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Variationen der
Steigerung Von Thomas Molke / Fotos:© Zorán VargaObwohl Maurice Ravel seinen 1928 als Ballettmusik komponierten Boléro als "ein Experiment in einer ganz außergewöhnlichen und begrenzten Richtung" bezeichnet hat, der "ausschließlich aus Struktur, ohne eine Seele, besteht", hat sich das Werk nicht zuletzt durch das Solo der Tänzerin Ida Rubinstein in einer Choreographie ihrer Kollegin Bronislava Nijinska zu einem Meilenstein der klassischen Erotik entwickelt, die beispielsweise den Regisseur Blake Edwards 1979 zu dem Film 10 inspirierte, der in Deutschland unter dem Titel Zehn - Die Traumfrau lief. Darin trifft der Komponist George Webber (Dudley Moore) in einer Midlife Crisis auf Jenny (die damalige Sex-Ikone Bo Derek), die beim Liebesspiel nur richtig in Fahrt kommen kann, wenn dabei Ravels Boléro läuft. Nach einer kurzen und ernüchternden Liaison findet er zurück zu seiner Verlobten Samantha Taylor (Julie Andrews) und verführt sie in der Schlussszene ebenfalls zu den Klängen von Ravels Werk. Diese erotische Komponente interessiert die MiR Dance Company Gelsenkirchen in dem neuen Tanz-Doppelabend allerdings nicht. Stattdessen hat Giuseppe Spota Fernando Melo und Sita Ostheimer eingeladen, in zwei Choreographien dem simplen Prinzip der langsam wachsenden Steigerung nachzuspüren, die Ravels Werk auszeichnet. Die Tänzer (Dex van ter Mej, links, und Joonatan Zaban, rechts) wecken die Tänzerin (Tanit Cobas). Der Abend beginnt mit Melos Shadow Waltz, das zumindest musikalisch gar nichts mit Ravels Boléro zu tun hat. Stattdessen wählt er Musik von Qasim Naqvi, Stars of the Lid und anderen. Dabei entsteht ein durchgängiger Klangteppich, so dass gar nicht erkennbar ist, dass unterschiedliche Musikstücke zusammengesetzt werden. Wenn man den Saal betritt, vernimmt man bereits ein unterschwelliges Brummen. Auf der Bühne schläft eine schwarz gekleidete Frau (Tanit Cobas). Sie sitzt auf einem Stuhl, und ihr Kopf liegt auf einem Tisch. Dahinter sieht man fünf Holzwände, die sich wie die Frau auf einer Scheibe befinden, deren innerer Kreis gedreht werden kann. Wenn das Licht im Saal verlischt, wird das Brummen ein wenig lauter. Auf der rechten und linken Seite verschieben drei Tänzer in schwarzen Anzügen wie von Geisterhand die beiden äußeren Wände und gehen auf die Frau zu. In geschmeidigen Bewegungen wecken sie sie aus ihrem Schlaf, wobei die Tänzerin zunächst absolut passiv und fremdgesteuert wirkt. Mit ihren Köpfen übertragen die Tänzer gewissermaßen ihre Gedanken und steuern ihre Bewegungen. Das ist zunächst alles noch sehr ruhig und langsam, gewinnt im weiteren Verlauf aber immer mehr an Dynamik. Die Tänzerin (Tanit Cobas, links) und ihr Alter Ego (Kira Metzler, rechts) Die einzelnen Wände scheinen dabei ein Eigenleben zu führen. Sie schweben gewissermaßen über die Bühne, kippen mal nach vorne, dann nach hinten, kreisen die Tänzerin ein und bieten einen Blick auf eine "andere Seite". Dort befindet sich Kira Metzler in einem ähnlich dunklen Kostüm wie Tanit Cobas quasi als Alter Ego der Tänzerin. Die beiden führen auf den unterschiedlichen Seiten der Wände die gleichen Bewegungen aus, während nun Metzler von den drei Tänzern gesteuert wird und sich dies auf Cobas überträgt. Das sieht alles im Bewegungsablauf sehr beeindruckend aus. Wie beim Boléro entsteht auch hier ein trancehafter Zustand, in dem sich die drei Tänzer und Tänzerinnen bewegen. Mit welcher Präzision die drei Tänzer dabei