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Kollektives Raunen angesichts der ApokalypseVon Stefan Schmöe / Fotos von Matthias Jung
Um ein Missverständnis auszuräumen: INES ist nicht der Name einer feurigen Titelheldin spanischer Herkunft, sondern die Abkürzung für "International Nuclear and Radiological Event Scale". Dahinter verbirgt sich eine Skala, nach der Störfälle in Kernkraftwerken eingeordnet werden - von einer leichten Störung (Stufe 1) bis zur Katastrophe wie in Tschernobyl oder Fukushima (Stufe 7). Vermutlich spielen der Komponist Ondřej Adámek und die Librettistin Katharina Schmitt bewusst mit dieser reichlich bemühten Doppeldeutigkeit (die eigentlich erst dadurch entsteht, dass die Kölner Oper die Werktitel immer in Großbuchstaben ankündigt). Es würde jedenfalls passen zu einem Libretto, das sich auf der Suche nach Querbezügen allzu oft in Ungenauigkeiten verliert. Etwa weil es zwar eine nicht näher beschriebene atomare Katastrophe in den Mittelpunkt stellt, gleichzeitig aber suggeriert, es handele sich um die Explosion einer nuklearen Bombe. Dafür bräuchte man allerdings keine INES, denn der eigentliche Zweck von Kernwaffen ist ja ohnehin die maximale Zerstörung. Die Welt nach der Katastrophe: Ob sich in diesen Plastiksäcken unsachgemäß lagernder radioaktiver Müll verbirgt?
Opfer der angedeuteten Katastrophe, die mit viel Getöse im Orchester beschrieben wird, ist eine junge wissenschaftliche Mitarbeiterin eines Naturkundemuseums, die gerade einen Audioguide zur Entwicklung der Gattung Mensch aufzeichnet. Damit wird der atomaren Endzeit unserer Gattung deren Frühzeit gegenübergestellt. Mythologisch aufgeladen wird die Konstellation, indem diese Frau den Namen E wie Eurydike erhält und ihr Liebhaber O (Orpheus) ihrem Sterben zusehen muss. Orpheus stieg bekanntlich in die Unterwelt, erweichte mit seinem überwältigend schönen Gesang die Furien und durfte Eurydike zurückholen - mit der Auflage, sich nicht nach ihr umzudrehen, woran die Sache dann scheiterte. Hier befindet sich E nach der Katastrophe im Zustand des "Walking Ghost": Nach einer hohen Strahlenbelastung beobachtet man für einige Stunden oder Tage eine scheinbare Verbesserung des Gesundheitszustands, bevor unvermeidlich der Tod eintritt. Weil O gegen den Rat der Ärztin (mit Autorität und Würde: Dalia Schaechter) E aufweckt, beschleunigt er ihr Sterben. Die Parallelen zum Orpheus-Mythos sind also ziemlich vage. Irritierender noch, dass dieser Orpheus, bis dahin ein sachlich mit viel Sprechgesang und wenig Kantilene agierender Bariton, erst im Moment des endgültigen Todes von E zu seiner wahren, einschmeichelnden Countertenor-Stimme findet. Wäre nicht umgekehrt ein Stimmverlust plausibler? Wie auch immer: Hagen Matzeit bewältigt die Partie in beiden Stimmlagen mit Bravour. O (Orpheus) und E (Eurydike)
Musikalisch hilft nach dieser Verwandlung Henry Purcell mit seinem "Cold Song" aus King Arthur aus. Dessen auf gleicher Tonhöhe wiederholte Achtelnoten greift Adámek stilprägend auf (und ein paar Takte werden, mutmaßlich zur Steigerung des Wiedererkennungswertes, einigermaßen original zitiert). Musikalisch hat das seinen Reiz, auch im Kontrast zur flächigen Musik zuvor, die sich aus virtuosen Figuren solistischer Instrumente zusammensetzt, die zu einem Klangteppich verschmelzen wie eine Vielzahl von Stimmen, die aus der Distanz als ein kollektives Raunen wahrgenommen werden. Komponist Ondřej Adámek am Pult des Gürzenich Orchesters sorgt für einen transparenten Orchesterklang und konzentrierte Klangentladungen an ausgewählten Stellen, ohne