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Und wenn Wozzeck doch kein Mörder wäre?
Von Stefan Schmöe
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Fotos von Matthias Jung Wozzeck, Marie und das gemeinsame Kind sitzen vor der Glotze. Das ist, so sieht es die Regie, das Freizeitverhalten der armen Leut' im 21. Jahrhundert. Dieses Bild steht am Anfang und am Ende des Abends. Was dazwischen passiert, folgt nur grob einem linearen Erzählmuster und hinterlässt viel mehr den Eindruck einer großen Collage. Regisseur Martin G. Berger versetzt die Oper in die Gegenwart, möchte aber gleichzeitig das soziale Gefälle des Originals (und damit von Georg Büchners Dramenfragment Woyzeck von 1836/37) in etwa beibehalten. Was bedeutet, dass Wozzeck und Marie am unteren Ende der sozialen Skala stehen. Die erste Szene zeigt, wie Wozzeck als Reinigungskraft beim Hauptmann den Boden schrubbt, und beim Doktor ist er vermutlich Testperson für dessen neuentwickelte Medikamente. Das bewegt sich relativ nahe am Libretto. Maries Zugehörigkeit zur untersten Klasse wird durch Kleidung und Aussehen festgelegt (Trainingsanzug, leichte Spuren der Verwahrlosung) und das zeigt, wie gefährlich nahe sich die Inszenierung an Klischees entlang bewegt, aber irgendwie immer noch die Kurve kriegt. Wieder einmal bewahrt Wozzeck Marie vor dem Suizid.
Diese Marie ist hochgradig suizidgefährdet. Wenn sie sich vergeblich mit Messer, Schlinge und Tabletten das Leben nehmen will, dann droht das unfreiwillig in den schwarzen Humor abzudriften. Der fesche Tambourmajor, dessen Avancen sie bei Büchner und Berg nachgibt, der existiert hier gar nicht real. Marie sieht ihn zuerst im Fernsehen (und die Bilder verleiten sie zur Selbstbefriedigung). Aber dieser Tambourmajor besitzt weitaus mehr Potenzial über die erotische Ebene hinaus. Er erscheint dem Publikum immer wieder auf einer Leinwand als stark geschminkter Clown, eine Variante des "Joker" aus dem Batman-Universum, der - wenn er singen muss - quasi aus der Leinwand heraustritt. Rodrigo Porras Garulo verleiht ihm auch vokal gefährliche Schärfe. Meistens aber zeigt diese (Alb-)Traumfigur ihre Präsenz in den Videosequenzen, die Tabea Rothfuchs mit schonungslosen Großaufnahmen des Gesichts gestaltet hat, bedrohlich und oft auch unappetitlich, aber eben dadurch von unheimlicher Macht. Er sei "Inbegriff des Phallischen, Patriarchalen, Sexuellen, Eitlen", schreibt Berger im Programmheft, ein "Symbol der leichten Verführung, des unausweichlichen Todes". Der Regisseur sieht in Maries Affäre mit dem Tambourmajor letztendlich einen Suizidversuch, was in der Logik des Dramas einige Plausibilität besitzt. Fragwürdig - und ein wenig plakativ - ist dagegen der Ansatz, in dieser Figur für Marie "die Projektion des kapitalistischen Heilsversprechens" zu erkennen. Wie auch immer: Die Regie wertet Marie zur beinahe gleichberechtigten Hauptfigur neben Wozzeck auf. Deirdre Angenent singt sie mit warmem Sopran und schöner Linienführung eher lyrisch als dramatisch und gibt ihr einiges von der Würde zurück, die ihr auf der Szene genommen wird. Gleichwohl hat sie durch die Personenzeichnung als depressive Frau am Rande des Selbstmords gegenüber der Vorlage an Stärke eingebüßt. Das steht dann doch in einem gewissen Widerspruch zu Bergers Idee, "die Perspektive, die Wozzeck als weißer Hetero-Mann hat", zu erweitern (auch das schreibt er im Programmheft), denn dafür ist dieser Frau allzu viel an Selbstbehauptungswillen genommen. Maries Begegnung mit dem Tambourmajor entwickelt sich weniger erotisch als gewalttätig.