die Wände einsetzen, ist technisch erstaunlich. Man kann sich teilweise gar nicht vorstellen, dass die Wände nicht umkippen, sondern jeweils fest im Boden verankert werden. Da sitzt jeder Handgriff. Am Schluss des Stückes werden dann, während Cobas sich heftig auf der Bühne bewegt, die Wände von der Bühne getragen. Cobas bricht zusammen, und die letzte Wand kippt um. Dieser abrupte Schluss erinnert inhaltlich an das Ende von Ravels Boléro. Fragen wirft lediglich der Titel auf. "Shadow" erklärt sich vielleicht noch durch die Schattenspiele auf den Wänden oder die Dopplung der Tänzerin auf den beiden Seiten. Mit "Waltz" ist jedenfalls nicht der Tanz gemeint, sondern eher die Art der Bewegung. Austesten der körperlichen Grenzen: links: Chiara Rontini, rechts: Marie-Louise Hertog Nach der Pause geht es mit Sita Ostheimers Choreographie Hasard & Boléro weiter. Wie der Titel bereits verrät, ist die Kreation zweigeteilt. Den Anfang macht Hasard, ein Klavierstück des Komponisten Yehezkel Raz. Darin wählt er Themen aus Ravels Boléro aus, setzt sie einen Halbton nach unten, verlangsamt sie und spielt sie rückwärts. So ist die ursprüngliche Melodie nicht mehr erkennbar. Laut Programmheft soll der Titel auf die Selbstzweifel Ravels anspielen, der den Erfolg seines Boléro nicht für möglich gehalten hätte. Wenn das Publikum in den Saal zurückkehrt, befinden sich die vier Tänzerinnen und drei Tänzer bereits auf der Bühne wie in einer Art Probesituation. Auf der rechten und linken Bühnenseite sieht man Neonröhren, die im weiteren Verlauf des Stücks in unterschiedlichen Farben leuchten. Von den Klängen der Musik lassen sich die Tänzerinnen und Tänzer treiben, wechseln vom synchronen Duett über ein Terzett zu Soli und Gruppentanz. Dabei hat man das Gefühl, dass der Bewegungsablauf teilweise im Gegensatz zur Musik steht. Zwischendurch wird auch geklatscht, und der Tanz entwickelt sich in einen trancehaften Rausch, an dessen Ende sich drei Paare bilden und eine Tänzerin allein auf der Bühne bleibt. Tanzen im Rausch (von links: Urvil Shah, Camilla Bizzi, Hilla Regev Yagorov, Chiara Rontini und Marie-Louise Hertog) Wenn im Anschluss daran der Boléro von Ravel erklingt, wiederholen sich die Bewegungen, die beim Klavierstück noch wie Fremdkörper wirkten, und machen plötzlich Sinn. Nun passt alles zusammen. Die Tänzerinnen und Tänzer steigern sich in einen noch stärkeren Rausch hinein, den sie jetzt nicht nur mit Klatschbewegungen, sondern auch mit Schreien unterstreichen. Man hat das Gefühl, dass die Tänzerinnen und Tänzer leidenschaftlich im Tanz aufgehen. Dabei testen sie ihre Grenzen aus, folgen mit kraftvollen Bewegungen dem sich ständig steigernden Rhythmus der Musik und brechen am Ende, nachdem sich wie im Teil zuvor drei Paare gefunden haben, alle zum Schlussakkord zusammen. Das Publikum belohnt diese außergewöhnliche Kreation mit begeistertem Applaus und stehenden Ovationen. FAZIT Auch wenn Ravels titelgebender Boléro nur einen relativ kleinen Teil des Ballettabends ausmacht, ist der komplette Tanzabend aus einem Guss und ganz im Sinne von Ravels Meisterwerk.
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Produktionsteam
Ton
Dramaturgie
Shadow Waltz Choreographie, Bühne und Kostüme Licht Choreographie-Assistenz Tänzerinnen und Tänzer*rezensierte Aufführung
Tanit Cobas
Hasard & Boléro
Choreographie und Kostüme Licht Choreographie-Assistenz Tänzerinnen und Tänzer*rezensierte Aufführung
Camilla Bizzi
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