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Pinkeln bis zum Untergang
Von Thomas Molke /
Fotos: © Tim Müller
Wie kommt man auf die Idee, Urinieren zum Thema eines Musicals zu machen? Autor Greg Kotis erklärte es in einem Interview folgendermaßen: Bei einer Europareise im Jahr 1995 habe er ein Budget von 300 US-Dollar gehabt, was natürlich bei Weitem nicht ausgereicht habe. Neben dem Verzehr günstiger und dabei satt machender Nahrung habe er auch die Toilettenbesuche einschränken müssen, da die Nutzung öffentlicher Toiletten ebenfalls kostenpflichtig gewesen sei. Und so sei die Idee zu Urinetown entstanden, das mit der Musik von Mark Hollmann am 1. April 2001 auf einer Off-Broadway-Bühne zur Uraufführung gelangte und knapp sechs Monate später am 20. September 2001 am Broadway herauskam. Ein Jahr später wurde es mit drei Tony Awards für die beste Originalmusik, das beste Musicallibretto und die beste Musicalregie ausgezeichnet. Am 7. Oktober 2004 kam es dann am Schlossparktheater Berlin unter dem Titel Pinkelstadt in einer deutschen Übersetzung von Ruth Deny heraus, die für die Figuren auch im Deutschen sehr sprechende Namen fand. Im Repertoire hat sich das Stück in Deutschland allerdings seitdem nicht etablieren können. Nun unternimmt das Theater für Niedersachsen einen neuen Versuch und bringt es im Stadttheater Hildesheim zur Premiere. Toilettengang nur gegen Gebühr: von links: der alte Stark (Karsten Oliver Wöllm), Jonny (Louis Dietrich), Elfriede Fennichfux (Silke Dubilier), Gretchen (Samuel Jonathan Bertz), Suse (Elisabeth Köstner), Knuth (Jack Lukas) und Klein-Erna (Lucía Bernadas Cavallini) Die Geschichte spielt in einer nicht näher definierten dystopischen Zukunft. Nach einer Dürrekatastrophe herrscht akuter Wassermangel, und die Bevölkerung ist dazu angehalten, nur noch die öffentlichen Toiletten zu benutzen, gegen Gebühr natürlich. Mit diesem Mittel hat der Industrielle Werdmehr von Mehrwerth mit der GmbHarn und Klo KG ein Imperium gegründet, das nun das Sagen in der Stadt hat. Wer gegen die geltenden Regeln verstößt und in die Büsche pinkelt oder die Gebühren für den Toilettenbesuch nicht aufbringen kann, wird nach Pinkelstadt verbannt, einen ominösen Ort, von dem bisher keiner zurückgekehrt ist und der daher von allen gefürchtet wird. Dieses Schicksal ereilt direkt zu Beginn der Geschichte den Vater von Jonny Stark. Während sich Jonny, der für die GmbHarn & Klo KG arbeitet, Vorwürfe macht, seinen Vater nicht beschützt zu haben, trifft er auf von Mehrwerths Tochter Freya, die von der Universität kommt, um in die Geschäfte ihres Vaters einzusteigen. Die beiden verlieben sich ineinander, und Freya rät ihm, auf sein Herz zu hören. Daraufhin zettelt Jonny eine Revolution an und nimmt Freya als Geisel. Um seine Tochter zu retten, will von Mehrwerth mit Jonny verhandeln. Als Jonny das ihm angebotene Schmiergeld ablehnt, wird er nach Pinkelstadt befördert und erfährt wie das Publikum, dass die Stadt kein anderer Ort ist sondern es nur bedeutet, dass man hingerichtet wird. Freya lässt sich daraufhin zum neuen Kopf der Revolution machen und bringt gemeinsam mit den Armen ihren Vater zur Strecke. Doch die ausgerufene Freiheit währt nicht lange, und alle gehen an den Folgen der daraus resultierenden Umweltverschmutzung