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Verdrängen und erinnern, vernichten und gedenken
Von Christoph Wurzel / Fotos von Wilfried Hösl Nach seinem Besuch der jüngst am Mainzer Staatstheater nachgespielten Grazer Produktion der Passagierin fragte sich unser Rezensent (siehe unsere Rezension), warum diese Oper nicht häufiger gespielt werde. Angesichts der immer lauter werdenden Rufe nach einem Schlussstrich unter die Geschichte der Nazizeit, einer "erinnerungspolitischen Kehrtwende" oder des zynischen "Fliegenschiss"-Geredes bezogen auf Nationalsozialismus und Holocaust ist der Wunsch nach nicht nachlassender Konfrontation von uns Nachgeborenen mit dem weltgeschichtlich einmaligen Menschheitsverbrechen der fabrikmäßigen Vernichtung von Millionen Menschen durch den deutschen Faschismus nur umso zwingender geworden. Theodor W. Adornos Diktum von 1951, dass in der Shoa das Unsägliche in weltgeschichtlichem Ausmaß kulminiere und es daher "barbarisch" sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist in der Nachfolge auf allen künstlerischen Gebieten vielfach widerlegt worden. Was die zahlreichen Ergebnisse der Wissenschaften zutage gefördert haben, sind die reinen Fakten. Der Kunst oblag es, andere Fragen zu stellen: solche nach der Verantwortung, der Erinnerung und den Konsequenzen, die aus dem Wissen zu ziehen wären. In Mieczysław Weinbergs Oper prallen Gedanken des Verdrängens und der Erinnerung, der Vernichtung und des Gedenkens hart aufeinander. Seine Komposition ist daneben vor allem das Werk eines Künstlers, dessen fast vollständige Familie der NS-Barbarei zum Opfer fiel. Und obwohl die autobiografische Vorlage von Zofia Posmych das Thema Auschwitz nicht vornehmlich aus jüdischer Sicht behandelt (die Autorin wurde als Katholikin im Widerstand inhaftiert), bot der Roman für den polnischen Juden im Moskauer Exil dennoch Stoff zur Identifikation und wurde für ihn gleichsam zum Nukleus seines ganzen Schaffens:" Das wichtigste Werk? - Das ist Pasażerka. Alle übrigen sind auch Pasażerka", antwortete er in einem Interview. Diese Oper ist nicht allein ihres Themas wegen außergewöhnlich, sie stellt auch inszenatorisch wie musikalisch größte Herausforderungen an ein Haus. Seit der szenischen Uraufführung in Bregenz 2010 gab es laut Statistik zehn weitere Produktionen, gleich in den folgenden Jahren die ersten in Deutschland, darunter ging diejenige in Frankfurt mehrfach auf Reisen, u. a. nach Warschau. Es folgten Inszenierungen auch in Russland und just in diesen Tagen (24.03.24) kommt Pasażerka unter der Leitung von Mirga Gražinytė-Tyla, unermüdlich in ihrem Einsatz für die Musik Weinbergs, an der Oper Madrid heraus. Bühnenbild des 1. Aktes: die alte Lisa (Xibylle Maria Dordel, 2. Reihe, 2. Balkon von links) Die Münchner Produktion (Regie Tobias Kratzer) schlägt im Vergleich zu den meisten Produktionen einen neuen Weg ein: Sie verzichtet vollständig auf die Bebilderung des Lageralltags, sondern verlegt die gesamte Handlung in den Passagierdampfer, welchen das Libretto eigentlich nur für die Szenen der Gegenwartsebene der Handlung vorsieht. Keine Häftlingskleidung also und keine SS-Uniformen sind zu sehen. Die Geschehnisse im Lager werden als Flashbacks inszeniert, als "Geister der Vergangenheit", wie Lisa, die ehemalige KZ-Aufseherin, ihre quälenden Erinnerungen selbst bezeichnet, die plötzlich hochkommen, als sie auf der Reise nach Brasilien auf dem Schiffsdeck eine Frau entdeckt, in der sie die KZ- Insassin Marta zu erkennen meint. Infolgedessen bleibt die Kostümierung gleich. Es handelt sich in allen Fällen um die Fahrgäste des Passagierschiffes etwa um 1960. Alle Szenen, auch die