on the Roof heißt) den Namen gibt, ist schwarz gekleidet und auf der Bühne ziemlich präsent (Victoria Moreno Zaldúa spielt die stumme Figur nachdrücklich und mit schönem Geigenton). Als Symbol für den kulturellen Selbstbehauptungswillen dieser Gemeinschaft wird ihr beim Pogrom auch das Instrument zerstört. Seiler idealisiert die jüdische Gemeinde nicht mehr als nötig; er zeigt Streit und Egoismus, ohne diese allzu sehr als schrullige Eigenart abzumildern. Er nimmt die Tragik des Stückes ernst und verniedlicht sie nicht (auch wenn man das Pogrom ausgerechnet beim Hochzeitsfest von Hodel und Mottel schon drastischer inszeniert gesehen hat). Und wenn am Ende die beiden jüngsten Töchter den schweren Korb mit Habseligkeiten der Familie kaum tragen können, dann ahnt man zumindest ganz entfernt, was Vertreibung bedeutet. Liebesheirat: Zeitel und Mottel
Schauspieler Andreas Bittl (an seine spröde Art der Darstellung muss man sich einen Moment gewöhnen) spielt und singt den Tevje, aus dessen Perspektive das Stück erzählt wird, nicht nur mit Witz und Menschlichkeit, sondern auch mit Strenge und Würde. Er ist im Gegensatz zu allen anderen Darstellerinnen und Darstellern kein Opernsänger, was den Blickwinkel ein Stück Richtung Schauspiel verschiebt, bewältigt die Songs dabei recht ordentlich. Der musikalische Tonfall ist natürlich ein anderer als etwa bei Susan Maclean als lebenspraktisch denkende Mutter Golde. Anna Sophia Theil (Zeitel), Kimberley Boettger-Soller (Hodel) und Mara Guseynova (Chava) sind klangschön singende Töchter, die mit Charme wie mit Nachdruck um ihre Selbstbestimmtheit kämpfen. Das Opernensemble der Rheinoper, u. a. mit Morenike Fadayomi (Jente), Roman Hoza (Mottel), Florian Simson (Perchik), Valentin Ruckebier (Fedja) und Günes Gürle (Lazar Wolf), gibt sich ausgesprochen spielfreudig, wobei die Stimmen von der Tontechnik ruhig etwas subtiler elektronisch verstärkt werden dürften. Auch der Chor (Einstudierung: Patrick Francis Chestnut), in diversen kleinen Partien auch solistisch gefordert, singt und spielt sehr engagiert und zuverlässig. Abschied von Vater Tevje: Hodel folgt ihrem verurteilten Verlobten nach Sibirien
Im Orchestergraben begleiten die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Kapellmeister Harry Ogg ganz ausgezeichnet, wobei die Solo-Klarinette sehr schön (und wunderbar unopernhaft) da, wo es verlangt ist, den Klezmer-Tonfall der Musik trifft. Hier und da dürfte Ogg das Tempo noch eine Spur anziehen. In dieser Nachmittagsvorstellung vor vollem Haus sieht man im Publikum alle Generationen. Theater für alle also, mit großem Applaus belohnt.
Der Rheinoper gelingt eine schöne, berührende Inszenierung von Anatevka in tollen Bildern. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Licht
Choreographie
Chor
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der rezensierten Aufführung
Tevje
Golde
Zeitel / Oma Zeitel
Hodel
Chava
Sprintze
Bielke
Jente
Fruma Sarah
Mottel
Perchik
Lazar Wolf
Fedja
Wachtmeister
Rabbi
Sascha
Mendel
Awram
Nachum
Motschach
Erste Frau
Zweite Frau
Schandel
Eine Frau
Ein Mann
Fiddler
Tänzer
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