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Travestie im Karneval Von Thomas Molke / Fotos:© Karl und Monika ForsterJohann Strauß' neunte Operette Eine Nacht in Venedig nimmt eine Sonderstellung im Schaffen des "Walzerkönigs" ein, und das nicht nur weil sie bei aller Eingängigkeit und Beliebtheit zahlreicher Melodien als handlungsschwach und problematisch im Witz betrachtet wird. Anders als seine übrigen Operetten wurde sie auch nicht in Wien sondern in Berlin uraufgeführt, was allerdings persönliche Gründe hatte. Strauß' damalige Ehefrau hatte eine Affäre mit dem Direktor des Theaters an der Wien, Franz Steiner, was einerseits zur Scheidung führte und andererseits zur Folge hatte, dass Strauß das Wiener Theater nicht als Uraufführungsort akzeptieren konnte. Bei der Uraufführung in Berlin am 3. Oktober 1883 löste der Lagunenwalzer, der damals noch den Text hatte "Nachts sind die Katzen so grau, schreien dann zärtlich Miau" einen regelrechten Tumult im Publikum aus, das amüsiert ein Miau-Konzert anstimmte. So wurde der Text in "Ach wie so herrlich zu schau'n sind all die reizenden Frau'n" geändert. Zahlreiche weitere Bearbeitungen folgten, unter anderem um die Handlung zu entwirren. 1931 bearbeitete dann Erich Walter Korngold das Stück, um es einerseits dem damaligen Publikumsgeschmack näher zu bringen und andererseits mit Rückbezug auf die Wiener Walzerseligkeit einen Gegenpol zur immer erfolgreicheren Jazz-Operette zu schaffen. Auf dieser Fassung basiert die "Operettenfantasie nach Johann Strauß", die Intendant Michael Schulz nun am Musiktheater im Revier in Szene setzt und mit Musik aus anderen Opern und Operetten anreichert. Die Senator*innen Agricola Barbabaruccio (Anke Sieloff, links), Bartholomäus Delacqua (Urban Malmberg, links) und Georg Testaccio (Hagen-Goar Bornmann, Mitte) überlegen, wie sie mit dem Herzog umgehen sollen (auf dem Tresen: Benjamin Lee als Caramello, rechts: Margot Genet als Annina). Die Handlung spielt eigentlich in Venedig zur Zeit des Karnevals. Guido, der Herzog von Urbino, reist jedes Jahr um diese Zeit in die Lagunenstadt, um im Karneval schöne Frauen zu verführen. In diesem Jahr hat er es auf Barbara, die Frau des Senators Delacqua abgesehen, die ihm bereits im vergangenen Jahr aufgefallen ist. Diese will sich zwar auch beim Karneval außerehelich vergnügen, hat dazu aber ihren angeheirateten Neffen Enrico Piselli auserwählt. Delacqua, der auf den Posten eines Verwalters beim Herzog spekuliert, beschließt, dem Herzog Barbaras Zofe Ciboletta als vermeintliche Barbara zuzuführen und seine Frau durch den Gondoliere Caramello aus der Stadt zu schaffen. Caramello, der der Leibbarbier des Herzogs ist, beschließt, die Dame in der Gondel allerdings zum Herzog in den Palast zu bringen. Dabei bemerkt er zu spät, dass in der Gondel gar nicht Barbara sondern seine Geliebte Annina, eine Fischhändlerin, sitzt, die mit Barbara die Masken getauscht hat. So wird der Herzog in seinem Palast schließlich mit zwei Barbaras konfrontiert, ohne zu wissen, dass es sich bei beiden Frauen nicht um Delacquas Gattin handelt. Caramello und Cibolettas Freund, der Makkaronikoch Pappacoda, toben vor Eifersucht, während es den beiden Damen gelingt, den Herzog für ihren jeweiligen Geliebten günstig zu stimmen. Delacqua, der mittlerweile erfahren hat, dass seine Frau gar nicht die Stadt verlassen hat, ist am Ende beruhigt, dass