Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Euridice mit Selbstmordabsichten
Von Thomas Molke
/
Fotos: © Tim Mueller
Christoph Willibald Glucks Oper Orfeo ed Euridice ist nicht zuletzt
durch die legendäre Inszenierung von Pina Bausch aus dem Jahr 1975
untrennbar mit dem Tanztheater verbunden. Zwar gab es bereits bei der
Uraufführung 1762 in Wien Tanzeinlagen von Gasparo Angiolini. Erweitert um
zahlreiche Balletteinlagen wurde die Oper allerdings erst fünf Jahre später in
der französischen Fassung als Tragédie-opéra Orphée et Eurydice in Paris,
für die Pierre-Louis Moline ein komplett neues Libretto verfasste und in die
auch der berühmte Furientanz Einzug fand, den Gluck ursprünglich für sein
Ballett Don Juan im Jahr 1861 komponiert hatte. Ansonsten manifestiert die
Wiener Uraufführung vor allem Glucks Ruf als Opernreformator. Mit der
Konzentration auf nur drei Solist*innen verabschiedete er sich von den
zahlreichen Verwicklungen der klassischen Opera seria, stellte die Musik ganz in
den Dienst des gesungenen Textes und löste einen Opernstreit aus, der die
Opernanhänger in zwei Parteien, die Gluckisten und Piccinisten spaltete, von
denen Letztere weiterhin der alten Operntradition nachhingen. Von daher wundert
es schon ein wenig, dass in Hannover, wo die Premiere die diesjährigen
Oster-Tanz-Tage einleitet, auf die Urfassung zurückgegriffen wird und auch
auf den legendären Furientanz verzichtet wird. Orfeo (Nina van Essen, mit
Tänzerinnen und Tänzern und Chor im Hintergrund) beklagt den Verlust Euridices. Aber das ist nicht die einzige Überraschung, die man in der
Inszenierung von Lisaboa Houbrechts und der Choreographie von Diego Tortelli
erlebt. Houbrechts sucht nach einer Neudeutung und stellt dabei den Mythos auf
den Kopf. Sie stellt sich die Frage, was wäre, wenn Euridice sich aus freien
Stücken für den Tod entschieden hätte und gar nicht mit Orfeo zurück aus der
Unterwelt kommen möchte. Das geben zwar weder das Libretto noch der eigentliche
Mythos her, aber natürlich ist es erlaubt, darüber nachzudenken, wieso Euridice
schließlich einfordert, dass Orfeo dem Gebot nicht Folge leistet und sich auf
dem Weg aus der Unterwelt nach ihr umdreht. Zum gesungenen Text passt es am Ende
dann aber nicht, weil es schwer nachvollziehbar ist, dass Orfeo mit dem Chor in
einen Jubel über die Liebe und Amor einstimmt, wenn er seine Gattin Euridice ein
weiteres Mal verloren hat. Houbrechts verweist im Programmheft auf einen anderen
Umgang mit dem Tod, der der europäischen Vorstellung allerdings sehr fremd ist.
So lässt sie den Chor am Ende mit Kreide die Namen von Menschen auf ein Podest
schreiben, die sie wahrscheinlich irgendwann verloren haben, deren Verlust sie
allerdings akzeptiert haben. Amore (Silvia Frigato, vorne)
hat Mitleid mit Orfeo (Nina van Essen, hinten). Pina Bausch verzichtet in ihrer Lesart zwar ebenfalls auf das
lieto fine der Oper, bleibt dabei aber dem Mythos, wie er bei Ovid überliefert
ist, treu. Das ist allerdings genauso wenig Houbrechts und Tortellis Ansinnen
wie die Idee, die Charaktere durch Tänzerinnen und Tänzer zu doppeln.
Stattdessen treten die Tänzerinnen und Tänzer größtenteils im Ensemble auf.
