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Das Leid der weißen Schwäne
Von Stefan Schmöe / Fotos von Marc Lontzek Wie geht man mit Schwanensee, dem Klassiker schlechthin unter den großen Handlungsballetten, zeitgemäß um? In Dortmund hat Xing Pen Wang jüngst den zweiten und vierten Akt in der von Traditionalisten als heilig empfundenen Choreographie von Lew Iwanov und Marius Petipa tanzen lassen - eine romantische Welt, in die sich Künstlerprinz Siegfried in den anderen beiden Akten hineinträumt. (Wobei diese inhaltliche Legitimation kaum interessiert, weil es ohnehin nur darauf ankommt, wie schön getanzt wird.) In Detmold bekommt man eine spannende, in sich schlüssige Geschichte zu sehen, die sich an den originalen Handlungsmotiven orientiert, aber eigene Wege sucht und findet. "Ballett von Katharina Torwesten" heißt es im Programmheft, "eine moderne Adaption" war der Presse angekündigt worden. Dabei hält sich die Modernität der Choreographie in überschaubaren Grenzen, denn die Detmolder Ballettchefin erzählt durchaus familientauglich ein Märchen mit Königin, Prinz und natürlich vielen Schwänen. Übermächtige Vaterfigur: Rotbart und JungschwäneDer böse Rotbart ist Herr der Schwäne, die man zu Beginn des Stückes aus riesigen Eiern schlüpfen sieht, und er ist der dominante Vater dieser jungen Mädchen, über die er eifersüchtig wacht. Damit stellt Torwesten die übliche Szenenfolge um - die Feier am königlichen Hof (sonst die Anfangsszene) kommt erst später. Da hat die Jungschwänin Odile bereits vorsichtig mit ein paar feschen Jünglingen geflirtet, denen Vater Rotbart allerdings schnell zeigt, wer hier das Sagen hat. Mit dem Prinzen hat er mehr Mühe; er setzt ihm beim Ball ein Ebenbild Odiles vor, den schwarzen Schwan Odette, und der Prinz lässt sich schnell täuschen. Im Finale kommt es zum Showdown, ein Ringen zwischen Rotbart und dem Prinzen um Odile, und Torwesten entscheidet sich für ein tragisches Ende. Diese Geschichte wird mit Gespür für Spannungsbögen sorgfältig erzählt - darin ist die Produktion der Dortmunder klar überlegen. (Fast) nie entsteht der Eindruck, der Tanz sei Selbstzweck. Jede Nummer ist schlüssig in die Handlung eingebaut, und selbst da, wo es nur lose Anknüpfungspunkte gibt, fällt Torwesten noch etwas ein. Der Tanz der vier jungen Schwäne beispielsweise zeigt sehr witzig vier gerade geschlüpfte und noch ziemlich unbeholfene Küken. Da spielt die Choreographin natürlich auch mit der Rezeptionsgeschichte. Es gibt eine Reihe von lustigen, auch selbstironischen Momenten. Hinreißend die Tänze der Brautwerberinnen, die exaltiert, völlig verschüchtert oder von einem zu kräftigen Schluck Hochprozentigem beflügelt vor dem Prinzen erscheinen. Prinz und weißer Schwan (Odette) Torwesten unterfüttert ihre Choreographie mit einer psychologisierenden Deutung. So weit das die Coming-of-age-Geschichte der Odile auf der einen, der des Prinzen auf der anderen Seite betrifft, geht das gut auf und lässt offen, ob die Emanzipation von der übermächtigen Vater- bzw. Mutterfigur gelingen kann oder ein Scheitern der gegen Widerstände erkämpften romantischen Liebesbeziehung vorprogrammiert ist. Weniger überzeugend ist der Ansatz, dass Odile von Vater Rotbart sexuell missbraucht wurde und daher traumatisiert ist - die angedeutete Vergewaltigung macht unglaubwürdig, dass Odile sich überhaupt auf eine Romanze einlässt. Torwesten verfügt über genug choreographische Möglichkeiten, um hier alles elegant in der Schwebe halten zu können; die Entscheidung für eine eindeutig kriminelle