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Schwanensee als Seelenschau Von Thomas Molke / Foto: © Leszek Januszewski
Als die damalige Intendantin Christine Mielitz 2003 Xin Peng Wang als Ballettdirektor von Meiningen nach Dortmund holte, hatte wohl niemand damit gerechnet, zu welchem Ruhm das Ballett Dortmund in den kommenden Jahren gelangen würde. Innerhalb kurzer Zeit legte Wang den Grundstein für einen Platz in der internationalen Tanzszene und erweiterte das Ensemble unter anderem um das NRW Junior Ballett. Dabei begeisterte er das Publikum von nah und fern nicht nur mit zahlreichen neu kreierten Handlungsballetten auf Klassiker der Weltliteratur, die teilweise noch nie für den Tanz erschlossen worden waren, sondern setzte sich auch mit dem Ballett aller Ballette, Tschaikowskys Schwanensee, auseinander und katapultierte sich mit seiner Choreographie 2005 in die Herzen des Publikums. 2012 schuf er eine Neufassung, die wieder für zahlreiche ausverkaufte Vorstellungen sorgte (siehe auch unsere Rezension). Anlässlich seines 20-jährigen Jubiläums widmet er sich nun ein drittes Mal diesem Stück und findet wieder einen neuen Zugang, ohne dabei auf den klassischen 2. und 4. Akt nach Marius Petipa und Lew Iwanow zu verzichten. In der Neuproduktion gibt es laut Aussage der Dramaturgin sogar genauso viele weiße Schwäne auf der Bühne wie bei der "Originalfassung", die aufgrund zahlreicher Änderungen und Bearbeitungen zur Uraufführung die Bezeichnung "Original" eigentlich gar nicht verdient. Siegfried (Dinu Tamazlacaru, links) in den Fängen von Rotbart (Simon Jones, rechts) Während Wang das Werk 2005 mit einem riesigen weißen Schwan als eine psychologische Studie über Täuschung und Selbstbetrug inszenierte und 2012 einen Zusammenhang zwischen der Entstehungszeit des Werkes und der Biographie des Komponisten gesucht hat, sieht er den Prinzen Siegfried in der Neufassung als einen Künstler der Gegenwart, der auf der Suche nach sich selbst ist. Zur Ouvertüre sitzt er vor einer weißen Leinwand an der Rampe und blickt in einen Spiegel. Angestrengt versucht er, was er sieht, aufs Papier zu bringen, ist mit dem Ergebnis jedoch nie zufrieden und zerknüllt die Skizzen. Dann tritt durch die Leinwand Rotbart auf. Mit seiner langen grauen Mähne sieht dieser in seinem schwarzen Anzug wie ein dunkler Lord aus einer Zauberwelt aus. Ob er eine reale Gestalt oder nur ein Hirngespinst Siegfrieds ist, lässt Wang in seiner Lesart offen. Der Vorhang hebt sich, und man befindet sich in Siegfrieds Atelier. Die zahlreichen teils unfertigen Gemälde, die die Wände schmücken haben mit Seerosen und Schwanenflügeln allesamt einen Bezug zum Wasser. Sein Freund Benno tritt auf und hat zahlreiche Freunde mitgebracht, um Siegfrieds Geburtstag zu feiern. Die Tänzerinnen in den langen weißen Kleidern und die Herren in den weißen Anzügen geben schon einen Vorgeschmack auf die Welt, in die Siegfried in seiner Fantasie abtauchen wird. Ein Traum von Schwanensee (Ensemble) Mit großartigen Projektionen von Frank Fellmann, der auch für das Bühnenbild verantwortlich zeichnet, verschwimmt die Rückwand in den sanften Wogen eines Sees. Siegfried nimmt die Feier schon gar nicht mehr wahr. Rotbart fährt einen hohen Glaskasten auf die Bühne, in dem sich ein klassisches Kostüm des Prinzen aus Schwanensee befindet. In diesem Kostüm verliert sich Siegfried dann völlig und betritt die Landschaft, die er in seiner Imagination erschaffen hat. So gelingt Wang der Übergang zu einem absolut märchenhaft und klassisch inszenierten zweiten Akt in der Welt der Schwäne. Riesige Seerosen hängen aus dem Schnürboden herab, so dass man den Eindruck hat, man befinde sich mitten im See. Insgesamt 18 Schwäne schweben nahezu federleicht in klassischen weißen Tutus in grazilem Spitzentanz auf die Bühne. Weitere Schwäne folgen. So entstehen großartige Bilder, wobei die Tänzerinnen durch große Präzision und Homogenität begeistern. Großen Zwischenapplaus erntet der berühmte Auftritt der vier kleinen Schwäne, und auch die vier großen Schwäne begeistern durch eindrucksvolle Bewegungen. Siegfried (Dinu Tamazlacaru) und Odile (Iana Salenko) Für die Hauptpartien hat man unter anderem zwei hochkarätige Gastsolisten engagiert, die in dieser Aufführung zum letzten Mal zu erleben sind. Dinu Tamazlacaru, der bis 2021als Solotänzer an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin engagiert war, begeistert als Siegfried mit intensivem Ausdruck und eleganten Bewegungen. Dabei punktet er mit kraftvollen Sprüngen und sauber angesetzten Drehungen und macht darstellerisch die innere Zerrissenheit Siegfrieds