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Musiktheater
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True Crime

Chalk

Ballett von Andrey Kaydanovskiy
Sounddesign von Christoph Kirschfeld

The Bystanders

Ballett von Hege Haagenrud
Sounddesign von Christoph Kirschfeld

Non-fiction Études

Ballett von Demis Volpi
Musik von Sergej Rachmaninow (Études-tableaux op. 33 Nr. 1, 2, 3 und 5 und op. 55 Nr. 1, 2, 4, 5 und 9)
Sounddesign von Christoph Kirschfeld

Aufführungsdauer: ca. 2h 40' (zwei Pausen)

Uraufführung im Opernhaus Düsseldorf am 7. März 2024


Homepage

Ballett am Rhein / Rheinoper
(Homepage)
Am Ende muss der Pianist dran glauben

Von Stefan Schmöe / Fotos von Daniel Senzek

Welcher Tanztheaterfan möchte nicht gerne einmal ein echtes Verbrechen auf der Bühne erleben? Na ja, vielleicht doch nicht so viele, aber die Frage muss erlaubt sein, wenn Düsseldorfs Ballettchef Demis Volpi die aktuelle Produktion (drei Uraufführungen!) unter das Motto True Crime stellt. "Echte Verbrechen" - oder besser: die Faszination, die sie auf viele Menschen auszuüben scheinen - sollen aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln die Klammer darstellen, von der die jeweils knapp halbstündigen Choreographien von Andrey Kaydanovskiy, Hege Haagenrud und dem Hausherrn Demis Volpi thematisch zusammengehalten werden. Und auch das Ausstattungsteam ist in allen drei Stücken das gleiche (Bühne: Sebastian Hannak, Kostüme: Bregie van Balen, Licht: Christian Kass); zudem sorgt Christoph Kirschfink, der für Demis Volpi bereits die mechanische "Mühlenmusik" in Krabat erdacht und realisiert hat, für das Sounddesign. Das besteht an diesem Abend über weite Strecken aus Toncollagen besteht: Viele gesprochene Texte, Ausschnitte aus Podcasts, Filmen oder Radiosendungen. So etwas wie "true sound", ein akustisches Abbild der Realität.

Vergrößerung Chalk: Elisabeth Vincenti, Miquel Martínez Pedro, Clara Nougué-Cazenave, Orazio di Bella

Den Anfang macht Andrey Kaydanovskiy, der in Chalk (Kreide) auf die Umrisszeichnungen anspielt, mit denen die Fundsituation einer Leiche markiert ist - eine solche Kreidemarkierung ist auch auf dem Bühnenboden angedeutet. Vier gleichberechtigte Tänzer:innen (zwei weitere treten für eine kurze Szene als Verdopplung eines Paares hinzu) - das Geschlecht spielt keine Rolle - deuten in vier Szenen ("Kapitel") mögliche Formen der Ermittlungen an: Spurensicherung, Verhöre, Rekonstruktion des Tathergangs und Einnahme der Opferperspektive. Kaydanovskiy erzählt aber keineswegs pantomimisch eine Kriminalgeschichte nach; schon gar nicht wird hier ein "Fall" aufgeklärt. Eine narrative Struktur wird nur vage angedeutet. Eher spielt das Stück Möglichkeiten von Wahrheit durch, ohne die "richtige" zu finden. Das zeigt sich auch im Bühnenbild, das einen Salon andeutet, der aber erst in etwa einem Meter Höhe beginnt - alles darunter einschließlich des Fußbodens fehlt. Hier steht niemand auf dem "Boden der Tatsachen".

