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Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg

Romantische Oper in drei Aufzügen
Text und Musik von Richard Wagner
Wiener Fassung von 1875


In deutscher Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 4h 20' (zwei Pausen)

Premiere am 28. April 2024 in der Oper Frankfurt

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Oper Frankfurt
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Breaking News: Erfolgsschriftsteller outet sich als homosexuell

Von Stefan Schmöe / Fotos von Barbara Aumüller

In Frankfurt wird an diesem Premierenabend das Hohelied der Universität gesungen. Die heil'ge Halle, die ist hier nämlich der akademische Hörsaal. Regisseur Matthew Wild macht aus der Wartburg kurzerhand eine kalifornische Universität der frühen 1960er-Jahre - verknöcherte Professoren, wohin das Auge schaut. Mit einer Ausnahme: Dozent für europäische Literatur ist der blendend aussehende Heinrich von Ofterdingen, wie der Tannhäuser hier heißt. In der Quellenforschung ist mitunter der - historisch nicht verbürgte - Minnesänger Heinrich von Ofterdingen mit dem Tannhäuser gleichgesetzt worden. Der hier agierende von Ofterdingen ist, das erfahren wir zur bildreich unterlegten Ouvertüre, vor den Nazis nach Kalifornien emigriert wie weiland Thomas Mann, hat sich zum Star der amerikanischen Schriftstellerszene gemausert und für seine Novelle "Montsalvat" den Pulitzer-Preis erhalten. (Montsalvat? Da war doch was. Von dort wird eine Wagner-Oper später, aus fernem Land unnahbar uns'ren Schritten, der Lohengrin erscheinen.) Nur ist dieser von Ofterdingen irgendwann ganz plötzlich abgetaucht. In den Venusberg, wie das kundige Wagner-Publikum weiß, was hier aber bedeutet: Er ist sich in einer Schaffenskrise seiner Homosexualität bewusst geworden. Kaum an die Hochschule, blöderweise eine katholische Institution mit strengem Moralkatalog, zurückgekehrt, macht er das im Rahmen eines "Sängerkrieges" (hier eine Art "poetry slam" der Dozenten) auch noch öffentlich bekannt. Skandal! Studentinnen, die eben noch mit verliebt-verklärtem Blick um Autogramme gebettelt haben, zerreißen entsetzt Ofterdingens Buch.

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Befindet sich in einer Schaffenskrise: Schriftsteller Tannhäuser, der hier "Heinrich von Ofterdingen" heißt

Wild stellt diese Zusammenhänge ausführlich in der eigenwilligen Inhaltsangabe im Programmheft dar. Auch erzählt er seine Geschichte immer wieder mit Hilfe von Zeitungsschlagzeilen, die per Video eingeblendet werden. Man muss wahrlich nicht fürchten, die Umdeutung misszuverstehen. Die Inszenierung orientiert sich dabei grob an dem Roman A Single Man des britischen Schriftstellers Christopher Isherwood (auf dessen Berlin Stories das Musical Cabaret basiert). Auch der offen homosexuelle Isherwood emigrierte nach Kalifornien. Wild legt ein vielschichtiges Netz aus Anspielungen und Querbeziehungen aus, wobei die Regie dabei mitunter ein wenig streberhaft bildungsbeflissen auftritt, was im hier geschilderten akademischen Milieu postwendend mit sanfter Ironie aufgefangen wird. Und auch wenn man an sich einen gewissen Überdruss an allzu oft gesehenen Regiekonzepten der Art "ich-verlege-die-Geschichte-in-die-spießigen-1960er-Jahre" verspürt, kann man hier konstatieren: Im Großen und Ganzen geht die flott und genau erzählte Story auf und wirkt recht plausibel. Nicht zuletzt weil die originale Handlung des Tannhäuser mit ihrer frömmelnden Liebesaskese ohnehin schwer verdaulich ist, lotet Wilds Überschreibung den Konflikt ziemlich überzeugend aus. Es ist nachvollziehbar, warum Tannhäuser-Ofterdingen in diesem geistigen Umfeld keine Gnade findet und in den Selbstmord getrieben wird. Elisabeth dagegen überlebt: Sie editiert den Nachlass Tannhäusers und wird Jahre später als Professorin und Verfechterin der sexuellen Emanzipation gefeiert. So bekommt die Oper tatsächlich den utopischen Schluss, an den man normalerwiese nie glauben mag. Vom Frankfurter Premierenpublikum gab es für diese Sichtweise beinahe einhelligen Beifall.

Vergrößerung in neuem Fenster Sängerkrieg auf Wartburg als akademischer Literaturwettstreit: Hier doziert Professor Wolfram von Eschenbach

Gespielt wird weitgehend die "Wiener Fassung" von 1875, die auf Wagners Umarbeitungen für die Pariser Fassung von 1861 zurückgeht - mit dem Venusberg-Bacchanal (weil die Pariser Oper ein Ballett forderte) und einer Aufwertung der Figur der Liebesgöttin Venus. Die kennt ganz offensichtlich Wagners zwischenzeitlich komponierte Oper Tristan und Isolde. Solche Stilbrüche halten so manchen Dirigenten von der "Pariser" oder "Wiener" Fassung ab; innerhalb dieses Regiekonzepts gewinnen sie durchaus eine dramaturgische Funktion, weil sie den Bruch zwischen der vermeintlich so heilen Campus-Welt und der unterdrückten Homoerotik spiegeln. Dirigent Thomas Guggeis, der überwiegend flotte Tempi bevorzugt und die Musik lustvoll dramatisch zuspitzen kann, dirigiert das Bacchanal als tolldreiste Höllenmusik, zu der Satyrn und Faune Tannhäuser-Ofterdingens tristes Hotelzimmer bevölkern. Und nackte junge Männer. Venus ist hier nicht die Verführerin, sondern eine allegorische Figur, glatzköpfig und gespenstisch, eine Türhüterin zu den unterdrückten Gefühlen (Dschamilah Kaiser singt sie mit nicht allzu großem, aber dramatisch feurigem Sopran). Schließlich erscheint als Schlüsselfigur ein junger Mann im eng anliegenden gestreiften Shirt, der später beim akademischen Sängerwettstreit im Hörsaal in der ersten Reihe sitzt und Tannhäuser-Ofterdingen unversehens zum öffentlichen Coming Out verleitet. Ein Kuss unter Männern, keineswegs im Einvernehmen: Schuldig wird Tannhäuser nicht zuletzt durch seine Übergriffigkeit.

