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Der zweite Hauptsatz der ThermodynamikVon Stefan Schmöe / Fotos von Kirsten Nijhoff und Tom SchulzeWenn ein Ei zerbricht, lässt es sich nicht mehr reparieren. Mit diesem Bild beschreibt Regisseur Francisco Negrin im Programmheft den physikalischen Begriff der Entropie, die, vereinfacht gesagt, ein Maß für die Unordnung eines Systems ist. Je größer die Entropie, desto unordentlicher das System - und so kaputter das Ei. Wirft man die Schalen des zerbrochenen Eis in die Luft, werden sie sich nicht wieder zusammenfügen. Wissenschaftlicher ausgedrückt: Ein System wird sich nicht von allein ordnen, sondern in den Zustand noch größerer Unordnung übergehen. Physiker bezeichnen diese im Grunde einfache, in den Folgen weitreichende Erkenntnis als den "zweiten Hauptsatz der Thermodynamik". Noch ist das System (und das Ei) leidlich intakt: Katerina und die Mehlfabrik (Foto: Tom Schulze)Nun interessiert sich die Inszenierung gar nicht für theoretische Physik, sondern überträgt das Modell auf das gesellschaftliche System, das in Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk deren zentrale Figur, die Kaufmannsfrau Katerina Ismailowa, umgibt. Dieses, so die These, geht vom Zustand großer Ordnung (starre Hierarchien und klare Regeln auf dem ländlichen Besitztum) über in einen chaotischen Endzustand (Anarchie unter Strafgefangenen auf dem Weg nach Sibirien). Das Bühnenbild (Rifail Ajdarpasic) deutet dafür eine fabrikartige Getreidemühle an, die im Laufe des Abends mehr und mehr an Funktionalität einbüßt. Im Zentrum aber steht: ein riesiges Ei. Genauer gesagt: Ein Fabergé-Ei. 52 dieser Schmuckstücke, Höhepunkte der Goldschmiedekunst, wurden zwischen 1885 und 1917 in der Werkstatt von Peter Carl Fabergé in Sankt Petersburg für die Zarenfamilie angefertigt (hinzu kamen einige wenige für private Auftragsgeber). Damit erhält die Inszenierung auch eine politische Dimension, spiegelt sie doch im Familiendrama der Ismailows den Zerfall der zaristischen Ordnung. Das soll wohl eine Brücke schlagen bis zu den hochpolitischen Umständen der Uraufführung dieser Oper im Jahr 1934, in deren Folge der Komponist von höchster Ebene zur Unperson erklärt wurde. Seniorchef Boris (links) und sein schwächlicher Sohn Sinowij (Foto: Kirsten Nijhoff) Ob sich dieser geschichtliche Prozess mit dem Satz von der Zunahme der Entropie wirklich treffend charakterisieren lässt, darüber darf man getrost streiten. Die bildmächtige Inszenierung bleibt so oder so in dieser Hinsicht viel zu unscharf. Die historisierenden Kostüme der Hauptfiguren mit prächtigen Schnurrbärten und tollen Kopfbedeckungen charakterisieren zwar treffend deren sozialen Status, sehen aber aus wie frisch aus dem nächstbesten Volkskundemuseum ausgeliehen und geben der Inszenierung eine Wendung ins allzu Niedliche (Kostüme: Ariane Isabell Unfried). Gesellschaftliche Umbrüche bleiben Behauptung. Die zunehmende Zersetzung deutet sich aber auch in der Erzählweise an. Offenbar verfolgt Negrin den Plan, die Vorgänge zunächst einigermaßen realistisch darzustellen und dann immer stärker zu abstrahieren - das funktioniert mittelprächtig gut und müsste präziser ausformuliert sein. Wobei ein abrupter Wechsel zwischen schroffem Realismus und pathetischer Überhöhung durchaus mit den sprunghaften Stimmungswechseln in Schostakowitschs Musik korrespondiert. Katerina und Sergej (Foto: Kirsten Nijhoff)Zurück zum Ei. Selbiges kann auch als Symbol für Fruchtbarkeit und Mutterschaft gesehen werden. Hauptaufgabe der Kaufmannsgattin Katerina ist es, Kinder zu gebären und der Familie zu einem Stammhalter zu verhelfen. Was an der Impotenz ihres Gatten Sinowij scheitert, allerdings vom tyrannischen Schwiegervater Boris ihr angelastet wird. Katerina beginnt ein Verhältnis mit dem zwielichtigen Arbeiter Sergej, einem notorischen Frauenhelden. Die Affäre fliegt auf, der Schwiegervater lässt Sergej brutal auspeitschen. Als der Sadist anschließend von Katerina seine