Vergrößerung

Chalk: Miquel Martínez Pedro, Orazio di Bella, Clara Nougué-Cazenave, Elisabeth Vincenti

Als Tonkulisse sind Geräusche und Sinustöne hörbar, dann (elektronisch erzeugte) mehrtönige Modelle in Dauerschleife, zwischendurch gibt's ein paar Takte Streichquartett, Schmerzenslaute und Weinen der Opfer. Kaydanovskiy choreographiert dazu mechanische, mitunter roboterhaft anmutende Bewegungsabläufe, die sich in ihrer Abfolge aber zu einem fließenden Prozess zusammenfügen. Er entfernt sich vom klassisch-akademischen Bewegungsvokabular, manchmal lässt er Elemente des street dance aufblitzen und findet akrobatische Elemente. Dabei haftet den Szenen etwas unterkühlt Technisches an. Orazio di Bella, Elisabeth Vincenti, Miquel Martínez Pedro, Clara Nougué-Cazenave, Jack Bruce und Emilia Peredo Aguirre geben ein sehr homogenes Ensemble ab; bei synchronen Bewegungsfolgen könnte die Präzision höher sein, um der Choreographie noch mehr Schärfe zu geben. Unabhängig davon nimmt das Stück seinen Lauf ähnlich wie die Spurensicherung in einem Fernseh-Tatort: Die Faktenlage wird routiniert und sachlich abgearbeitet. Chalk hat nicht zuletzt durch die konzentrierte Form einen eigenen Reiz, aber emotional berührt das Stück kaum.

Vergrößerung The Bystanders: Joaquin Angelucci, Marta Andreitsiv, Ensemble

Ästhetisch sind die drei Werke des Abends nicht sonderlich eng verzahnt, was sich auch daran zeigt, dass am Ende von Chalk das Bühnenbild in den Schnürboden entschwebt und die Szenerie von The Bystanders zeigt, bevor das Publikum in die erste Pause entlassen wird - sonst wäre die Verbindung beider Stücke womöglich zu schwach gewesen. Der nun vollständig abstrakte Raum wird oben und an den Seiten von einer Matrix aus großformatigen Lampen begrenzt, und die Tänzer:innen tragen barock anmutende weiße Perücken und bodenlange, aufgebauschte Kleider. Auch hier gibt es keine Unterscheidung nach Geschlechtern. Ging es bei Andrey Kaydanovskiy um die vermeintliche Faktenlage, so beschäftigt sich die Norwegerin Hege Haagenrud mit der (medialen) Rezeption von Verbrechen. Vom Band erklingen gesprochene Texte unterschiedlichster Art - die Palette reicht von musikalisch dramatisch unterlegten Features bis zu Diskussionsrunden in Talkshows, und ist fast durchweg in englischer Sprache gehalten. Das Bühnenpersonal verstärkt diese Texte pathetisch durch ausladende Armbewegungen wie in einer Art übersteigerter Fantasie-Gebärdensprache und kommentiert sie dadurch gleich dem Chor einer antiken Tragödie. Durch die Kostüme (die trotz des weich in vielen Falten fallenden Stoffes in ihrer Opulenz wie Schutzpanzer wirken) werden die Bein- und Fußbewegungen vollständig verdeckt. Der Tanz reduziert sich dadurch weitgehend auf die Armbewegungen.

Vergrößerung

Non-fiction Études: Philip Handschin, Maria Luisa Castillo Yoshida, Samuel López Legaspi, Damián Torío, Lara Delfino, Courtney Skalnik, Norma Magalhães

"Bystander" sind diejenigen, die bei einem Unfall oder Verbrechen tatenlos danebenstehen, und der "Bystander-Effekt" besagt: Je mehr Personen anwesend sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass das Opfer Hilfe bekommt - die Ursache ist eine "Verantwortungsdiffusion". So wissenschaftlich geht Haagenrud das Thema aber nicht an. Sie lässt zuerst eine, später dann fast alle Personen die Kleider ablegen, und aus jedem "Bystander" wird im beinahe hautfarbenen Trikot ein ungeschütztes Opfer von Gewalt, ohne dass eine Gewalttat gezeigt würde. Die zaghaften, Verletzlichkeit anzeigenden Bewegungen der Füße stehen in starkem Kontrast zu den exaltierten Armbewegungen zuvor. Dieser abrupte Rollenwechsel ist ein frappierender Moment. Haageruds Arbeit mag unter tänzerisch-technischen Aspekten die schlichteste Arbeit des Abends sein, dafür lotet sie am konsequentesten (und mit einiger böser Ironie) die Grenzen des Tanzes aus. Ob sie - wie bei mir - den stärksten Eindruck hinterlässt, ist sicher eine Frage der individuellen Wahrnehmung - und sie dürfte an diesem Abend am stärksten polarisieren.

