Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
An Baal kommt niemand vorbei, schon gar nicht Carmen
Von Stefan Schmöe / Fotos von Daniel Senzek
Problemfall Nummer eins: Carmen. Als Projektionsfläche für erotische Männerfantasien hat sich wohl keine Frauengestalt des Musiktheaters so ins kulturelle Bewusstsein eingeprägt wie George Bizets freiheitsliebende Spanierin. Natürlich liegt es nahe, den Stoff choreographisch zu verwenden. Ob es allerdings geschickt ist, die Opernmusik Bizets in einer Art best of für Orchester bearbeiten zu lassen (Arrangement: David Garforth) wie Roland Petit in seiner 1949 uraufgeführten Version, das ist eine andere Sache - Vergleiche mit der Oper drängen sich da natürlich ständig auf und gehen dann doch zu Lasten der getanzten Version (die Duisburger Symphoniker spielen die Musik unter der Leitung von Martin Braun ein wenig brav). Petit hat in seiner rund 45 Minuten kurzen Fassung die Handlung gestrafft und auf fünf Schlüsselszenen reduziert, wobei er sich vom Opernlibretto löst und auf die Vorlage, eine Novelle von Prosper Mérimée, zurückgreift. Dadurch werden auch die Opernszenen nicht einfach in Tanz "übersetzt", sondern einzelne Musiknummern in anderen Zusammenhängen verwendet.
Petit rückt die Ensemble-Szenen furios in die Nähe des Varietés, und die Choreographie entwickelt große Stringenz und hält sich nicht lange mit Nebensächlichkeiten auf. Für die Fabrikarbeiterinnen findet er eine markante, sehr handfest stampfende Sprache, wobei die Damen durchaus virtuos auf Spitze tanzen können - da werden sozialer Status auf der einen, Stolz und Würde auf der anderen Seite schlüssig gegeneinander geschnitten. Die Banditen (die, anders als bei Bizet, keine Schmuggler sind, sondern üble Straßendiebe, die nicht vor Mord zurückschrecken) wirken freilich allzu niedlich und mit etwas bemühtem Witz gezeichnet. Diese Handlung bildet den Rahmen für die zentrale Szene der Choreographie, die ziemlich eindeutig den Liebesakt zeigt. Die Szene, die 1949 ziemlich mutig gewesen sein mag, hat durchaus ihre Frivolität bewahrt, aber im präzise ausgeführten Pas de deux von Futaba Ishizaki und Gustavo Carvalho ist (zu) wenig an erotischer Spannung und unbedingtem Willen zu spüren. Ohnehin tanzt Futaba Ishizaki eine unterkühlt kalkulierende Carmen, Gustavo Carvalho einen elegant-großbürgerlichen Don José, und weder nimmt man ihr den unbedingten Freiheitswillen noch ihm seine (in ziemlich konventionellem Pathos ausgedrückte) Verzweiflung angesichts seines ersten Raubmords ab. Eher schon gehen sie als schneidiges Paar in den Salons der 1920er-Jahre durch. Daniele Bonelli hat es dadurch relativ leicht, als blasiert angelegte Torero-Karikatur die Szene für sich zu gewinnen. Weil das Stück ausgerechnet im zentralen Konflikt die Spannung nicht halten kann, bleibt es dann doch eher gefällig als brisant. Nein, ein Problem ist diese Carmen, der es an Entschlossenheit und tragischer Größe fehlt, nicht. Eher schon ein Fall für die Boulevardpresse. Carmen: Der Torero (Daniele Bonelli) bleibt hier ein namenloser Clown - an seiner Gegenwart scheitert die Beziehung von Carmen und José wohl nicht Problemfall Nummer zwei: Baal. Dabei handelt es sich um die Hauptfigur im gleichnamigen Schauspiel Bertolt Brechts, einen Dichter, der auf gesellschaftliche Konventionen pfeift, herumpöbelt, Frauen en masse verführt (und mitunter in den Tod treibt) und seinen engsten Freund ermordet. Einer, der sich asozial verhält und doch das Zentrum der Gesellschaft bildet, alle und alles an sich bindet und dann in einer großen Spirale in den Abgrund schlittert. Carmen Kovacs, bis zur vorigen Spielzeit Dramaturgin beim Ballett am Rhein, hat aus Brechts Stück die Szenenfolge erstellt, die russische Komponistin Nastasia Khrustcheva (*1987) in enger Abstimmung mit Choreographin Aszure Barton die Musik dazu komponiert. Darin greift sie oft barocke Formen auf und verfremdet diese - solche Verfahren kennt man beispielsweise von Alfred Schnittke, und die Musik "funktioniert" hier außerordentlich gut. Schon Brechts Vorlage widerspricht der klassischen Anlage des Dramas mit einem klar umrissenen Konflikt, sondern reiht eher lose verbundene Szenen aneinander; das setzt sich in der Choreographie der Kanadierin Aszure Barton fort. Sie verzichtet auf ein realistisches Bühnenbild und stellt die Handlung in einen abstrakten Raum (Bühne: Burke Brown), in dem alle Tänzer:innen in schwarz, nur Baal hervorgehoben in grün auftreten (Kostüme: Michelle Jank).
