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Destruktive Kraft der Religionen Von Thomas Molke / Fotos: © Monika Rittershaus Fromental Halévys La Juive zählt zu den bedeutendsten Werken der Grand opéra. Obwohl konservative Kreise sich über das Sujet und die negative Darstellung der katholischen Kirche empörten und dem republikanischen Publikum die Religionskritik nicht weit genug ging, konnte das Stück nach der Uraufführung am 23. Februar 1835 einen so großen Erfolg verbuchen, dass es allein an der Pariser Oper die nächsten 60 Jahre über 500 Mal gespielt wurde. Die große Arie des Juden Éléazar am Ende des vierten Aktes, "Rachel, quand du seigneur" entwickelte sich zu einem Highlight, das zum Standardrepertoire namhafter Tenöre gehört. Erst mit dem Erstarken der Nationalsozialisten verschwand das Werk zu Beginn der 1930er Jahre von den Spielplänen und wurde auch nach Ende des Krieges in Deutschland zunächst nur selten aufgeführt. Ein Grund mag gewesen sein, dass das Werk mit Blick auf den Charakter des Juden Éléazar nicht unproblematisch ist. Vielleicht traute man sich nach den Gräueltaten der Nationalsozialisten nicht, ein derartiges Bild eines Juden auf der Bühne zu präsentieren. Erst der Tenor Neil Shicoff setzte sich in den 1990er Jahren für das Werk ein, verkörperte in zahlreichen Produktionen die Partie des Éléazar und sorgte so dafür, dass die Oper wieder an Popularität gewann. Rachel (Ambur Braid) und Éléazar (John Osborn) Das Stück spielt zur Zeit des Konzils von Konstanz um 1414. Die zusammengekommene Menge fühlt sich von Éléazar provoziert, weil er an einem Sonntag in seiner Goldschmiede arbeitet. Das Eingreifen des Kardinals de Brogni verhindert, dass Éléazar verhaftet wird. Dennoch betrachtet Éléazar den Kardinal als seinen größten Feind, da dieser einst in Rom dafür verantwortlich war, dass Éléazars Söhne hingerichtet wurden und er selbst in die Verbannung gehen musste. Als de Brogni bei den folgenden Unruhen in einem Brand seine Familie verlor, konnte Éléazar die kleine Tochter de Brognis retten und zog sie unter dem Namen Rachel wie ein eigenes Kind auf. Rachel verliebt sich nun als junge Frau in den Reichsfürsten Léopold, der sich zunächst als Jude ausgibt. Als er Rachel gesteht, dass er Christ ist, will sie mit ihm fliehen, wird aber von Éléazar überrascht. Dieser ist bereit, die Verbindung zu akzeptieren, wenn Léopold zum jüdischen Glauben konvertiert und Rachel heiratet. Das geht allerdings nicht, da Léopold bereits mit der Nichte des Kaisers, Prinzessin Eudoxie, verheiratet ist. Daraufhin klagt Rachel ihn öffentlich an, und Léopold, Rachel und Éléazar droht die Todesstrafe. Eudoxie fleht Rachel an, ihre Aussage zurückzuziehen. Éléazar überlegt, ob er Rachels wahre Identität preisgeben soll, um sie vor der Hinrichtung zu bewahren oder ob sein Hass auf de Brogni größer ist. Rachel widerruft ihre Anschuldigung gegenüber Léopold, um den Geliebten zu retten, ist aber selbst nicht bereit, zum christlichen Glauben zu konvertieren, um der Todesstrafe zu entgehen. Nach ihrem Tod verrät Éléazar de Brogni, dass er soeben seine eigene Tochter hat hinrichten lassen. Eudoxie (Monika Buczkowska) versucht, ihren Gatten Léopold (Gerard Schneider) zurückzugewinnen. Das Regie-Team um Tatjana Gürbaca verortet die Geschichte nicht in einer bestimmten Zeit, um die Allgemeingültigkeit und Aktualität der destruktiven Kraft zu betonen, die durch das starre Festhalten an Religionen bis heute zu zahlreichen blutigen Konflikten geführt hat. Das Bühnenbild von Klaus Grünberg ruft mit dem schief nach hinten ansteigenden Turm, der den Raum beherrscht, eine Assoziation zum alttestamentarischen Turmbau zu Babel hervor. So wie die Menschen im Alten Testament mit dem Turm versuchten, sich Gott zu nähern und dabei scheiterten, ist auch die Suche in der Oper nach der göttlichen Gnade den Figuren verwehrt. Der Turm führt oben in ein offenes schwarzes Loch, das keinerlei