Vater-Tochter-Beziehung banalisiert die Geschichte unnötig, und sie bleibt trotz dieser Eindeutigkeit zu sehr Episode am Rande (an einem Schockeffekt ist der Choreographin nicht gelegen). Das insgesamt wichtigere Thema des Abends ist aber der scheiternde Versuch, sich von den Eltern und deren Erwartungen abzulösen, auch aus (idealisierten) Rollenmodellen auszubrechen. Brautschau am Hof; rechts: Prinz und KöniginWie schon in Torwestens Romeo und Julia hinter dem Historiendrama schnell die Gegenwart sichtbar wurde, gelingt dies auch hier mit der Märchenwelt, die unvermittelt ganz heutig wirkt und Odile und ihren Prinzen ganz selbstverständlich wie zwei junge Menschen von nebenan erscheinen lässt. Manchmal sind es kleine Nuancen, die aus der Bewegungssprache des klassischen Balletts in die Realität führen, mehr Andeutungen als Ausformulierungen. Der erste pas de deux zeigt zarte Annäherungen, flüchtige Berührungen ohne festen Halt, was mit dem Motiv von See und Wasser korrespondiert. Erst der schwarze Schwan Odile (Veronika Jungblut tanzt beide Partien mit anrührender Natürlichkeit und mädchenhaftem Charme) wird anschmiegsamer, und damit bekommt ein weiterer Gedanke Raum: Der Idealisierung von Liebe (weißer Schwan) tritt die Realität mit ihrer Verletzbarkeit (schwarzer Schwan) entgegen. Leony Boni dürfte diese Erkenntnis als Prinz noch präziser ausdrücken; er bleibt der sympathische und smarte, aber keineswegs naive junge Held, dem (zu) wenig Entwicklung vergönnt ist. Prinz und schwarzer Schwan (Odile) Levin Mischel tanzt einen schlangenhaft dämonischen Rotbart, der mit seinen raumgreifenden Armbewegungen die Bühne gefährlich ausfüllt, und Madoka Sato eine strenge Königin mit kühler, keineswegs unsympathischer Eleganz - man ahnt, dass sie es gut meint mit ihrem Sohn, aber eben den Konventionen genügen will. Für die Ensembles hat Katharina Torwesten kein großes Ensemble zur Verfügung wie in Dortmund, allerdings auch eine viel kleinere Bühne. Auch mit fünf, sechs, sieben Paaren kann sie effektvolle Szenen choreographieren, wobei sie geschickt mit den Möglichkeiten der Detmolder Compagnie (um ein paar Gäste in kleineren Partien erweitert) arbeitet. Das Bühnenbild (Franz Dittrich) gibt sich mit nachtblauem See und viel Bühnennebel in den "weißen" Akten und orientalisch angehauchtem Dekor in Goldtönen für den königlichen Hof stimmungsvoll. Großartig sind die Kostüme (Julia Scheeler), die auf Tutus verzichten, sondern mit knappen, federbesetzten Röckchen sehr attraktive Schwäne zeigen, aber dezent auf Cabaret und Revue der 1920er-Jahre anspielen - auch das bläst den Staub weg, der sich eben doch auf die Petipa-Choreographie gelegt hat. Das Orchester des Detmolder Theaters (mit toller Solo-Violine) begleitet unter dem Dirigat von Michael Spassov einfühlsam, manchmal etwas zu sehr im Breitwandformat, dafür dürfte es am Ende ruhig mehr knallen - trotzdem ein auch musikalisch überzeugender Abend.
Ein sehenswerter, moderat moderner Schwanensee: Katharina Torwesten erzählt eine spannende und schlüssige Geschichte aus einer romantischen und gleichzeitig ziemlich heutigen Märchenwelt. Dafür deutet sie das Stück behutsam für die Gegenwart neu, ohne es zu verbiegen. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Choreographie
Bühne
Kostüme
Licht
Maske
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der rezensierten Aufführung
Odette /Odile
Prinz Siegfried
Rotbart
Königin
Freunde des Prinzen
Schwäne
Vier kleine Schwäne
Bräute / Hofdamen
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