zugrunde. Wachtmeister Kloppstock (Jürgen Brehm) und Klein-Erna (Lucía Bernadas Cavallini) kommentieren die Handlung. Als Rahmenhandlung gibt es im Stück zwei Figuren, die zwar einerseits Teil der Geschichte sind, andererseits aber auch als Erzähler und Kommentatoren fungieren. Der Wachtmeister Kloppstock erklärt dem Publikum die Ausgangssituation und diskutiert mit Klein-Erna die Frage, ob man über dieses Thema überhaupt ein Musical machen könne, da die Geschichte doch eigentlich viel zu ernst für dieses Genre sei. Im Gegensatz zur Handlung ist die Musik aber alles andere als düster, sondern klingt vielmehr beschwingt und fröhlich. Hier werden alle Klischees der gängigen Musicals bedient und dadurch auf eine ganz eigene Art und Weise parodiert. Teilweise wird man auch ganz konkret an bekannte Musicals erinnert, die in der musikalischen Anlage zitiert werden. So ist der Aufruf zur Freiheit eine Revue-Nummer, die deutlich macht, dass dieses Ansinnen sehr naiv ist. Das Liebes-Thema zwischen Freya und Jonny ist übertrieben kitschig angelegt, so dass man auch diese Gefühle nicht wirklich ernt nehmen kann. Schon die Informationen vor der Vorstellung ans Publikum über den Verbot von Fotos und Handynutzung werden in das Stück mit einbezogen. So schreitet ein Wachtmeister dabei mit Argusaugen durch die erste Reihe, während eine Lautsprecherstimme dazu ermahnt, für die Toilettengänge nur die vorgesehenen Kabinen zu nutzen und mit dem Wasser äußerst sparsam umzugehen. Jonny (Louis Dietrich; Mitte unten) wird von den Wachtmeistern Kloppstock (Jürgen Brehm, Mitte rechts) und Wampe (Daniel Wernecke) nach PInkelstadt verfrachtet. (links: Freya (Katharina Wollmann) mit Suse (Elisabeth Köstner), rechts: Klein-Erna (Lucía Bernadas Cavallini) mit Elfriede Fennichfux (Silke Dubilier), oben Mitte: Werdmehr von Mehrwerth (Karsten Oliver Wöllm)) Bühnenbildnerin Anna Siegrot hat ein flexibles Bühnenbild entworfen, das den dystopischen Charakter der Geschichte unterstreicht und schnelle Szenenwechsel möglich macht. Über allem thront eine riesige Glaskugel, von der aus von Mehrwerth das Volk beherrscht. Alles sieht in dieser Kugel ein wenig futuristisch aus. Ob die gelbe Farbe, die sich in dem durchsichtigen Rohr unter dieser Kugel befindet, für das Urin steht, das die GmbHarn & Klo KG nutzbar macht, oder für den Reichtum, den von Mehrwerth sich damit verschafft, ist der Fantasie des Publikums überlassen. Projektionen auf der Rückwand setzen diese düstere moderne Zukunft fort. Dominiert wird die Bühne von einem riesigen schäbigen Kasten, der eine öffentliche Toilette darstellt, die die Armen gegen Zahlung der erforderlichen Gebühr nutzen können. Aufgeklappt zeigt dieser Kasten die Büroräume der GmbH & Klo KG im ersten Akt und die Kanalisation mit zahlreichen Rohren im zweiten Akt. Die Kostüme, für die ebenfalls Siegrot verantwortlich zeichnet, unterscheidet die Reichen auf der einen Seite in feinen hellblauen Anzügen mit angegelten Haaren und die Armen auf der anderen Seite, die bläuliche Stofffetzen tragen und alle wie Sträflinge eine Nummer auf dem Rücken haben. Da Jonny für die GmbHarn & Klo KG arbeitet und weder zu den Armen noch zu den Reichen gehört, trägt er ein neutrales weißes Hemd. Die Polizisten tragen schwarze Kleidung und