Barbara nicht beim Herzog sondern "nur" bei seinem Neffen Enrico gewesen ist. Pappacoda (Martin Homrich, links) und Caramello (Benjamin Lee, 2. von links) müssen zusehen, wie der Herzog (Adam Temple-Smith, rechts) mit Annina (Margot Genet, rechts) und Ciboletta (Bele Kumberger, 2. von rechts) flirtet. Schulz fertigt für seine Inszenierung eine eigene Dialogfassung an, die den aus heutiger Sicht teilweise sehr frauenfeindlichen Text umgestalten und in die Gegenwart übertragen soll. Die Geschichte spielt nicht in Venedig sondern in einem "Ristorante di Venezia", was vielleicht irgendwo in Gelsenkirchen liegt. Als "Fun-Fact" läuft während der Ouvertüre über die Übertitelanlage, dass es in Gelsenkirchen sogar mehr Brücken geben solle als in der Lagunenstadt. Beata Kornatowska hat ein eindrucksvolles Bühnenbild geschaffen. Hinter einer gläsernen Fassade sieht man auf der rechten Seite eine weiße Küchenzeile, in der Pappacoda seine beliebten Makkaroni vorbereitet, und auf der rechten Seite eine Art Lounge mit Klavier und zahlreichen Flaschen im Hintergrund. Wenn die Küchenzeile zur Seite geschoben wird, wird der Blick auf eine Treppe frei, die zu mehreren Zimmern führt, die auf einer weiteren Ebene mit Polstermöbeln angedeutet werden. Auf der linken Seite befindet sich der Ort, den der Herzog für seine heimlichen Schäferstündchen im Karneval auserkoren hat. Darüber sieht man eine Hotelbar und eine Drehtür, die den Eingang ins Hotel markiert. In diesem Ambiente lässt Schulz das Ensemble in eindrucksvollen Kostümen von Renée Listerdal eine Geschichte entfachen, die stellenweise sehr klamaukig angelegt ist. Enrico (Sebastian Schiller) singt nur für Barbara (Lina Hoffmann). Aufgewertet wird die recht kleine Rolle des Enrico Piselli (Sebastian Schiller), der in Schulz' Inszenierung ein Straßenmusikant ist. Vor Beginn des Abends sitzt Schiller mit einer Gitarre vor dem Restaurant, unterhält das Publikum mit "Sex Bomb" von Tom Jones und animiert anschließend bei "I Want It That Way" von den Backstreet Boys beim berühmten Chorus "Tell Me Why" sogar zum Mitsingen. Wenn er dann zu dem Klassiker "Azzurro" von Adriano Celentano ansetzt, wird er ausgefadet, und die Ouvertüre beginnt. Caramello (Benjamin Lee) kommt natürlich nicht mit einer Gondel sondern auf einem Fahrrad, an dem schon beinahe klischeehaft ein Fuchsschwanz befestigt ist. Wieso er im Muskel-Shirt auftritt, bleibt genauso unklar wie die Tatsache, dass er sich von Piselli ein weißes Tütchen zuschieben lässt. Etwas platt wirkt auch der Gag, Pappacoda (Martin Homrich) mit sächsischem Akzent im Dialog auftreten zu lassen. Neu ist die Figur des Pianisten Giovanni Mazzo (Mateo Peñaloza Cecconi), der einen Großteil der gesprochenen Texte am Klavier begleitet und penibel darauf achtet, sein Musikinstrument zu säubern, wenn jemand es im weiteren Verlauf wieder als Treppe benutzt hat, um in die Suite des Herzogs zu gelangen. Zu Beginn des zweiten Teils fungiert er auch als Dirigent auf der Bühne, der die Statisterie anweist, die Tische für den Karneval vorzubereiten. Mehr Gewicht erhält auch die Figur der Barbara Delacqua, die von Lina Hoffmann recht verführerisch und selbstbewusst dargestellt wird. So bekommt sie zusätzlich eine relativ bekannte Nummer aus Oscar Straus' Operette Eine Frau, die weiß, was sie will: "Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?" Mit dunklem Mezzosopran