Rückblenden im zweiten Akt, finden also in Räumen dieses Schiffes statt: zuerst auf den Balkonen und in den Kabinen des Dampfers, später inmitten der großen, gedeckten Tafel im Speisesaal des Luxusliners. Hier verwischen sich die Zeitebenen: die Nachkriegs-Jahre der Überfahrt von Anneliese (Lisa) Franz, nun verheiratet mit dem Karrierediplomaten Walter Kretschmer - und die Ebene der 40er Jahre, in der die Szenen im KZ Auschwitz spielen. Aber in einer dritten Zeitebene holt die Regie die Geschichte ins Heute: Zum Ersten in Gestalt der alten Lisa, die in Parallelaktion ihrem jüngeren Ego nicht von der Seite weicht und dessen seelische Zustände des verdrängten Schuldbewusstseins in expressive Körpersprache übersetzt. Wie um Halt zu finden umklammert sie ständig die Urne ihres mittlerweile verstorbenen Mannes, die sie offenbar zurück nach Deutschland überführt; ein beklemmendes Sinnbild, denn für die im KZ Ermordeten gab es nur ein "Grab in den Lüften", wie Paul Celan es ausdrückte. Unter der quälenden Last ihrer Schuld wird sich die alte Lisa am Schluss des ersten Akts in den Ozean stürzen. Eine Konsequenz, zu der die Jüngere nicht fähig gewesen wäre, als sie noch die Fassade mittels Verdrängung, Beschönigung und Fremdbeschuldigung aufrecht zu erhalten suchte. Augenfällig unter Beweis gestellt wird ihre eiskalte, berechnende Brutalität, mit der sie Marta und ihren Verlobten Tadeusz quält, in den Szenen im Lager. Sophie Koch gestaltet diese von Weinberg vokal eindrücklich charakterisierte Rolle in all diesen Facetten außerordentlich intensiv: im monotonem Rezitativparlando (im Gespräch mit Walter zu Anfang), im scharfen Befehlston im Lager, den nahezu hysterischen Ausbrüchen nach Walters Vorwürfen bis hin zu den eiskalt gesprochenen Passagen, wenn sie Marta und Tadeusz in die Falle eines "geschenkten Rendezvous" zu locken versucht. Diesen Walter gestaltet Charles Workman hölzern deklamierend als Opportunisten, der vor allem an seiner Karriere interessiert ist und daher eine ehemalige SS-Aufseherin als Frau eigentlich nicht gebrauchen kann. In bedrückende Erfahrungen unserer Gegenwart holt uns die Regie auch durch eindeutige Assoziationen, die gleichsam en passant in das Bühnengeschehen einfließen. Etwa wenn zwei Sportsfreunden, die mit ihrem Bier lässig an der Rehling lehnen, Naziparolen vom Endsieg und der "Menschenvernichtung als Wissenschaft" in den Mund gelegt werden, die im Libretto eigentlich Texte der SS-Männer sind. An anderer Stelle wird ein schwarzer Steward von einem Mob von Passagieren über die Bühne geprügelt. Und wenn Lisa Marta und Tadeusz brutal zum Sex zu zwingen versucht, drängt sich der Gedanke an sexuelle Gewalt als Mittel der Unterdrückung unweigerlich auf. Bühnenbild des 2. Aktes: Festsaal auf dem Schiff Im zweiten Akt verschränken sich die Ebenen, was leicht unübersichtlich erscheinen könnte, wenn man die Handlung nicht genau kennt. Hier läuft inmitten einer stattlichen Anzahl von Statisten das weitere Geschehen ab: die Lagerszenen der zufälligen Begegnung Martas mit ihrem Geliebten Tadeusz, Lisas Entwürdigung von Marta zu ihrer "Lieblingsgefangenen", die kleine Geburtstagsfeier für Marta unter den gefangenen Frauen (die infolge derselben Kostümierung wie Marta gewissermaßen alle zu einer Figur verschmelzen), daneben die Verabredung Lisas mit ihrem Mann, die Vergangenheit endgültig zu vergessen und schließlich wieder in Rückblende "das Konzert", wenn Tadeusz dem Lagerkommandanten dessen Lieblingswalzer auf der Geige vorspielen soll. Da er aber stattdessen die Chaconne von Bach anstimmt, wird er von den uniformierten Schiffsoffizieren brutal zusammengeschlagen. Letzte Szene: "Das Konzert" (Jacques Imbrailo an der Geige mit Statistinnen und Statisten)
