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Ein letzter Taiko von Ben Van Cauwenbergh für Essen
Von Stefan Schmöe
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Fotos von Bettina Stöss Der Titel Last weist auf einen Abschied hin: Dies ist der letzte große Ballettabend von Ben Van Cauwenbergh am Essener Aalto-Theater. Der 1958 in Antwerpen geborene Tänzer und Choreograph kam 2008 als Ballettdirektor hierher und wurde 2013 zum Intendanten des Aalto Balletts ernannt. Geprägt hat er das Haus einerseits mit den großen romantischen Handlungsballetten des Repertoires, bei denen er sich als Traditionalist gab wie zuletzt in Giselle, andererseits durch neue Kreationen mit populärem thematischem Rahmen wie die Tanzhommage an Queen oder das Charlie-Chaplin-Ballett Smile. Da mochten die Anhänger der Avantgarde die Nasen rümpfen - Van Cauwenbergh hat weit über die Stadtgrenzen hinaus eine große Fangemeinde, die seine Ästhetik und die unbeschwerte Freude an der Schönheit von klassisch-akademischem Tanz liebt. Seine Abschiedsvorstellungen im Juni und Juli, die unter dem Titel Bye, bye Ben eine Collage aus verschiedenen Stücken präsentieren, sind längst ausverkauft. Not me, but me: Ensemble
"Ein Abend - zwei Uraufführungen - drei Choreograf*innen" steht ein wenig reißerisch über dieser Produktion, was auch daran liegen mag, dass eine zentrale Idee ganz offensichtlich fehlt. Dabei wird nicht einmal klar, welche beiden der vier angekündigten Ballette hier eigentlich uraufgeführt werden, und ob es überhaupt vier eigenständige Werke oder doch ein großes, irgendwie zusammenhängendes Stück sein soll. Durch den nahtlosen Übergang zwischen der ersten und zweiten Choreographie sowie (nach der Pause) der dritten und vierten wird ebenso der Eindruck vermittelt, es solle sich um ein irgendwie doch geschlossenes Werk handeln, wie durch die Angabe im Programmheft "Pause nach dem 1. Akt". Tatsächlich sind Querbezüge zwischen den vier jeweils rund 20-minütigen Arbeiten kaum zu erkennen, auch wenn Bühne und Licht (Kees Tjebbes) und Kostüme (Bregje van Balen) durchgehend vom gleichen Team stammen - was man nicht so leicht sieht, denn jede Choreographie hat ihre Ausstattung und damit auch eine eigene Ästhetik. Not me, but me: Marie Van Cauwenbergh, Benjamin Balazs
Den Auftakt macht Not me, but me vom Van Cauwenbergh selbst, der dabei auf eine alte Arbeit zurückgreift und hier unter dem Einfluss von Georges Balanchine steht. Zu Musik für Streichquartett von Erwin Schulhoff (das noch sehr junge Velvet-Quartett spielt nicht nur hier ganz ausgezeichnet) bildet ein Ensemble aus sechs Paaren in den "Ouvertüre" und " Finale" genannten Passagen den Rahmen für drei Pas de deux und einen Pas de Trois, bei denen viel auf Spitze getanzt wird. Die hier gezeigte Abstraktion ist eher untypisch für den Geschichtenerzähler Cauwenbergh, und so darf man wohl den Titel - in etwa: "Das bin ich nicht, das bin ich doch" - verstehen. Balanchines Strenge wird allerdings unterlaufen durch eine beinahe flapsige Ironie, die sich beispielsweise in nonchalanten Hüftwacklern ausdrückt, und insbesondere der Pas de Trois besitzt Momente von slapstickhafter Komik. Die müsste noch präziser ausgearbeitet sein, wie auch die Präzision in den auf neoklassische Eleganz getrimmten Ensembles größer sein dürfte. Gleichwohl ist Not me, but me ein schön anzusehendes virtuoses Warmlaufen, mit dem Van Cauwenbergh nicht ohne Selbstironie zum Abschluss seiner Intendanz zeigt, dass er auch anders hätte choreographieren können als in seinen Handlungsballetten. Your attention, please: Yuki Kishimoto, Sena Shirae
Einen ziemlich starken Gegensatz bildet Your attention, please von Ana Maria Lucaciu (entwickelt gemeinsam mit den Tänzer*innen). Hier wird eine kleine Geschichte erzählt, die in etwa so geht: Die fünf Akteur*innen proben oder entwickeln ein Tanzstück, wobei es ein paar Störungen gibt: Erst beginnt eine Musikerin des Streichquartetts (das auf der Bühne sitzt) zu telefonieren und die Musik des Barockkomponisten Marin Marais stockt, dann unterbricht offenbar ein elektrischer Kurzschluss mit lautem Knall die Probe - was beides ziemlich aufgesetzt wirkt. Später erklingt vom band das jazzig-chillige Peace Piece von Bill Evans, und dann wieder live gespielte Musik für Streichquartett von John Cage (aus 44 Harmonies from Appartment House 1776). Die Leiterin der kleinen Truppe, Yuki Kishimoto (herrlich energisch mit schriller Pfeife, wenn sie die im Titel des Stücks erwähnte Aufmerksamkeit einfordert), zieht sich am Ende introvertiert an den Tisch, der bis dahin