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L'amant anonyme oder
Unerwartete Wendungen


Comédie mêlée in zwei Akten
Libretto von François-Georges Fouques Deshayes
nach einem Stück von Stéphanie-Félicité de Genlis
Musik von Joseph Bologne (L'amant anonyme)
mit Ergänzungen von SJ Hanke (Unerwartete Wendungen)

in französischer Sprache (L'amant anonyme) und deutscher Sprache (Unerwartete Wendungen)
mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 1 h 45' bis ca. 2 h 15' (keine Pause)

Premiere im Aalto-Theater Essen am 16. März 2024
(rezensierte Aufführung: 21.03.2024)


Logo:  Theater Essen

Theater und Philharmonie Essen
(Homepage)
Klassik trifft auf Spoken Words Art und Street Dance

Von Thomas Molke / Fotos: © Matthias Jung

Mit dem Projekt Aalto:StartUp versucht die Intendantin des Aalto Musiktheaters und der Essener Philharmoniker, Dr. Merle Fahrholz, semiprofessionelle und professionelle Kunstschaffende mit Mitarbeitenden des Aalto-Theaters auf Augenhöhe zusammenzuführen, um gemeinsam eine Produktion zu erarbeiten, mit der eine "nachhaltige Verankerung von Diversität" im Sinne von Vielfalt und Vielfältigkeit im Angebot angestrebt werden soll. Das klingt sehr hehr. In dem neuen Opernabend werden nun ein völlig unbekanntes Werk der Klassik mit Spoken Words Art und Street-Dance-Einlagen zusammengeführt, um das Stück aus der Vergangenheit in unsere Gegenwart zu holen. Und um auch das Publikum in diesen Abend richtig miteinzubeziehen, schließt sich an die Aufführung noch eine ausgelassene halbe Stunde im Foyer an, bei der die Zuschauerinnen und Zuschauer bei Speis und Trank und musikalischer Untermalung mit den Künstlerinnen und Künstlern und den Mitarbeitenden des Hauses ins Gespräch kommen können. Ob die verschiedenen Teile dabei aber wirklich zusammenfinden, ist Ansichtssache. Näher kommt einem das klassische Werk durch den modernen Transfer nicht.

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Valcour (George Vîrban, rechts) liebt heimlich Léontine (Lisa Wittig). Ophémon (Tobias Greenhalgh, Mitte) versucht zu vermitteln.

Dabei ist die Stückauswahl durchaus interessant. Joseph Bologne dürfte den meisten Besucherinnen und Besuchern nämlich absolut unbekannt sein. Obwohl von den wahrscheinlich sechs Opern, die er komponiert hat, nur L'amant anonyme vollständig erhalten ist, liest sich sein Lebenslauf absolut spannend. So kam er als Kind mit seinen Eltern aus Guadeloupe nach Paris und machte trotz seiner Herkunft und Hautfarbe dort eine beachtliche sportliche und musikalische Karriere. Besonders bei den Damen soll er sich großer Beliebtheit erfreut haben. 1779 wurde er Direktor des Privattheaters von Madame de Montesson. Dort wurde 1780 L'amant anonyme uraufgeführt. Das Libretto basiert auf dem gleichnamigen Stück, das die Nichte von Bolognes Arbeitgeberin, Stéphanie-Félicité de Genlis, verfasst hat. Inhaltlich gibt es zwar nicht viel her. Valcour liebt heimlich die junge Witwe Léontine, die eigentlich noch nicht für eine neue Beziehung bereit ist, und überhäuft sie mit anonymen Liebesbeweisen. Nach einigem Hin und Her erfährt sie, dass Valcour der heimliche Verehrer ist und erhört sein Liebeswerben. Aber die Musik klingt durchaus vielversprechend. Das scheint allerdings für eine Aufführung nicht zu reichen, und deswegen hat man den in Düsseldorf lebenden Komponisten SJ Hanke beauftragt, ergänzende Musik zu komponieren.