In der Premiere dieser Wiederaufnahme (der Tanzabend war bereits in Düsseldorf zu sehen) wird Baal mit einer Tänzerin (Wun Sze Chan) besetzt - in den Fotos im Programmheft ist Miquel Martínez Pedro abgebildet, der alternierend in der Titelpartie auf der Bühne steht und 2022 die Uraufführung getanzt hat. Die Besetzung mit einer Frau ist schlüssig, weil dadurch verhindert wird, das Stück einseitig unter dem Blickwinkel der #metoo-Debatte zu betrachten - Baal ist viel mehr als der lüsterne alte Mann, der keine Grenzen kennt. Und Wun Sze Chan beherrscht vom ersten Moment an die Bühne, gibt ihm bestechende physische Präsenz und Charisma und vollbringt das Kunststück, Baals nachlassenden Einfluss und zunehmenden Verfall vorzuführen, ohne an Spannung nachzulassen. Barton lässt auf flacher Fußsohle tanzen, ihre Figuren sind erdverbunden und entwickeln eine ganz eigene, mitreißende Körper- und Tanzsprache, oft mit Verrenkungen und gelegentlich mit ineinander verschlungenen Körpern. Dabei sind die notwendigen Handlungselemente auf ein Minimum reduziert. So entwickelt Barton mit großer Souveränität ein Handlungsballett, dessen Geschichte gerade noch erkennbar ist, aber den Tanz nie einengt, im Gegenteil: Das Stationendrama (und die Musik) eröffnen packende Szenen, die schlüssig aufeinander folgen, die Spannung aber aus der Choreographie erwachsen lassen. Baal: Die Freundschaft zwischen Baal (Wun Sze Chan) und Ekart (Kauan Soares Araujo) wird für letzteren tödlich enden
Auch die Nebenfiguren sind sehr genau gezeichnet. Das gilt insbesondere für die Sophie, Baals Geliebter, die von Simone Messmer vielschichtig angelegt ist. Sie fordert Baal vorsichtig heraus, erweist sich als ihm gewachsen und kann ihm auf Augenhöhe begegnen - aber es bleibt zunächst eine Ungewissheit, wie das Duell endet. Den Kontrast dazu bildet die schüchterne Johanna (die sich nach der ersten Liebesnacht ertränkt), von Rose Nouguè-Cazenave mit zurückhaltender Vorsicht und nicht einfach nur "naiv" angelegt. Evan L'Hirondelle tanzt ihren eigentlichen Liebhaber Johannes in schöner Mischung aus jugendlicher Forschheit und fast demütigem Respekt gegenüber Baal. Kauan Soares Araujo verleiht Baals engem Freund Ekart eine geisterhafte Leichtigkeit. Die Ensembles wechseln zwischen der großbürgerlichen Eleganz der feinen Gesellschaft und einem gnomhaften Auftreten der Holzfäller, bei denen Baal am Ende stirbt. Das Orchester (mit dem Klavier als Leitinstrument für Baal) trifft sehr schön den Tonfall und die Farbigkeit der Musik, die in ihrer leicht verfremdeten Tonalität einen surrealen Charakter besitzt. Ja, dieser Baal ist ein Problem. Mit seinen libertären Vorstellungen, seinen Tabubrüchen und seiner gefährlichen Präsenz geistert er durch jede Gesellschaft, auch durch unsere.
Ungleiche Gegenspieler: Carmens in dieser Produktion domestizierter Freiheitsdrang führt zu einer sauber getanzten und hübsch anzusehenden, aber nicht allzu aufregenden Choreographie; Baals unbedingter Wille bis zur Selbstvernichtung wird bei Aszure Barton zum fesselnden Tanztheater. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
ProduktionsteamCarmen
Musikalische Leitung
Choreographie
Bühne und Kostüme
Licht Duisburger Philharmoniker Uraufführung:Ballet de Paris, Shaftsbury Theatre, London 21. Februar 1949 Tänzerinnen und Tänzer
Carmen
Don José
Toréador
Banditen
Volk
Baal
Musikalische Leitung
Choreographie
Bühne und Licht
Kostüme
Video
Libretto und Dramaturgie
Choreographische Einstudierung
Klavier Duisburger Philharmoniker Uraufführung:Ballett am Rhein, Opernhaus Düsseldorf, 22. Januar 2022 Tänzerinnen und Tänzer
Baal
Ekart
Sophie
Johannes
Johanna
Emilie
Luise
Die beiden Schwestern
Mech
Hohe Gesellschaft
Fuhrleute
Holzfäller
|
© 2022 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de