rätselhaft und bedeutungslos auf der Hinterbühne stand, zurück - das verortet die Szene im bürgerlichen Milieu wie auch die legere Freizeitkleidung. Die rumänische Choreographin sieht sich formal weniger im Ballett als im Bereich des Tanztheaters - wobei man nicht die in den 1980er-Jahren nebenan in Wuppertal von Pina Bausch entwickelte, zum Sprechtheater hin offene Form als Maßstab nehmen darf, da bleibt Lucaciu doch sehr viel näher beim modern dance. Getanzt wird auf flacher Sohle, der Spitzenschuh wird nicht benötigt. Neben Yuki Kishimoto tanzen Ana Maria Papaiakovou, Yuki Kishimoto, Sena Shirae, Julia Schalitz und Enrico Vanroose mit schöner Balance aus Individualität und Disziplin. Die im Titel geforderte Aufmerksamkeit zollt man für das unterhaltsame, souverän choreographierte 20-Minuten-Stück gerne. In-Between: Wataru Shimizu, Yuki Kishimoto, Yegor Hordiyenko und Enrico Vanroose
Zukünftig wird Armen Hakobyan (gemeinsam mit Marek Tůma) die Geschicke des Aalto Balletts leiten. Der Armenier war zuvor Solotänzer und Ballettmeister am Haus und hat auch choreographiert (etwa Moving Colours gemeinsam mit Denis Untila). In-Between kreist um den Zustand der Hypnagogie. Darunter versteht man eine Phase zwischen Wachen und Einschlafen, in der sich Bewusstsein und Halluzinationen überlagern. Auf der Bühne sieht man eine Reihe von Bilderrahmen, hinter denen Tänzerinnen und Tänzer stehen, zunächst starr, die sich dann bewegen und aus den Rahmen heraustreten. Ob damit eben dieser Zwischenzustand verbildlicht werden soll? Bei manchem Betrachter könnten vielmehr Assoziationen an die Harry-Potter-Welt ausgelöst werden, die von "lebenden Bildern" bevölkert ist, in denen die dargestellten Personen sich gerne gegenseitig besuchen - was dort zu den humoristischen Elementen gehört. Eingeplant ist diese Verbindung mit der ihr innewohnenden Komik sicher nicht. Bei Hakobyan tanzen Traumgestalten in schwarz ziemlich eindrucksvoll, und immer wieder sieht man tolle Hebefiguren. In-Between: Wataru Shimizu und Sena Shirae; oben das Velvet Quartet
Das Streichquartett, das mit dem Variationssatz aus Schuberts Der Tod und das Mädchen beginnt (oberhalb der Bühne mit schöner Betonung der Mittelstimmen gespielt), wird irgendwann abgelöst durch das Violinkonzert von Philip Glass, das aus dem Lautsprecher ertönt: Dadurch ergibt sich ein Bruch, weil (von der dramaturgisch plausiblen Bill-Evans-Einspielung zuvor abgesehen) sonst alle Musik auf der Bühne live erklingt und die Musizierenden mindestens visuell in die Choreographien einbezogen sind. Auch dadurch neigt Hakobyans Choreographie zu einer unbestimmten Gefälligkeit. Thematisch wird das Motiv des Todes aus Schuberts Quartett nicht erkennbar aufgegriffen. Vielmehr wird abstrakter Tanz mit einem an neoklassischer Formensprache angelehnten Bewegungsvokabular mit großformatigen Bildern und eingängiger Musik kombiniert - das hat Charme und wird vom Publikum bejubelt. Last Taiko: Wataru Shimizu, hinten die Formation Feniks Taiko
Den Abschluss bildet Last Taiko, von Ben Van Cauwenbergh und Armen Hakobyan gemeinsam choreographiert. "Taiko" bezeichnet eine große japanische Trommel, und das Ensemble "Joji Hirota and the Taiko Drummers" spielen auf der Hinterbühne die Komposition Harvest - Van Cauwenbergh und Hakobyan haben dazu schon 2021 eine Choreographie unter dem Titel Percussion vorgestellt. Last Taiko ist letztendlich eine temporeiche Show, bei der eine Gruppe von kraftvoll tanzenden Männern in schwarzen Hosen und freiem Oberkörper auf eine Gruppe von Frauen treffen, die durch Tanz auf Spitze die schlanken Körper betonen. Das führt zu effektvollen Szenen, wobei (wie schon bei In-Between zuvor) mitunter eine gewisse Kollisionsgefahr in der Luft liegt. Ein paar akrobatische Einlagen runden das kurzweilige Stück ab, das aufgrund seiner Energie und einer gehörigen Prise Exotik das Publikum nach dem letzten Ton aus den Sitzen reißt. Ein Schlusspunkt, der mehr nach Aufbruch denn nach wehmütigem Abschied aussieht.
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Produktionsteam
Bühne und Licht
Kostüme
Dramaturgie
Not me, but me
Choreographie Tänzerinnen und Tänzer
Ouvertüre (sechs Paare)
Pas de deux LARA
Pas de Trois
Pas de deux EVA
Finale (sechs Paare) Your attention, please
Choreographie Tänzerinnen und TänzerAnna Maria PapaiakovouYuki Kishimoto Sena Shirae Julia Schalitz Enrico Vanroose In-Between
Choreographie Tänzerinnen und Tänzer
Damen
Herren Last taiko
Choreographie Tänzerinnen und Tänzer
Pas de deux
Damen
Herren
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