Für den Münchner GMD Vladimir
Jurowski war es offenkundig ein großes Anliegen, dieses Werk aufzuführen. Einmal,
wie er bekundete, weil es keinen Schlussstrich geben dürfe. Und zum zweiten als
Würdigung dieses besonderen Komponisten und seiner Musik, was ihm tatsächlich
in überwältigender Weise gelingt. Weinbergs vielschichtige Partitur realisiert
Jurowski in großer Klarheit und starker Ausdruckskraft. Die vom Komponisten
eingestreuten Zitate werden in ihrer satirischen Funktion deutlich, wie das
Lied vom lieben Augustin, als bissiger Kommentar zum Endsieg-Gefasel der
SS-Leute oder der schubertsche Militärmarsch zu Walters Bemerkung, dass der
Krieg ja "Gott sei Dank" zu Ende sei. Trocken und steril werden die
Worte von Lisa und Walter im ersten Akt von disparaten Instrumenten begleitet,
schneidend und mit erschlagender Wucht die Szenen physischer Gewalt. Erst am
Schluss beginnt das Orchester zu einem symphonischen Ganzen zusammenzuwachsen,
wenn sich in der Chaconne von Bach heroischer Widerstand artikuliert. Auch die Solistinnen und Solisten geben jeweils für ihre Rollen das Beste. Neben Sophie Koch als Lisa ist dies vor allem Elena Tsallagova, im starken Kontrast dazu mit weicher, lyrischer Tongebung. In der längsten Solopartie der Oper, ihrem Lied voller Hoffnung auf die Freiheit, wächst ihr Gesang zu höchster Emphase auf. Auch Jacques Imbrailo als Tadeusz verfügt über ausgiebig lyrische Farben. Doch im entscheidenden Moment wird seine Aussage von der Sologeige übernommen, die Felix Key Weber von hinten langsam auf die Bühne kommend berührend spielt. Die kleineren Rollen der gefangenen Frauen machen in ihrer Vielsprachigkeit (neben Polnisch auch Tschechisch, Jiddisch und Französisch) eindrucksvoll die Universalität von Verfolgung und Unterdrückung bewusst. Allerdings ist in der Münchner Produktion die Rolle der russischen Partisanin Katja im 2. Akt gestrichen, die von Weinberg entgegen der Romanvorlage eingefügt wurde, um (wie vermutet wird) den Geboten der sowjetischen Kulturdoktrin zu entsprechen. Eine Entscheidung, die allerdings auch zum Verlust gut einer halben Stunde wertvoller Musik und zu einigen Lücken im Verständnis der Handlung führt. Die Oper schließt mit einem Epilog, in dem die überlebende Marta als Stimme der Autorin Zofia Posmysz die Erinnerung an die im Lager Ermordeten beschwört. Ihre Worte werden auf die Wogen des Ozeans projiziert, bis er langsam in völligem Dunkel verschwindet. Die Worte "keine Vergebung" allerdings sind gestrichen. FAZIT Indem diese Produktion gänzlich auf die bildliche Konnotation zur Nazizeit verzichtet, schwächt sie einerseits die historischen Bezüge ab, verallgemeinert andererseits die unerhörten Geschehnisse und rückt sie in einigen Details bis in die Gegenwart. Dadurch läuft sie Gefahr, die Einmaligkeit dieses kolossalen Menschheitsverbrechens zu relativieren. Eine Gradwanderung, die dieser Produktion aber alles in allem gelungen ist, zumal sie das Anliegen des Komponisten deutlich zum Vorschein bringt. Der respektvoll zuerst zögerliche, dann frenetische Beifall des Publikums vermag dieses zu bestätigen.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung Inszenierung Bühne und Kostüme Video Chöre Dramaturgie
Bayerisches Staatsorchester Bayerischer Staatsopernchor Statisterie der Bayerischen Staatsoper Kinderstatisterie der
Solistinnen und Solisten
Lisa
Die alte Lisa (stumme Rolle)
Walter
Marta
Tadeusz Krystina Vlasta Hannah Bronka Yvette 1. SS-Mann 2. SS-Mann 3. SS-Mann Älterer Passagier Oberaufseherin / Kapo Steward Sologeiger
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