Hoffnung zulässt. So sterben nicht nur Rachel und Éléazar aus störrischer Überzeugung den Märtyrertod, sondern auch für die Christen kann es keine Erlösung geben. Kardinal de Brogni muss mit ansehen, wie er sein lange für tot geglaubtes Kind im Moment des Wiederfindens erneut verliert, und auch Léopold wird wohl kaum wieder glücklich mit Eudoxie leben können. Die Wände des Turms sind offen gehalten, so dass die Bühne keine Rückzugsmöglichkeit bietet und jeder irgendwann von den anderen beobachtet wird. Auf der rechten Seite im vorderen Bereich sieht man einen Scheiterhaufen, aus dem zu Beginn ein Pflock herausgezogen wird, was andeutet, dass die letzte Hinrichtung noch nicht lange vorbei ist. Rachel (Ambur Braid) klagt Léopold (Gerard Schneider) an (im Hintergrund: Chor und Extra-Chor). Die Kostüme von Silke Willrett umspannen einen großen Zeitraum. Während Éléazar zunächst in einem recht unscheinbaren grauen Anzug auftritt und Rachel eine moderne dunkelgrüne Bluse mit einem weiten hellen Rock trägt, wirkt die christliche Masse zu Beginn in einfach gehaltenen Kostümen nahezu unscheinbar, versucht aber mit einem aufgezeichneten Judenstern Éléazar und seine Tochter auszugrenzen. Der Bürgermeister Ruggiero hebt sich in einem opulenten, historisierenden Kostüm von der Masse ab. Eudoxie verwandelt sich von einer mittelalterlich anmutenden Prinzessin in sattem Blau zu einer Femme fatale in modernem Hosenanzug, um dann in langem Morgenmantel in Zartrosa Léopolds liebende Ehefrau zu spielen, die ihn mit den gemeinsamen Kindern an seine ehelichen Pflichten erinnert. Dabei schreckt sie auch nicht davor zurück, Rachels Kleidung anzulegen, um seine Gefühle für sie erneut zu entfachen, und Rachel in rotem Fellmantel mit anrüchiger Kleidung darunter als Freudenmädchen zu degradieren. Auch Éléazar wird bei seiner Verhaftung in eine Art Harlekin-Kostüm gezwängt und mit einem hochragenden Papierhut lächerlich gemacht. Zur Hinrichtung hat sich dann das Volk in eine bedrohlich maskierte Masse verwandelt. Scharfrichter treten mit schwarzen kegelförmigen Hüten auf. Fester Bestandteil der Grand opéra im 19. Jahrhundert war immer ein obligatorisches Ballett, das bei modernen Aufführungen häufig weggelassen wird, da es nicht zur Handlung beiträgt. In Frankfurt bringt man allerdings die Ballettmusik und spielt dazu ein Video von Nadja Krüger ein, das Léopold fast wie eine Karikatur auf seinem erfolgreichen Feldzug gegen die "Ungläubigen" zeigt. Ein besonders witziger Einfall dabei ist, die Darbietung mit der Bezeichnung "Constantia Film presents" als direkt doppelte Anspielung zu beginnen. Beeindruckend gelingt es, in dem an sich in Schwarzweiß gehaltenen Film Rachel farbig in dem roten Mantel mit Teufelshörnern auftreten zu lassen, um wie in Propagandafilmen zu unterstreichen, wie sie Léopold als Werkzeug des Teufels zu verführen versucht. Im Video widersteht er allerdings der Versuchung und tötet Rachel mit einem Schwert. Die Darstellerinnen und Darsteller überzeugen nicht nur im Film mit ausdrucksstarker Mimik und Gestik, sondern setzen auch auf der Bühne die ausgefeilte Personenregie von Gürbaca gekonnt um. Dabei werfen einige Massenszenen, die von Gürbaca sehr detailliert inszeniert werden, allerdings Fragen auf. So bleibt beispielsweise unklar, wieso beim Pessachfest im zweiten Akt während des Gebets Éléazars sich die Jüdinnen und Juden wie Tote auf den Boden legen. Natürlich kann das als Anspielung auf das Leid des Volkes verstanden werden, trotz der Gebete nicht erhört zu werden. In der Szene wirkt es allerdings befremdlich. Irritierend ist auch, dass die Figuren bei der Verhaftung Rachels, Léopolds und Éléazars ausgelassen zu tanzen beginnen, was der Szene ein wenig die Tragik nimmt. Sieht man von diesen Momenten ab, geht die Inszenierung allerdings unter die Haut, vor allem am Schluss, wenn Rachel aus dem Schnürboden herabstürzt und Éléazar dem Kardinal schließlich