Man kann in dieser trostlosen Welt nur Mörder werden - oder Narr. Letzteres sind wir bekanntlich ohnehin alle, wie wir durch Shakespeare und Verdi aus dem Falstaff wissen. Auch im Wozzeck gibt es einen Narren, und die Regie fügt zwei weitere hinzu (einer davon ist eigentlich die Nachbarin Margret, deren kleine Partie hier umgedeutet wird). Sie kommentieren das Geschehen, ein wenig wie ein absurd-komisches Gegenbild zu den Hexen aus Macbeth. Die Margret-Hexe präsentiert zudem vor jedem der drei Akte ein frühes Klavierlied von Alban Berg. Bettina Ranch, am Klavier sensibel begleitet von Boris Gurevich, singt betörend schön und mit einem Gestus, der den Charakter an der Grenze von Spätromantik und Moderne sehr gut trifft - und den Dirigent Roland Kluttig in der Opernpartitur mit den guten Essener Philharmonikern aufgreift, indem er immer wieder Melodiepartikel hervorhebt und die spätromantische Tonalität betont. Musikalisch ist dieser Wozzeck ziemlich nahe bei Gustav Mahler angesiedelt. Wozzeck und Marie am Teich. Der Tambourmajor ist allgegenwärtig.
Szenisch sind die eingeschobenen Lieder erholsame Ruhepunkte im sehr intensiven, atemlosen Spiel, das Berger in einem abstrakten, von unzähligen Lampen begrenzten Raum ansiedelt (Bühne: Sarah-Katharina Karl). Vieles atmet die Luft einer Revue. Für die zweite Szene des zweiten Aktes, in der Doktor und Hauptmann aufeinandertreffen (und der Doktor eine erfundene, vernichtende Diagnose stellt), fährt ein Kasperle-Theater vom Bühnenhimmel herunter, und Doktor und Hauptmann spielen die Szene wie Marionetten, die von den Narren gelenkt werden. Das unterstreicht das absurde Moment der Szene. Wozzeck sitzt davor und amüsiert sich - bis sich die Rollen umkehren, Doktor und Hauptmann (Sebastian Pilgrim und Torsten Hoffmann gelingen starke Charakterzeichnungen) heraustreten und Wozzeck unversehens zur Marionette wird. Nicht nur hier ist jeglicher Realismus aufgehoben. Bergers gedankliche Ansätze sind sicher nicht immer überzeugend, aber seine Regie bietet großes Theater in starken Bildern. Angesichts mancher Winkelzüge der Regie ist es wohl die richtige Entscheidung, das Wozzeck zum Narren wird.
Mörder oder Narr? Die Regie lässt Wozzeck die Wahl, und anstatt Marie am Teich zu erstechen, zerstört er die Leinwand mit den Projektionen des Tambourmajors. Heiko Trinsinger singt und spielt ihn eindrucksvoll, bleibt allerdings insgesamt allzu neutral und sachlich. Diese Wendung der Geschichte verkehrt bewusst die Grundkonstellation des Dramas und führt dann doch zu einigen Irritationen, denn Berg hat nun einmal Maries Tod und auch den folgenden Tod Wozzecks sehr expressiv auskomponiert. Berger inszeniert aber auch nicht direkt gegen die Musik, und so bleibt der Schluss des dritten Aktes nicht nur ziemlich widersprüchlich (warum ersticht er Marie später doch noch? Warum zeigen Kinder seinem Sohn Bilder der toten Mutter auf dem Smartphone, während sie doch ein paar Meter weiter auf dem Sofa sitzt?) Das mag noch einkalkuliert sein; aber die Beziehung zwischen Szene und Musik, die über weite Teile überzeugt, verliert sich hier in Beliebigkeit. Einhelligen Jubel für alle Beteiligten gab's trotzdem.
Über viele Ideen in der Inszenierung Martin G. Bergers lässt sich streiten, aber sie gibt dem Stück große Bilder, deren Wirkung man sich nicht entziehen kann. Und weil die musikalische Umsetzung gut gelingt, ist es vielleicht kein rundum schlüssiger, aber doch ein eindrucksvoller Wozzeck. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Video
Licht
Chor
Kinderchor
Dramaturgie
Solisten* Besetztung der Premiere
Wozzeck
Tambourmajor
Andres
Hauptmann
Doktor
1. Handwerksbursch
2. Handwerksbursch
Margret / Narr / Sopran
Weitere Narren
Marie
Soldat
Kind
Personen im Video
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