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Léontine (Lisa Wittig, rechts) und ihr "Sprachrohr" (Jule Weber)

Hanke konzentriert sich dabei auf die drei Arien der Léontine, die für das Regie-Team um Zsófia Geréb und Alvaro Schoeck im Zentrum von Bolognes Oper stehen und die Entwicklung der eigentlichen Hauptfigur des Stückes zeigen, die nicht, wie der Titel es vermuten lässt, der heimliche Liebende ist, und führt sie in einer modernen Musiksprache von der Klassik in die Gegenwart. Ob es wirklich erstrebenswert ist, Bolognes klassische Klänge auf diese Weise zu zerlegen, ist Geschmacksache. Hanke findet zwar relativ glatte Übergänge, die mal am Ende der Arie angelegt sind, mal mitten in die Arie eingefügt sind. Aus dem musikalischen Fluss wird man jedoch durch Hankes Komposition stets aus dem Stück herausgerissen. Auch ob diese Einschübe rechtfertigen, eine weitere Ebene unter dem Titel Unerwartete Wendungen einzufügen, die dann auch noch mit Alvaro Schoeck einen eigenen Regisseur erhält, ist fraglich. Jedenfalls wird das eigentliche Stück dadurch unnötig aufgebläht, so dass kein kohärenter Abend entsteht. Um die Gefühle von Léontine und Valcour nachvollziehen zu können, hätte es gewiss nicht der beiden Spoken Word Artists Jan Seglitz und Jule Weber bedurft, deren Texte für einen Poetry Slam Abend zwar sehr passend sein mögen, aber im musikalischen Ablauf des Abends eher störend als erhellend wirken. Die Passagen sind zu lang und viel zu statisch, was eine gewisse Länge entstehen lässt.

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Klassik (Léontine (Lisa Wittig, rechts) mit dem Jungen Chor) trifft auf Street Dance (Ensemble).

Auch über die Tanzeinlagen kann man geteilter Meinung sein. Bolognes Stück an sich ist voller Balletteinlagen, die musikalisch natürlich einen sehr klassischen Duktus haben und bei einer derartigen Umsetzung vielleicht ein wenig museal wirken würden. Die Deutung der Tänzerinnen und Tänzer mit unterschiedlichen Formen des Street Dance ist zwar artistisch beeindruckend, aber zur Handlung trägt es genauso wenig bei wie wahrscheinlich die ursprünglichen Tanzeinlagen und zieht somit ebenfalls den Abend unnötig in die Länge. Völlig unverständlich erweist sich auch die Einführung der Zuschauerin (Christina Clark) und des Zuschauers (Rainer Maria Röhr), die wohl eine Brücke zum Publikum schlagen sollen. Sie sitzen zunächst in der ersten Reihe, und beginnen relativ überraschend, das Geschehen auf der Bühne zu kommentieren. Wieso sie dann aber beschließen, sich auf die Bühne zu begeben, erschließt sich nicht. Dabei fragt Clark sogar noch andere Menschen im Publikum, ob sie nicht mitkommen wollen. Einen kleinen Moment fragt man sich vielleicht, was passiert wäre, wenn wirklich jemand aufgestanden wäre und der Aufforderung gefolgt wäre. Zwar ziehen Clark und Röhr darstellerisch eine komödiantische Show auf der Bühne ab und brechen die Wand zum Saal im wahrsten Sinne des Wortes auf. Für den Ablauf der Geschichte macht es allerdings überhaupt keinen Sinn und rechtfertigt auch nicht den Titel eines weiteren Stückes, Unerwartete Wendungen.

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Zuschauerin (Christina Clark, rechts) und Zuschauer (Rainer Maria Röhr) werden Teil der Inszenierung: Léontine (Lisa Wittig, links).