Vergrößerung Non-fiction Études: Alexander Ivanov (am Klavier), Damián Torío, Courtney Skalnik

Demis Volpi gibt sich zum Abschluss in vieler Hinsicht deutlich braver und konventioneller. Seine Non-fiction-Études beziehen sich inhaltlich auf den Schriftsteller Truman Capote (1924 - 1984), einem Pionier der "Non-fiction novel", dessen Leben episodenhaft nacherzählt wird - was sich im Detail nicht unbedingt erschließt. Capote ist ein Mann des vorigen Jahrtausends, ein Klassiker also, und da ist dann auch "echte" Musik aus der Vergangenheit erlaubt - einige der Études-tableaux op. 33 für Klavier von Sergej Rachmaninow, die Aleksandr Ivanov mit hinreichendem Maß an Wahnsinn im Ausdruck live auf der Bühne spielt. Der Flügel steht in einer Art Käfig, den es zuvor schon in The Bystanders gab, der aber erst hier eine nachvollziehbare Funktion erhält). In dramatisches Blutrot gekleidet, bewegen sich Tänzer:innen (Geschlechtsunterschiede sind deutlicher erkennbar als zuvor, bleiben trotzdem einigermaßen vage) vom Neoklassizismus beseelt gern auf Spitze. Es gibt Soli, Gruppen und Ensembles, nur einen großen zentralen Pas de deux sucht man vergebens. Volpi lässt immer wieder einzelne Begriffe (gern "true") einblenden, um an das Hauptthema des Abends zu erinnern. Nicht ohne Grund, denn seine schön anzuschauende Choreographie würde wohl genauso gut oder schlecht in anderen Kontexten funktionieren. Daher atmen die Non-fiction-Etúdes bei aller Schönheit eine ganz ordentliche Prise an thematischer Beliebigkeit. Da hilft es auch nicht, dass am Ende der Pianist zum Opfer wird und, von einer tanzenden Gestalt in Rot berührt, leblos auf die Tasten sinkt. Keine ganz große Schlusspointe.


FAZIT

Souverän durchgeformte Abläufe von Andrey Kaydanovskiy, tänzerisch-musikalische Grenzgänge von Hege Haagenrud, gediegenes Traditionsbewusstsein bei Demis Volpi: Kein uninteressanter Abend, aber so wirklich zwingend erschließen die Choreographien das Phänomen true crime für die Ballettbühne dann auch nicht.

Hinweis: In der ursprünglichen Fassung haben wir im Text der Rezension (nicht in der Besetzungsliste) irrtümlich die Besetzung von Chalk und The Bystanders vertauscht. Der Fehler ist korrigiert. Wir bitten herzlich um Entschuldigung.


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Produktionsteam

Sounddesign
Christoph Kirschfink

Bühne
Sebastian Hannak

Kostüme
Bregje van Balen

Licht
Christian Kass

Dramaturgie
Julia Schinke

Chalk

Choreographie
Andrey Kaydanovskiy

Tänzerinnen und Tänzer

Orazio di Bella
Elisabeth Vincenti
Miquel Martínez Pedro
Clara Nougué-Cazenave
Jack Bruce
Emilia Peredo Aguirre


The Bystanders

Choreographie
Hege Haagenrud

Tänzerinnen und Tänzer

Camilla Agraso
Marta Andreitsiv
Lotte James
Imogen Walters
Joaquin Angelucci
Evan L'Hirondelle
Pedro Maricato



Non-fiction Études

Choreographie
Demis Volpi

Tänzerinnen und Tänzer

Paula Alves
Maria Luisa Castillo Yoshida
Lara Delfino
Futaba Ishizaki
Norma Magalhães
Ako Sago
Courtney Skalnik
Daniele Bonelli
Philip Handschin
Samuel Legaspi
Nelson López Garlo
Damián Torío
Long Zou



Weitere Informationen
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Ballett am Rhein
(Homepage)



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