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Darf man sich in einen brutalen Mörder verlieben?
Von Stefan Schmöe / Fotos von Matthias Jung Wenn in der Pause intensiv über das Stück diskutiert wird - wohlgemerkt: Nicht über die Inszenierung oder die Gesangsleistungen, sondern über die Geschichte selbst, die gerade auf der Bühne zu sehen ist - dann ist das sicher nicht das Schlechteste für eine zeitgenössische Oper. Dead Man Walking, uraufgeführt 2000 in San Francisco, hat sich im Repertoire etabliert. Die Geschichte der katholischen Ordensschwester Helen Prejean, die einen zum Tode verurteilten Mörder aufsucht und ihn bis zur Hinrichtung begleitet (und ihre Erlebnisse später in Buchform veröffentlicht hat), ist 1995 mit Susan Sarandon und Sean Penn in den Hauptrollen von Tim Robbins verfilmt worden. Die Oper von Jake Heggie mit einem Libretto von Terrence McNally folgt im Wesentlichen dessen Szenario. Verhandelt wird, vereinfacht gesagt, der Sinn und die Berechtigung der Todesstrafe. Die Musik ist durch und durch tonal und entspricht dem konventionellen Schema der Nummernoper mit Arien, Duetten und Ensembles, gipfelnd in einem großen Chorfinale. Mit Anklängen an diverse Stilrichtungen von Bach bis zu Gospel und Blues ist die Bandbreite groß, aber zu einem durchaus homogenen Stil geformt. Das beansprucht natürlich keine Zugehörigkeit zur Avantgarde, aber Heggie erzählt eine gute Geschichte und lädt sie musikalisch so geschickt emotional auf, dass sie sich von Buch und Film emanzipiert. Dead Man Walking ist eine Oper für's große Publikum. Ihr Blau gleicht einer altitalienischen Mariendarstellung, seines der Arbeiterklasse: Sister Helen und der wegen Vergewaltigung und brutalen Doppelmordes an einem Teenagerpärchen zum Tod durch die Gftspritze verurteilten Joseph de RocherIn Detmold inszeniert der scheidende Intendant Georg Heckel. Im Grunde muss die Regie nichts neu erfinden; der präzise gezeichnete Realismus der Vorlage lässt - auch darin steht das Werk in der Nachfolge Puccinis - nicht allzu viele Freiheiten. Heckel verzichtet auf realistische Bilder und schafft damit eine Distanz zum Film. Zwei verschiebbare, halbrund geschwungene Bauelemente mit vertikaler Lamellenstruktur deuten variabel die verschiedenen Räume an (Bühnenbild: Sonja Füsti). Das funktioniert über weite Strecken gut. Die Bilder entstehen im Kopf, zumal die Kostüme (Luzie Nehls-Neuhaus) dann doch wieder recht genau amerikanisches Gefängnispersonal zeigen. Die abgründige Spannung zwischen der Ungeheuerlichkeit der planmäßigen Tötung eines Menschen und der banalen Tristesse von Beratungs- und Wartezimmern, die andere Inszenierungen wie z.B. die in Hagen gezeigt haben, fehlt dadurch allerdings. Die Perspektive verschiebt sich weg von der objektiven Schilderung der Ereignisse und hin zur psychologischen Deutung. Heckel erzählt über weite Strecken aus der subjektiven Perspektive der Helen mit einem alptraumartigen Finale des ersten Akts. Im zweiten Teil, wenn der Mörder Joseph de Rocher und dessen Familie mehr und mehr ins Zentrum rücken, verwässert der Ansatz ein wenig. Zu wenig Gedanken an die Opfer und deren Angehörige? Helen zwischen den Eltern der ermordeten Teenager Diese Sister Helen ist hier eine sehr junge Frau, zu Beginn entgegen aller Warnungen der Mitschwestern selbstbewusst und vom eigenen Auftrag und dessen Erfüllung überzeugt fast bis zur Arroganz. Angesichts eines Mörders, der gar nicht an Einsicht in die eigene Schuld und etwaigem Seelenheil interessiert ist, sondern die Ordensfrau zum Werkzeug seiner Gnadengesuche machen will, gerät ihre fassadenhafte Selbstsicherheit mehr und mehr ins Wanken. Die australische Mezzosopranistin Anna Dowsley spielt die wachsende Verunsicherung, die gleichzeitig