plakativ zu werden. Rätselhaft bleibt die Rolle des Chors, den Adámek wie eine zusätzliche Klangfarbe einsetzt, der aber kaum dramatisches Potenzial entwickelt. INES wird als "große Choroper" angekündigt, aber am Ende fragt man sich, ob man ein Fehlen des Chors überhaupt bemerkt hätte, so nebensächlich erscheint dessen Rolle. Hin und wieder laufen die Sängerinnen und Sänger über die große Bühnenfläche im Saal 3 des Köln-Deutzer Staatenhauses zwischen unzähligen prall gefüllten Plastiksäcken herum (die wohltuend unaufgeregt erzählende Inszenierung, über die im Grunde nicht mehr zu sagen ist, verantwortet Librettistin Katharina Schmitt, die Ausstattung Patricia Talacko). Musikalisch raunt der Chor (Einstudierung: Rustam Samedov), der sich in anderen Produktionen schärfer profilieren konnte, souverän mit. E stirbt in den Armen von O
Zu den stärkeren Momenten des Abends gehört ein Trio (großartig: David Howes, Georges Ziwziwadze und Lasha Ziwziwadze), das im markigen, vibratoarmen Tonfall die Orpheus-Sage nacherzählt. Dafür hat Adámek Floskeln und Harmonien osteuropäischer und georgischer Volksmusik verwendet, die der Musik ein mittelalterliches, archaisches Gepräge geben. Das hätte als Klammer für das Werk noch mehr Raum einnehmen dürfen. Zwiespältiger bleiben die Eindrücke angesichts der "Hiroshima-Girls". Dahinter verbergen sich junge Mädchen, die beim Atombombenabwurf über Hiroshima schwere Verletzungen erlitten, sich später aber für Versöhnung einsetzten und u. a. aufmunternde Briefe an die (teils depressiven) Piloten der Bomber schrieben. Einer dieser Briefe wird im lässig swingenden Tonfall der 1950er-Jahre tänzelnd von drei Sängerinnen zitiert (Tara Khozein, Alina König Rannenberg und Olga Siemienczuk singen und spielen mit betörendem Charme). Als Moment der Irritation müsste auch das mehr Gewicht bekommen. Die "Hiroshima-Girls"
Diese drei jungen Damen werden zu Doppelgängerinnen von E, deren Person sich sozusagen auflöst, sich aufspaltet. Vielleicht sollte man dies dahingehend deuten, dass E(urydike) mit ihrem individuellen Tod als Prinzip für die Trauer in das kulturelle Bewusstsein eingeht. Kathrin Zukowski singt glockenrein und über alle irdischen Anfechtungen erhaben. Dabei hat der Komponist es (nicht nur bei ihr) zum Stilmittel erhoben, viele Konsonanten auszudehnen und manchmal zu wiederholen, sodass die Gesangslinien durch eine Vielzahl von "fffffs" oder "sssss" oder auch "k-k-ks" geräuschhaft werden. Das Prinzip ist schnell durchschaut und alsbald doch ziemlich ermüdend angesichts eindreiviertel Stunden Spieldauer (ohne Pause). Vielleicht soll das Insistieren auf den Buchstaben dem pseudowissenschaftlichen Sprachgestus Bedeutung verleihen, zumal es keinen dramatischen Konflikt gibt, aus dem das Werk erzählerische Spannung gewinnen könnte. Aber im Grunde ist INES viel eher ein großes Requiem als eine Oper im konventionellen Sinn. Oder eine Art musikalische Traumatherapie für O (der natürlich für uns alle steht) angesichts des Verlusts von E.
Zum Saisonfinale gibt's in Köln ein bisschen Weltuntergang mit aparter, manchmal anstrengender Musikbegleitung. Die mythologische Größe von Orpheus und Eurydike erreichen O und E in dieser um Bedeutung ringenden Endzeitoper dabei nicht. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne und Kostüme
Video
Licht
Chor
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der rezensierten Aufführung
O (Orpheus)
E (Eurydike)
Doppelgängerin von E /
Ärztin
Männer im Schutzanzug
Krankenschwester
Eine Stimme
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