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Eine grandiose Oper gegen das Vergessen
Von Stefan Schmöe
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Fotos von Andreas Etter
Die Kunst, das unfassbar Schreckliche zu verdrängen, führt in diesen Tagen Jonathan Glazers oscarprämierter Spielfilm The Zone of Interest bestürzend vor Augen. Dort endet das persönliche "Interessengebiet" der Täterinnen und Täter an der Mauer von Auschwitz, allem besseren Wissen und dem beißenden Geruch der Krematorien zum Trotz. Das Phänomen des Verdrängens hat auch der jüdisch-polnische, die meiste Zeit in Russland lebende Komponist Mieczysław Weinberg (1919 - 1986) in seiner Oper Die Passagierin aus dem Jahr 1968 hinterfragt - mit sehr viel konventionelleren künstlerischen Mitteln, aber dafür mit der emotionalen Wucht des Musiktheaters. Die verspätete Uraufführung (konzertant 2006 in Moskau, szenisch 2010 bei den Bregenzer Festspielen) hat der Komponist nicht mehr erlebt, und auch nicht die rasche Verbreitung an anderen Bühnen. Lisa (Mitte) glaubt, in einer Mitreisenden eine Inhaftierte aus Auschwitz zu erkennen. Gatte Walter wusste bis dahin nichts von der Vergangenheit Lisas als KZ-Aufseherin.
Der Inhalt: Lisa, einst Aufseherin im KZ Auschwitz, glaubt auf einer Schiffspassage nach Südamerika in den 1950er-Jahren eine ehemalige Lagerinsassin zu erkennen. Ihr Gatte Walter, ein Karrierediplomat, der von Lisas Vergangenheit bislang nichts ahnte, ist entsetzt und fürchtet um seine Position. Für Lisa beginnt ein schmerzlicher Prozess der Erinnerung, bei der immer wieder Szenen aus Auschwitz das Geschehen auf dem Schiff überlagern. Ob es sich bei der unbekannten Passagierin tatsächlich um jene Marta handelt, bleibt letztendlich ungewiss. Die Erinnerungen an Schiffsüberfahrt und an Auschwitz überlagern sich.
Regisseurin Nadja Loschky hat eine weitere (stumme) Figur hinzuerfunden, nämlich die gealterte Lisa, die sich an besagte Schiffspassage wie an die Ereignisse in Auschwitz erinnert. Damit ist eine dritte Zeitebene gegeben, die grob unserer heutigen Erinnerung entspricht. Bühnenbildnerin Etienne Pluss hat dafür einen faszinierenden Bühnenraum geschaffen, der in blassen Türkistönen einen irrealen Saal mit leeren Regalen und vielen Türen zeigt. Man kann diesen Raum als Ort der Erinnerungen auffassen, einerseits unwirklich leer, aber im Verlauf der Geschichte immer wieder bevölkert durch die Akteure der beiden Erzählstränge. Dabei fixieren die vorsichtig historisierenden Kostüme (Irina Spreckelmeyer) die jeweiligen Kontexte "Auschwitz" und "Schiffspassage". Ganz unproblematisch sind auch Uniformen und Häftlingsanzüge nicht, aber vor allem im zweiten Teil gelingen immer wieder beklemmende Szenen, ohne dass die Inszenierung in ein sentimentales Kostümdrama abgleitet. Erinnerungen an Auschwitz: Marta erhält zum Geburtstag Rosen
Nun ist die Passagierin kein Diskursdrama, sondern fesselndes Musiktheater - und es wird durchweg hervorragend gesungen. Karina Repova verleiht der Lisa szenisch wie stimmlich eine nervöse Intensität und zeichnet die zunehmende Panik ihrer Täterfigur fesselnd nach. Auf der anderen Seite gibt Nadja Stefanoff der inhaftierten Marta stimmlich großes Format und entsprechende Würde, ohne "opernhaft" zu wirken. Auch ihr leicht eingedunkelter Sopran behält eine gewisse Unruhe als Grundierung, was der Musik wie der Geschichte entgegenkommt. Florian Stern gibt mit solidem Tenor den biederen, an einer Aufarbeitung der Vergangenheit nicht interessierten Diplomaten Walter, den Gatten Lisas. Brett Carter singt mit eindrucksvollem Bariton Martas Verlobten Tadeusz, ein ebenfalls inhaftierter Geigenvirtuose, der vor dem Lagerkommandanten dessen Lieblingswalzer spielen soll - und als Zeichen des Widerstands Bachs Chaconne anstimmt, was seinen Tod bedeutet. Mit anrührend mädchenhaft lyrischen Stimmen sind die weiblichen Mitgefangenen besetzt (Katja: Julietta Aleksanyan, Krystina: Lamia Beuque, Vlasta: Luisa Sagliano, Hannah: Karolina Makuła, Bronka: Lucie Ceralová, Yvette: Alexandra Samouilidou). Lisa und Martas Verlobter, der Geigenvirtuose Tadeusz
Fabelhaft spielt das Philharmonische Staatsorchester Mainz unter der Leitung seines Chefdirigenten Herrmann Bäumer. Die Musik für die Aufseher klingt nüchtern trocken, der besagte Walzer für den Kommandanten grotesk "schmutzig", die lyrische Musik für die Inhaftierten wird nie süßlich. Weinbergs Musik gewinnt ihre Spannung aus den collagenhaft gegeneinander geschnittenen musikalischen Ebenen, und das wird hier, den guten (oft unsichtbar und litaneihaft von der Hinterbühne singenden) Chor eingeschlossen, ganz ausgezeichnet umgesetzt.
Ene szenisch wie musikalisch berührende Produktion - und einmal mehr fragt man sich, warum die Passagierin nicht noch häufiger gespielt wird. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Adaption und Übernahme Regie
Bühne
Kostüme
Lichtdesign
Wiedereinrichtung Licht
Video
Chor
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der rezensierten Aufführung
Lisa
Walter
Marta
Tadeusz
Katja
Krystina
Vlasta
Hannah
Bronka
Yvette
Die Alte
1. SS-Mann
2. SS-Mann
3. SS-Mann
Älterer Passagier
Oberaufseherin
Kapo
Steward
Alte Lisa
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