deutlich. Iana Salenko, die als Erste Solotänzerin dem Ensemble des Staatsballetts Berlin angehört und seit vielen Spielzeiten auch regelmäßig in dieser Funktion am Royal Ballet London gastiert, glänzt als Odette / Odile mit großer Eleganz im Spitzentanz. Dabei gelingt es ihr, dem weißen und schwarzen Schwan jeweils sehr unterschiedliche Charakterzüge zu verleihen. Odette gestaltet sie mit einer gewissen Zerbrechlichkeit. Odile zeichnet sie wesentlich selbstbewusster. Wang sieht in ihr allerdings nicht direkt die Verführerin, die Siegfried von seinem Treueversprechen Odette gegenüber abbringt, sondern betrachtet sie als eine dunkle Seite in Siegfrieds Seele, die schließlich dazu führt, dass Siegfried ganz in seinem eigenen Seelenleben gefangen bleibt und jeglichen Bezug zur Realität verliert. In den großen Pas de deux bezaubern Tamazlacaru und Salenko mit innigem Ausdruck. Der dritte Akt führt in ein Museum, in dem Siegfrieds Bilder ausgestellt sind. Neben den Mäzenen, die bereits im ersten Akt bei der Geburtstagsfeier aufgetreten sind, weil sie glaubten, hier ein neues, vielversprechendes Talent erspäht zu haben, sind auch Siegfrieds Freunde aus dem ersten Akt zur Vernissage gekommen. Warum einige Tänzer hier allerdings mit nacktem Oberkörper auftreten, erschließt sich nicht, weil diese Besucher nicht zu den ansonsten sehr vornehm gekleideten Menschen passen und einen Bruch zur Welt der feinen Kunst darstellen. Aber diesen Bruch vollzieht Siegfried auf der Ausstellung auch selbst. Mit dem Auftritt Odiles und Rotbarts stößt er die Festgesellschaft derart vor den Kopf, dass fast alle panisch die Flucht ergreifen. Die Bilder lösen sich auf und verschwimmen wieder in der Projektion eines Sees. Siegfrieds Mutter (Amanda Vieira mit eleganten Bewegungen) und Siegfrieds Freund Benno (Simone Dalè mit kraftvollen Sprüngen) versuchen noch ein letztes Mal, Siegfried zur Vernunft zu bringen. Doch es ist zu spät. Siegfried verjagt auch seine Mutter und Benno und geht völlig in seinen Werken auf. Der vierte Akt führt dann wieder in die Schwanenwelt. Nun werden im Hintergrund reflektierende Scheiben herabgelassen, die die auftretenden Schwäne wunderbar doppeln und damit noch eindrucksvoller erscheinen lassen. Männliche Tänzer treten als Double von Rotbart mit langen weißen Mähnen in schwarzen Anzügen auf und rauben Siegfried völlig den Verstand. Er begibt sich hinter die Scheibe, geht also endgültig in seiner eigenen Illusion eines Schwanensees auf, während Odile mit den übrigen Schwänen eine Einheit vor der Scheibe bildet. Im Schlussbild wird er dann hinter der Scheibe emporgefahren und blickt aus seinem Bild auf den Schwanensee mit den Schwänen herab. Auch dieses Schlussbild geht unter die Haut. Neben der großartigen tänzerischen Leistung der Compagnie und der beiden Hauptpartien Siegfried und Odette / Odile lassen auch die übrigen Tänzerinnen und Tänzer keine Wünsche offen. Simon Jones verleiht der Partie des Rotbart mit geschmeidigen Bewegungen diabolische Züge und punktet durch sauber angesetzte Sprünge. Im ersten Akt begeistern Daria Suzi, Yingyue Wang, Simone Dalè und Matheus Vaz als Siegfrieds Freunde nicht nur in wunderbaren Ensembles und Pas de deux. Matheus Vaz glänzt auch mit atemberaubenden Drehsprüngen, die das Publikum begeistert in die Musik klatschen lassen. Überhaupt zeigt man sich im Saal häufig derart angetan vom Tanz, dass man nicht bis zum Ende der einzelnen Musiknummern warten kann, um seinen Beifall kundzutun. Auch bei den Tänzen im dritten Akt begeistern die Solistinnen und Solisten. Koji Ishizika taucht mit den Dortmunder Philharmonikern intensiv in Tschaikowskys leidenschaftliche Musik ein, auch wenn das Blech stellenweise etwas unsauber klingt. Den Gesamtgenuss kann dies aber nicht schmälern. FAZITAuch in seiner dritten Fassung von Tschaikowskys Schwanensee für das Theater Dortmund hat Xin Peng Wang eine Choreographie geschaffen, die wie die beiden vorherigen Fassungen die Erwartungshaltung an das klassische Handlungsballett in vollem Umfang bedient und dabei trotzdem neue Einblicke ermöglicht. Diese Produktion sollte man sich keinesfalls entgehen lassen. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Choreographie und Inszenierung
Bühnenbild und Videodesign
Kostüme
Lichtdesign
Dramaturgie
Dortmunder Philharmoniker
Solovioline Statisterie
Tänzerinnen und Tänzer *rezensierte Aufführung
Siegfried
Odette / Odile
Rotbart
Siegfrieds Mutter Benno
Freunde Siegfrieds
Kleine Schwäne
Große Schwäne
Schwäne
Neapolitanischer Tanz
Spanischer Tanz
Russischer Tanz
Ensemble
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