macht sie auch im weiteren Verlauf deutlich, dass sie ihrem Mann, der von Urban Malmberg herrlich hilflos gespielt wird, überlegen ist. Den Senator Barbaruccio und seine Gattin Agricola führt Schulz in einer Figur zusammen. Anke Sieloff achtet in dieser Rolle dabei mit herrlichem Spielwitz darauf, dass auch stets korrekt gegendert wird. Dabei tritt sie zunächst recht streng in einer grünen Bluse - auch die Farbe ist Programm! - und einem grauen Rock auf, macht sich im zweiten Teil allerdings recht verführerisch zurecht, wenn sie selbst den Posten beim Herzog ergattern will. Überhaupt wird hier viel mit Geschlechter-Klischees gespielt. So haben am Ende die Frauen allesamt die Hosen an, während die Männer die Kleider tragen. Aber es ist ja schließlich Karneval. Der Herzog (Adam Temple-Smith) will im nächsten Jahr zum Karneval lieber nach Granada. Neben den gängigen Melodien aus Strauß' Operette fügt Schulz auch mehr oder weniger passend einige Nummern von anderen Komponisten ein. So darf Malmberg, wenn er an der Treue seiner Gattin Barbara zweifelt, die Arie des Königs Philipp II. von Spanien aus Verdis Don Carlo, "Ella giammai m'amo", anstimmen, auch wenn der Figur eigentlich die Größe für diese Tragik fehlt. Malmberg punktet aber stimmlich dabei mit kraftvollen Tiefen. Wenn die Frauen unter Leitung von Barbara beschließen, den Spieß beim Herzog umzudrehen, stimmen sie eine Arie aus Vivaldis Oratorium Juditha triumphans an, in dem Judith aus Rache den General Holofernes umbringt. Zwar töten die Frauen den Herzog nicht, sondern kleiden ihn als Frau in einem verführerischen Federkleid, was ihn am eigenen Leib spüren lassen soll, was er den zahlreichen Frauen angetan hat. Adam Temple-Smith beschließt dann auch als Herzog, im nächsten Jahr nicht nach Venedig zurückzukehren, um hier "zu fischen", sondern nach Granada zu fahren und in Spanien sein Glück zu versuchen. Dafür schmettert er gemeinsam mit dem ganzen Ensemble das berühmte Lied von Agustín Lara. Auch Mozarts Zauberflöte wird eingefügt. So werden aus Papagena und Papageno Ciboletta und Pappacoda, was mit den Silben und der Betonung genau aufgeht, die zum berühmten Duett dann plötzlich zahlreiche kleine Köche und Köchinnen auf der Bühne haben. Bele Kumberger und Martin Homrich punkten dabei mit großer Komik. So bietet der Abend rundum gelungene Unterhaltung, wenn man es ein wenig klamaukig mag. Das komplette Ensemble zeigt große Spielfreude, und auch die Neue Philharmonie Westfalen unter der Leitung von Giuliano Betta lässt keine Wünsche offen, so dass es für alle Beteiligten großen Jubel gibt, in den sich auch das Regie-Team einreiht. FAZIT Den "Puristen" unter den Operetten-Fans mag der eine oder andere Spaß auf der Bühne vielleicht zu weit gehen. Insgesamt besitzt diese Nacht in Venedig aber großes Unterhaltungspotenzial.
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ProduktionsteamMusikalische Leitung Inszenierung und Dialogfassung Bühne Kostüme Choreographie Licht Ton Dramaturgie
Neue Philharmonie Westfalen Opern- und Extrachor des MiR Statisterie des MiR
Solistinnen und Solisten*Premierenbesetzung
Guido von Urbino,
genannt "Herzog"
Annina
Caramello
Ciboletta
Pappacoda
Barbara Delacqua
Bartholomäus Delacqua
Enrico Piselli
Agricola Barbaruccio
Constantina Testaccio
Georg Testaccio
Giovanni Mazzo
L'Annunciatore
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