So wird man durch diese Wendungen immer wieder aus der eigenen Geschichte gerissen, die zwar selbst nicht viel hergibt. Aber die zusätzlichen Regie-Einfälle machen es auch nicht besser. Immerhin gibt die Ausstattung von Ivan Ivanov einiges her. Als Bühnenbild werden Teile verwendet, die Frank Philipp Schlössmann für Mozarts La finta giardiniera vor zwei Spielzeiten in Essen verwendet hat, wobei die Wände neu strukturiert worden sind. Durch den Einsatz der Drehbühne entsteht ein Labyrinth von Räumen, durch das Léontine und Valcour auf ihrem Weg zueinander irren. Ein Raum ist mit zahlreichen Fotographien ausgeschmückt, die auch im Rahmen des Workshops entstanden sind. Die Kostüme des Personals von L'amant anonyme sind absolut klassisch gehalten und bilden somit einen starken Kontrast zu den Figuren aus den Unerwarteten Wendungen, die als Seniorinnenquartett in dunklen Tönen, Zuschauerin und Zuschauer in feiner Abendgarderobe und Tänzerinnen und Tänzer in lockerer für den Street Dance geeigneten Kleidung auftreten. Wenn dann nach dem glücklichen Ende die Figuren des Stückes aus dem zurückgefahrenen Bühnenbild heraustreten und ins Foyer einladen, wird ihr Weg durch das Foyer in einem Video auf der Leinwand gezeigt. Hier findet die Inszenierung dann einige komische Momente, wenn die Figuren des Stückes in den barocken Kostümen aus dem Theater auf die Straße laufen und an der Bushaltestelle von einer Passantin kritisch gemustert werden, oder Valcours Freund Ophémon im Foyer nichts zu Trinken bekommt und sich deshalb mit einem Kameramann in eine Kneipe begibt. Durch diesen fließenden Übergang ins Foyer wird der Schlussapplaus ein wenig ausgebremst.

Den haben die Solistinnen und Solisten und die Essener Philharmoniker unter der Leitung von Wolfram-Maria Märtig nämlich verdient. Lisa Wittig punktet als Léontine mit strahlenden Höhen und sauber angesetzten Koloraturen. George Vîrban verleiht dem schmachtenden Liebhaber Valcour zarten tenoralen Schmelz und punktet mit komödiantischem Spiel. Gleiches gilt für Tobias Greenhalgh, der als Ophémon seinen Freund zu überreden versucht, sich endlich als Liebender erkennen zu geben. Greenhalgh gestaltet die Partie mit frischem Bariton. Natalia Labourdette und Aljoscha Lennert runden als Hochzeitspaar Jeannette und Colin die Riege der Solistinnen und Solisten wunderbar ab. Wolfram-Maria Märtig führt die Essener Philharmoniker mit schlanker Hand durch Bolognes Partitur und findet auch für Hankes moderne Ergänzungen einen guten Zugang.

FAZIT

Es lässt sich sicherlich diskutieren, ob Bolognes L'amant anonyme heute noch auf die Opernbühne gebracht werden sollte. Die Kombination mit Unerwartete Wendungen macht es jedoch auch nicht empfehlenswerter.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Wolfram-Maria Märtig

Inszenierung (L'amant anonyme)
Zsófia Geréb

Inszenierung (Unerwartete Wendungen)
Alvaro Schoeck

Ausstattung
Ivan Ivanov

Bühne nach
Frank Philipp Schlössmann

Dramaturgie
Savina Kationi



Essener Philharmoniker


Solistinnen und Solisten
(L'amant anonyme)

*rezensierte Aufführung

Léontine
Lisa Wittig

Valcour
George Vîrban

Ophémon
Tobias Greenhalgh

Jeannette
Natalia Radosavljevic /
Natalia Labourdette

Colin
Aljoscha Lennert

Junger Chor
Pia Graute
Charlotte Roscher
Julia Rosellen
Lena Teigelack
Josephine von Treeck
Emma Xander
Hannah Xander

Teilnehmende
(Unerwartete Wendungen)

Zuschauerin und Zuschauer
Christina Clark
Rainer Maria Röhr

Seniorinnenquartett
Jessica Burri
Marie-Helen Joël
Margaret Russell
Suzanne Schwarz

Spoken Word Artists
Jan Seglitz
Jule Weber

Tänzerin
Renate Henze

Tänzer*innen
Dalil Belmir
Ernest Butman
Souhail Jalti
Nicole Kufeld
Rymon Zacharei

Schlagzeug / Percussion
Patrick Andersson
Oliver Kerstan

Filmteam
Manuel Rodriguez
Young-Jean Maeng
Simon Federlein

Trio
Boris Gurevich
Michael Giesen /
Stephan Pommer
Oliver Kerstan




Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Aalto Musiktheater
(Homepage)




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