Schlagstöcke, weil sie recht autoritär die Macht von Mehrwerths verteidigen. Liebe auf den ersten Blick: Freya (Katharina Wollmann) und Jonny (Louis Dietrich) Die Personenregie von Annika Dickel kommt mit 10 Darstellerinnen und Darstellern aus, wobei die meisten in mehrere Rollen schlüpfen. Einige Rollen werden auch gestrichen. Das geht in den Szenen, in denen nur die Armen zusammenkommen oder von Mehrwerth seine Anhänger beschwört, den eigenen Wohlstand zu schützen, gut auf. In den Ensembles, wenn beide Gruppen aufeinander treffen, fehlt ein bisschen die Masse und es wirkt optisch ein wenig dünn, wenn hierbei fünf gegen fünf antreten. Dennoch meistert das Ensemble auch dieses Problem und begeistert durch große Spielfreude. Louis Dietrich gestaltet den Jonny Stark mit großem Heldenpotenzial, so dass es nicht verwundert, dass die anderen seinem Aufruf zur Revolution folgen. Dabei wirkt sein Song im ersten Akt, in dem er die Armen tröstet, so naiv wie die Figur. Sein Aufruf im zweiten Akt, zur Freiheit zu rennen, ist hingegen schon beinahe ironisch gebrochen. Mit Katharina Wollmann als Freya von Mehrwerth findet er im Duett zu einer betörenden Innigkeit. Wollmann verströmt vor allem als Geisel großartige Komik, wenn sie sich auf einen Stuhl gefesselt von Jonnys Aufrufen zur Revolution mitreißen lässt. Am Ende ist sie wie Jonny eine tragische Figur, wenn sie zunächst die Freiheit ausruft und anschließend an den Folgen der Freiheit zugrunde geht. Karsten Oliver Wöllm gibt den Industriellen von Mehrwerth mit eiskalter Arroganz. Wenn er einen Hasen als Kuscheltier auf seinem Arm trägt, erinnert er fast an einen Bond-Bösewicht. Große Wandlungsfähigkeit zeigt er als Jonnys Vater Stark, der sich zu Beginn den Anordnungen widersetzt und in die Ecke pinkelt. Silke Dubilier verleiht der Mitarbeiterin Elfriede Fennichfux darstellerische Tiefe, wenn sie sich schließlich als Freyas Mutter zu erkennen gibt und der Revolution anschließt. Jürgen Brehm legt den Erzähler und Wachtmeister Kloppstock recht zynisch an. Lucía Bernadas Cavallini überzeugt als Klein-Erna mit herrlicher Naivität. Auch die übrigen Darstellerinnen und Darsteller füllen ihre diversen Rollen mit großer Leidenschaft aus. Andreas Unsicker führt die fünfköpfige Band, die er selbst am Klavier und Keyboard begleitet, mit flotter Hand durch die beschwingte Partitur, die musikalisch einen großen Kontrast zum Inhalt bietet. So gibt es für alle Beteiligten verdienten Applaus mit stehenden Ovationen. FAZIT Die Produktion in Hildesheim überzeugt auf ganzer Linie. Ob das Stück allerdings dadurch repertoiretauglicher wird, darf bezweifelt werden. Dafür ist der Inhalt vielleicht doch zu aktuell und deprimierend.
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ProduktionsteamMusikalische Leitung
Inszenierung und Choreographie
Co-Regie
Bühne und Kostüme
Dramaturgie
Die Band
Schlagzeug / Percussion
Bass
Reed (Saxofon, Klarinette)
Posaune
Solistinnen und Solisten Wachtmeister Kloppstock Klein-Erna Jonny Stark Freya von Mehrwerth Werdmehr von Mehrwerth / Der alte Stark Elfriede Fennichfux / Polizistin / Wachtmeister Wampe / Willi / Herr Kaiser / Gretchen / Polizist Abgeordneter Schmier / Knuth / Polizist Suse / Polizistin / Büroangestellte
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