zu einem Reifeprozess führt, sehr eindrucksvoll. Mit interessant eingedunkelter, dramatisch akzentuierter Stimme gibt sie der Figur auch musikalisch großes Format. Sie singt, wie beinahe das gesamte Ensemble, vor allem im ersten Teil oft zu laut, wodurch sich die Stimme schlecht mit dem Orchester mischt und was auf Kosten der Feinzeichnung geht. Da dürfte insgesamt ruhig noch etwas nachgesteuert werden, zumal die Akustik im Detmolder Theater und das stimmenfreundliche Dirigat von Per-Otto Johansson keineswegs ein Dauerforte erfordern. Gleichwohl lotet Anna Dowsley mit ihrer gesanglichen Expressivität die Figur bis an ihre existenziellen Grenzen aus. Ein letztes Familienfoto: Joseph de Rocher mit Mutter und den jüngeren BrüdernStimmlich eindrucksvoll singt auch Bariton Michael Borth den zum Tode verurteilten Mörder Joseph de Rocher. Heggie hat für diese Figur eine oft grelle, weniger opernhafte Musik komponiert, mehr an den Blues der Südstaaten angelehnt (die Geschichte spielt in Louisiana). Auch das zeichnet ihn als Underdog und grenzt seine Welt gegen die "reine" Sphäre der Sister Helen ab. Borth deutet diesen Stil an, bleibt aber auch in den emotionalen Ausbrüchen, die er mühelos meistert, klangschön. Und auch szenisch präsentiert er einen gutaussehenden und vergleichsweise netten Gewalttäter (kein Vergleich zu dem Monster, das Sean Penn vor den menschlichen Kern seiner Filmfigur stellte). Das macht Empathie für den Todeskandidaten relativ einfach. Auch findet die junge Frau an diesem durchtrainierten, nicht unattraktiven jungen Mann durchaus über das Geistliche hinaus Gefallen, und die gesellschaftlichen Unterschiede scheinen nicht unüberwindbar. Auch das verwässert das existenzielle Drama um Schuld, Strafe und Vergebung ein Stück weit und schiebt die etwas kleiner gedachte Frage in den Vordergrund: Darf sich eine idealistische junge Frau in so einen Mann verlieben? "Dead Man Walking": Auf dem Weg zur Hinrichtung Auch die weiteren Partien kann das Detmolder Theater ausgezeichnet besetzen. Lotte Kortenhaus gibt ein ausdrucksstarkes Portrait der Mutter des Mörders. Penelope Kendros als Sister Rose kontrastiert mit hellem Sopran eindrucksvoll den dunklen Mezzo von Anna Dowsley. Stephen Chambers verleiht mit prägnantem Tenor dem Gefängnispfarrer scharfe Kontur. Und Andreas Jören singt und spielt den Vater eines der ermordeten Teenager mit der strengen Würde eines amerikanischen Konservativen, der bei aller Schroffheit am Ende gesprächsbereit bleibt. Chor und Kinderchor singen verlässlich und mit hoher Präsenz. Das Detmolder Orchester interpretiert Heggies Musik feinsinnig und mit delikatem Klang. Dirigent Per-Otto Johansson neigt stellenweise dazu, der Musik filmmusikhafte Breite zu geben. Ein strafferer, mitunter auch schrofferer Zugang könnte den Abstand zur Sentimentalität besser wahren. An emotionalen Momenten mangelt es der Musik ohnehin nicht. Nach einem angemessenen Moment der Stille gab es stehende Ovationen vom Premierenpublikum.
Man kann Dead Man Walking sicher noch pointierter inszenieren als hier in der soliden Regie von Georg Heckel, aber eindrucksvoll ist die Produktion allemal, musikalisch sowieso. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Licht
Video
Maske
Choreinstudierung
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der Premiere
Sister Helen Prejean
Joseph De Rocher
Mrs Patrick De Rocher
Sister Rose
George Benton
Father Grenville
Kitty Hart
Owen Hart
Jade Boucher
Motorcycle Cop
Howard Boucher
Older Brother
Younger Brother
Sister Lillianne
Sister Catherine
Prison Guard 1
Prison Guard 2
First Mother
Mrs Charlton
Five Solo Inmates
Teenage Girl
Teenage Boy
Anthony De Rocher
A Paralegal
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