Tortelli findet für sie eine recht abstrakte Tanzsprache in modernem
Ausdruckstanz. Bisweilen lösen sich einzelne Tänzerinnen und Tänzer aus dem
Ensemble und treten mit Orfeo in eine Form von Dialog. Während diese Szenen
größtenteils rätselhaft bleiben, wird ihr Einsatz im zweiten Akt klarer, wenn
Orfeo in die Unterwelt hinabsteigt und auf die Furien trifft, die sich bei dem
Versuch, ihn am Weitergehen zu hindern, immer wieder auf den Boden werfen. Die
Bühne von Clémence Bezat ist im Teil vor der Pause recht dunkel gehalten. Ein
Podest in der Mitte der Bühne dient Orfeo dazu, den Verlust seiner Euridice zu betrauern. Im Hintergrund stehen hohe quaderförmige Säulen, die ins
Nichts führen. Der Chor tritt hier als nicht näher definierte Masse auf und
scheint Orfeo zunächst Vorwürfe zu machen, dass er Euridice verloren hat. Im
weiteren Verlauf tritt er von den beiden Bühnenseiten auf und kommentiert das
Geschehen, wird aber auch teilweise mit einbezogen. Stimmlich überzeugt er durch
fulminanten und homogenen Klang. Euridice (Meredith Wohlgemuth)
in den Gefilden der Seligen Ein beeindruckendes Bild entsteht im dritten Akt nach der
Pause. Aus dem Schnürboden hängen an mehreren Stellen quaderförmige Gebilde
herab, die in der Form an Efeuranken erinnern. Unter diesen Ranken steht jeweils
eine Person, die von mehreren Menschen in weißen Kitteln umgeben ist. Die Ranken
senken sich auf die Person herab, bis sie die Besinnung verliert. Sollen das
Bilder des Freitods sein? Auch Euridice steht vor einer solchen Ranke. Doch
Orfeo kann zunächst verhindern, dass sie das Schicksal der anderen Personen
erleidet. Es kommt zu einer beeindruckenden Auseinandersetzung im großen Duett
zwischen Orfeo und Euridice, wobei Orfeo sie durch die Ranke festhält. Dann
tritt Amor als Ärztin auf, spricht einen deutschen Text, der nicht ins Stück
gehört, und informiert Euridice über die Wirkung einer Spritze, die sie ihr
verabreichen wird, mit dem Hinweis, dass Euridice die Entscheidung des Freitods zu jedem
Zeitpunkt rückgängig machen könne. Das will Euridice aber nicht, und so verliert Orfeo
sie ein weiteres Mal, weil sie nicht mehr leben will. Das geht unter die Haut,
so dass der Übergang zum musikalischen glücklichen Ende szenisch nicht aufgeht. Orfeo (Nina van Essen, rechts)
verliert Euridice (Meredith Wohlgemuth, links) ein weiteres Mal. Musikalisch lässt der Abend keine Wünsche offen. Nina van
Essen begeistert als Orfeo mit sattem Mezzosopran. In den Klageruf des Chors im
ersten Akt fällt sie mit leuchtenden Tönen ein, die glaubhaft die Trauer des
jungen Mannes vermitteln. Auch in der folgenden Arie glänzt sie durch warme und
runde Höhen. Da wirkt es absolut nachvollziehbar, dass Amor einschreitet, um dem
Leiden des jungen Mannes ein Ende zu bereiten. Silvia Frigato überzeugt dabei
mit vollem Sopran und intensivem Spiel. Meredith Wohlgemuth verleiht der
Euridice einen weichen Sopran, der im Duett mit van Essen im dritten Akt große
Dramatik besitzt. Hier geht Wohlgemuths und van Essens Spiel unter die Haut. Großartig gelingt im Anschluss auch van Essens
Interpretation der berühmten Arie "Che farò senza Euridice", vor allem,
wenn Euridice dabei von der Bühne gezogen wird und Orfeo gebrochen zurückbleibt.
Das Niedersächsische Staatsorchester Hannover setzt unter der Leitung von
Benjamin Bayl die tragische Geschichte mit emotional bewegenden Klangfarben um, so
dass man sich kaum auf das vermeintlich glückliche Ende einlassen möchte, zumal Euridice ja nicht wieder auftaucht, sondern Orfeo nur im Tanz der Tänzerinnen
und Tänzer Trost findet. Ein wenig störend ist bei der Ouvertüre, dass Orfeo
hier ebenfalls einen Text sprechen muss, der eingefügt ist. Darin fragt er das
Publikum, ob es bereits gelernt habe, mit dem Verlust eines Menschen umzugehen.
Das mag hochaktuell sein, beeinträchtigt jedoch ein wenig den musikalischen
Genuss. FAZIT
Es ist diskutabel, ob sich Euridices Tod in einen Suizidwunsch umdeuten lässt.
Musikalisch überzeugt der Abend auf ganzer Linie.
|
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung Choreographie Bühne Kostüme Licht Chor
Dramaturgie
Chor der Staatsoper Hannover Staatsballett Hannover Solistinnen und Solisten
Orfeo
Euridice
Amore
Tänzerinnen und Tänzer
|
© 2024 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de