geliebten gebratenen Pilze fordert und sowieso gerade Rattengift zur Hand ist, kommt eines zum anderen. Misstrauen schöpft niemand, denn am Genuss von Pilzen zu vorgerückter Stunde hat sich schon mancher nicht nur den Magen verdorben. Irgendwann zerschlägt Katerina das überdimensionale Fabergé-Ei und damit die ihr aufoktroyierte Rolle wie auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Von der Gelegenheitsmörderin zur planmäßig tötenden Lady Macbeth wird sie, als sie ihr Verhältnis zu Sergej legitimieren will und gemeinsam mit ihm ihren Gatten Sinowij erschlägt. Dieser Mord allerdings lässt sich nicht vertuschen, beide werden nach Sibirien deportiert. Auf dem Weg ins Straflager bandelt Sergej mit dem nächsten Mädchen an. Katerina stürzt sich und die Nebenbuhlerin in einen reißenden Fluss. Todesfälle, die niemanden mehr interessieren: Ein Ende im Chaos. Das Ende: Katerina über dem Abgrund, in dem alle versinken werden (Foto: Kirsten Nijhoff) Bei Negrin müsste man am Ende wohl eher von unterlassener Hilfeleistung sprechen, denn in den Fluss wird die junge Sonjetka von anderen geworfen. Katerina schwebt auf einer Plattform über dem brodelnden Abgrund, der sich symbolisch aufgetan hat, und drückt die Hilfesuchende nach unten. Negrins Bildwelten sind jenseits des nicht immer schlüssigen Gedankengangs eindrucksvoll, wenn auch mit leichtem Hang zum Pathos. Wirkliche Größe erhalten die Figuren allerdings durch die ganz ausgezeichnete musikalische Interpretation. Ingela Brimberg singt und spielt die Katerina phänomenal. Mit nicht zu hellem, jugendlich-dramatischem Sopran, den sie auch in großen Ausbrüchen nie forcieren muss und der auch im Pianissimo nicht an Intensität verliert, gestaltet sie das Portrait einer starken und gleichzeitig auch zerbrechlichen Frau. Großartig ist auch Brenden Gunnell als stimmgewaltiger Liebhaber Sergej, dabei nicht unbedingt ein tenoraler Draufgänger, sondern mit abgedunkelter Stimme ein Kraftpaket mit Zwischentönen - ein Underdog, der seine Chance auf gesellschaftlichen Aufstieg kommen (und gehen) sieht. Randall Jakobsh steuert einen düster-dämonischen Schwiegervater Boris bei, und auch die übrigen Rollen sind durchweg sehr gut besetzt. Und auch der riesige Chor (szenisch eine entindividualisierte Verfügungsmasse) singt toll. Kurz: Man erlebt hier ganz großes Musiktheater. Getragen wird die Aufführung vom exzellenten Gewandhausorchester, das mit warmem, samtenem Klang die getragenen Passagen mit schier unendlicher Ruhe und gleichzeitig hoher innerer Spannung spielt, um im nächsten Moment in orchestraler Attacke förmlich zu explodieren. Im Foyer wird vor großen Lautstärken gewarnt, denn Teile der Bläsergruppen sind dezibelstark in den beiden Logen rechts und links des Zuschauerraums postiert. Bei aller Wucht und Aggressivität klingen Schostakowitschs Exzesse nicht schrill, und die Musik behält immer ein gewisses Maß an Schönheit. Für Christoph Gedschold ist die hier beschriebene Vorstellung die letzte als Chef des Hauses - er wird nach Kopenhagen wechseln, der Leipziger Oper aber als Gastdirigent verbunden bleiben. Er verabschiedet sich mit einer Aufführung, die zu den absoluten Höhepunkten der laufenden Saison gehört.
Musikalisch eine überragende Produktion. Francisco Negrins Inszenierung findet zwischen nicht uninteressanten konzeptionellen Gedanken und dekorativen Bildern kein wirkliches Ziel, lässt dem Personal auf der Bühne aber viel Entfaltungsmöglichkeiten. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Movement Director
Bühne
Kostüme
Licht
Video-Design
Chor
Dramaturgie
Komparserie
Boris Timofejewitsch Ismailow
Sinowij Borissowitsch Ismailow
Katerina Ismailowa
Sergej
Aksinja
Der Schäbige
Verwalter / Wächter
Hausknecht
1. Vorarbeiter /
2. Vorarbeiter /
3. Vorarbeiter
Bote (Mühlenarbeiter)
Pope
Polizeichef
Polizist
Betrunkener Gast
Sergeant
Sonjetka
Alter Zwangsarbeiter
Zwangsarbeiterin
Geist des Boris Timofejewitsch
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