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Der junge Student im gestreiften Shirt löst unabsichtlich den Skandal aus: Tannhäuser (vorne mit dem Rücken zum Publikum) wird ihn unversehens und ungefragt küssen und damit seine Homosexualität öffentlich machen.

Marco Jentzsch, der über einen für die Titelpartie allzu hellen und leichten Tenor verfügt (und sich im Rahmen seiner stimmlichen Möglichkeiten sehr achtbar schlägt), verkörpert den smarten Intellektuellen glaubwürdig, und dass man im ohnehin sehr lauten Tumult-Finale des zweiten Aufzugs wenig von ihm hört, fällt nicht sehr ins Gewicht. Von größerem vokalen Wagnerformat ist die Elisabeth von Christina Nilsson, die ihre Hallenarie mit jugendlichem Überschwung schmettert und im dritten Aufzug eher kindlich naiv als todessehnsüchtig singt - aber sie denkt ja auch weniger an Suizid als an ihre bevorstehende akademische Karriere. Domen Križaj gibt einen sehr soliden Wolfram von Eschenbach mit schöner tiefer Lage und einem ganz leichten Bruch zu den höheren Registern. Andreas Bauer Kanabas singt einen sonoren, volltönenden Landgrafen, der hier natürlich als Dekan fungiert. Magnus Dietrich ist ein smarter Walther von der Vogelweide, Karolina Bengtsson eine hochmusikalische und stimmschöne Reinigungsfachkraft (bei Wagner: Ein junger Hirt).

Vergrößerung in neuem Fenster Elisabeth im dritten Akt, über ihre Zukunft sinnierend

Und wo bleiben die vielen, vielen Pilger aus dem Original? Einmal sieht man albtraumhaft eine Gruppe von Kardinälen, die einen Faun abschlachten. Hier hilft das Programmheft: Es handelt sich offenbar um eine Anspielung auf das II. Vatikanische Konzil (1962 - 65), das eine sanfte, für die Homosexuellenbewegung natürlich keinesfalls ausreichende Liberalisierung der katholischen Kirche beschloss. Ansonsten bleiben die Pilger ein abstraktes, ambivalentes Symbol, je nach Sichtweise für Hoffnung oder Verdammnis. Wolfram hält meist einen Plattenspieler parat, auf dem man eine Schallplatte mit Pilgerchören abspielen kann - die dann (mit unsichtbarem Chor) live erklingen, manchmal über Lautsprecher im ganzen Haus im Surround-Klang eingespielt. Der Kirche und ihrer Moral ist eben nicht zu entkommen. Chor und Extrachor singen dabei ausgesprochen schön, und das Opern- und Museumsorchester begleitet delikat. Die "Romerzählung" wird in diesem Kontext, der sie inhaltlich überflüssig macht, zum literarischen Experiment umgedeutet - Tannhäuser schreibt seine musikalisch geäußerten Gedanken sofort auf. Und diese Literatur ist es, die am Ende der Oper von Tannhäuser-Ofterdingen bestehen bleibt. Der Schlusschor liefert die musikalische Rehabilitation.


FAZIT

Tannhäuser als homosexueller Künstler mit skandalträchtigem Coming-Out in den miefigen 1960er-Jahren - mit diesem Regiekonzept erklärt Matthew Wild den Tannhäuser spannend und ziemlich schlüssig, getragen von einer guten musikalischen Umsetzung.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Thomas Guggeis

Regie
Matthew Wild

Bühne
Herbert Barz-Murauer

Kostüme
Raphaela Rose

Licht
Jan Hartmann

Choreografie
Louisa Talbot

Video
Clemens Walter

Chor
Tilman Michael

Dramaturgie
Maximilian Enderle



Statisterie der Oper Frankfurt

Chor und Extra-Chor
der Oper Frankfurt

Frankfurter Opern-
und Museumsorchester


Solisten

Tannhäuser
Marco Jentzsch

Elisabeth
Christina Nilsson

Venus
Dshamilja Kaiser

Wolfram von Eschenbach
Domen Križaj

Hermann, Landgraf von Thüringen
Andreas Bauer Kanabas

Walther von der Vogelweide
Magnus Dietrich

Biterolf
Erik van Heyningen

Heinrich der Schreiber
Michael Porter

Reinmar von Zweter
Magnús Baldvinsson

Ein junger Hirt
Karolina Bengtsson

Vier Edelknaben
Marta Casas
Chloe Robbins
Emma Stannard
Elena Tasevska

Tänzer
Luciano Baptiste
Tommaso Bertasi
Ken Bridgen
Andrii Punko
Thomas Riess
Maximilian Kutzner

Ein junger Student
Henri Klein

Botticellis Venus / Elisabeth Double
Annabelle Krukow



Weitere Informationen
erhalten Sie von der
Oper Frankfurt
(Homepage)







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