offenbart, dass es sich bei ihr um de Brognis tot geglaubte Tochter gehandelt habe. Eudoxie (Monika Buczkowska, rechts) fleht Rachel (Ambur Braid) an, Léopold zu verschonen. Auch musikalisch lässt der Abend keine Wünsche offen und begeistert auf ganzer Linie. Da ist zunächst das packende Dirigat von Henrik Nánási zu nennen, der mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester die unterschiedlichen Stimmungen der Partitur differenziert auslotet und damit zutiefst bewegt. Die Massenszenen des Volkes schaffen mit scharfem Klang eine bedrohliche Atmosphäre, die von dem überzeugend agierenden Chor und Extra-Chor der Oper Frankfurt unter der Leitung von Tilman Michael wunderbar herausgearbeitet wird. Für die Titelpartie kehrt Ambur Braid nach Frankfurt zurück und begeistert mit leuchtendem Sopran, der sich zu großer Dramatik steigern kann, und klaren Höhen, die die Reinheit der Figur hervorheben. Bewegend zeichnet sie den Leidensweg der Titelfigur, zeigt sich kompromisslos, wenn sie den Geliebten vor aller Augen anklagt und später nach der Verhaftung das Angebot ihres Vaters ausschlägt, gerettet zu werden. Ihr entschlossener Gang in den Tod geht in Braids Interpretation unter die Haut, zumal sie einen Moment der Nähe zu ihrem "wahren" Vater de Brogni sucht. Hier hat man den Eindruck, dass in Gürbacas Lesart Rachel vielleicht eine Idee hat, dass sie in Wahrheit eine Christin ist, sich aber dennoch nicht zu dieser Religion bekennen möchte. Kardinal de Brogni (Simon Lim, links) will von Éléazar (John Osborn, rechts) wissen, ob seine Tochter noch lebt. John Osborn meistert die anspruchsvolle Partie des Juden Éléazar mit höhensicherem und strahlendem Tenor und unterstreicht darstellerisch den ambivalenten Charakter der Figur. Die große Arie zum Ende des vierten Aktes avanciert zu einem musikalischen Glanzpunkt des Abends, aber auch das Duett mit Simon Lim als Kardinal de Brogni geht unter die Haut. Lim stattet den Kardinal mit profundem Bass aus, der einerseits Milde walten lassen möchte, dem andererseits aber die Kraft fehlt, das Volk in seine Schranken zu weisen. Wenn er am Ende gebrochen erkennt, dass er seine Tochter endgültig verloren hat, empfindet man Mitleid mit ihm. Im Gegensatz zu Éléazar muss er allerdings nun mit seiner Schuld weiterleben. Gerard Schneider punktet in der Partie des Léopold mit einem hellen und ebenfalls sehr kräftigen Tenor, der in den Höhen die Bögen sehr weich und lyrisch fließen lässt. Monika Buczkowska begeistert als Prinzessin Eudoxie mit beweglichen Koloraturen und strahlenden Höhen und belegt darstellerisch, dass sie ihrem Gatten Léopold in jeder Beziehung überlegen ist und genau weiß, wie sie ihn manipulieren kann. Wesentlich verletzlicher zeigt sie sich Rachel gegenüber. Ein weiterer musikalischer Glanzpunkt ist ihre große Szene mit Braid im vierten Akt, wenn sie die Rivalin inständig bittet, Léopold zu verschonen. Hier finden die beiden Frauenstimmen zu einer bewegenden Innigkeit, die unterstreicht, dass sie vielleicht hätten Freundinnen werden können, wenn nicht Léopold und die Religion zwischen ihnen stünden. Sebastian Geyer gibt den Bürgermeister Ruggiero mit autoritärem Bariton kompromisslos und absolut hartherzig. Danylo Matviienko rundet das Ensemble als Albert mit kräftigem Bariton hervorragend ab, so dass es für alle Beteiligte verdienten Jubel gibt.
Tatjana Gürbacas unterstreicht mit ihrer Inszenierung, wie hochaktuell und
brisant diese Oper ist, und findet mit einem hochkarätigen Ensemble einen
packenden Zugang zu dem Werk.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung Inszenierung Bühnenbild, Licht, Animation Bühnenbildmitarbeit
Kostüme
Kostümmitarbeit
Video
Chor, Extra-Chor Dramaturgie
Frankfurter Opern- und Chor und Extra-Chor Statisterie und Kinderstatisterie Solistinnen und Solisten
Rachel
Éléazar
Léopold
Eudoxie
Kardinal Brogni
Ruggiero
Albert
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