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Zweifel im Glauben Von Thomas Molke / Fotos: © Bettina Stöß
Bei Leonard Bernstein denkt man heutzutage in erster Linie an die West Side Story, die zum Standardrepertoire im Musiktheater gehört. Auch seine American Operetta Candide genießt einen gewissen Bekanntheitsgrad. Relativ unbekannt hingegen ist sein Bühnenwerk Mass, das Bernstein 1971 für die feierliche Eröffnung des John F. Kennedy Centers for the Performing Arts komponierte. Bernstein war zu dieser Zeit durch die für ihn als unerträglich empfundene politische Weltlage sehr deprimiert, hatte zwei Jahre sein Amt als Chef der New Yorker Philharmoniker niedergelegt und wollte nach den Morden an Martin Luther King und Robert Kennedy, der Wahl Richard Nixons zum neuen Präsidenten der USA und dem immer noch währenden Krieg in Vietnam mit seinem neuen Werk moralisch-politische Fragen zum Krieg aufwerfen und mit einer Art Messe als musiktheatralischem Ereignis einen neuen ökumenischen Humanismus in eine zeitgemäße Theaterform bringen. Richard Nixon soll das Werk als Affront gegen seine Regierung betrachtet haben, so dass er der Uraufführung am 8. September 1971 in Washington fernblieb. Die Premiere konnte aber dennoch einen großen Erfolg verbuchen. In Münster hat man nun beschlossen, im Rahmen des Gedenkens an den vor 375 Jahren in Münster und Osnabrück ausgehandelten Westfälischen Frieden die neue Spielzeit mit Bernsteins Mass zu eröffnen. Der Celebrant (Samuel Schürmann, Mitte) mit dem 2. Rock Singer (Mariyama Ebel, links) aus dem Street Chorus Bernstein selbst bezeichnete das Stück als "A Theatre Piece for Singers, Dancers and Players" und orientiert sich darin im Ablauf an der römischen Liturgie einer Messe, deren Texte er gemeinsam mit Stephen Schwartz ergänzte. Als Ausgangssituation versammelt sich die Gemeinde zu einer Messe. Ein Celebrant beginnt den Gottesdienst mit einem gemeinsamen Gebet in einer freudigen, ausgelassenen Stimmung, die jedoch im Verlauf der Messe kippt. Die Gemeinde fängt an, am Sinn von Sündenbekenntnis, Gotteslob, Predigt und Glaubensbekenntnis zu zweifeln, und unterbricht die einzelnen Passagen der Messe mit so genannten Tropen, die in einer Art Gegenrede die christlichen Lehren in Frage stellen und allmählich zu wachsender Unzufriedenheit der Gemeinde führen. Der Celebrant kann die Gemeinde mit seinen Aufrufen zum Gebet immer weniger überzeugen und verzweifelt schließlich an der revoltierenden Masse, deren Verlangen nach Antworten immer aggressiver wird. Es kommt zum Tumult während der Messe, und die allgemeine Ordnung bricht zusammen. Jetzt muss die Gemeinde aus eigener Kraft einen Neuanfang wagen. Aus der orientierungslosen Masse erhebt sich eine einzelne Stimme, die den "Simple Song" vom Anfang wieder aufgreift und den Menschen ihren Glauben und die Hoffnung auf eine neue, bessere Welt zurückgibt. Die Gemeinde (Opern- und Extrachor) bei der Messe, im Hintergrund: der Heilige Geist (von links: Yoh Ebihara, Hana Kato und Amanda Cruz Portuondo) Musikalisch kombiniert Bernstein hier verschiedenste Musikstile, die von ernstem Avantgarde-Klang, der im Großen und Ganzen aber die Tonalität nicht aus den Augen verliert, bis hin zu Unterhaltungsmusik der späten 1960er Jahre reicht. Die Masse wird dabei in einen Street Chorus mit solistischen Passagen, in einen Boys Choir, der aus Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums Paulinum besteht, und in die "allgemeine" Gemeinde aufgeteilt, die vom Opern- und Extrachor des Theater Münster dargestellt wird. Passend zu den drei Teilen treten drei Tänzerinnen und Tänzer als Heiliger Geist auf, die in der Regel immer zu den Gebeten erscheinen und in modernem Ausdruckstanz, der nicht auf Homogenität ausgerichtet ist, die Gedanken und Wünsche verkörpern, die den Menschen beim stillen Gebet durch den Kopf gehen mögen. Die drei Tänzer*innen tragen enge hautfarbene Kostüme mit einigen bunten Farbklecksen, die sie relativ unwirklich erscheinen lassen. Im Gegensatz dazu wird der Boys Choir in klassischen Messdiener-Kostümen recht realistisch gezeichnet. Der Opern- und Extrachor bildet in den langen weißen Kutten eine auf den ersten Blick eingeschworene Gemeinschaft, die erst im Verlauf des Stückes vom Street Chorus gebrochen wird. Der Celebrant (Samuel Schürmann, Mitte) wird mit den Zweifeln des Street Chorus (auf der linken Seite von links: Darrin Lamont Byrd, Maria Christina Tsiakourma, William Baugh, Ki Hoon Yoo, rechts hinter Schürmann: Antonio Calanna, auf der rechten Seite von links: Josefien Kleverlaan, Anping Lu, Ramon Karolan und Stefanie Smailes) konfrontiert (im Hintergrund: Opern- und Extrachor). Kostümbildner Stefan Rieckhoff lässt den Street Chorus zunächst in schwarzen Kostümen mit weißem Skelett-Aufdruck auftreten. Auf dem Kopf tragen die Sängerinnen und Sänger jeweils eine Totenmaske. Zu Beginn des Abends sitzen sie in der ersten Reihe im Publikum und werden erst im weiteren Verlauf Teil der Messe. Dazu ziehen sie ebenfalls weiße Kutten über, machen dabei jedoch von Anfang an ihre Zweifel deutlich und stören damit die Zeremonie. Wenn sie das Geschehen auf der Bühne gar nicht mehr nachvollziehen können oder wollen, legen sie die Kutten ab, ziehen auch ihre Skelett-Kostüme aus und erscheinen in Alltagskleidung als Individuen, die in gesprochenen Passagen ihre Zweifel äußern. Dabei sprechen sie in der jeweiligen Landessprache, so dass man die einzelnen Geschichten nicht in jedem Fall verstehen kann. Das Orchester, das in Teilen auf den Bühnenseiten und im Hintergrund der Bühne positioniert ist, teilweise auch für einzelne Szenen auf der Bühne auftritt, ist zwar in großen Teilen wie die Gemeinde in weiße Kutten gekleidet, trägt aber teilweise auch die Totenmasken und die Skelett-Kostümierung des Street Chorus. Der Street Chorus (von links: Stefanie Smailes, Mariyama Ebel, William Baugh, Antonio Calanna, Darrin Lamont Byrd, Anping Lu, Maria Christina Tsiakourma und Ramon Karolan) Eingeleitet wird der Abend wie eine Messe mit Glockengeläut. Zunächst hört man im dunklen Saal nur ein leicht atonales "Kyrie Eleison" in mehreren Stimmen, das wie ein Geist durch die Lautsprecher wabert. Erst im Anschluss öffnet sich der Vorhang und zeigt einen Mann (Samuel Schürmann), der zu friedlichem Meeresrauschen und Möwengeschrei auf einer weißen Decke liegt - dass es sich dabei um seine Kutte handelt, sieht man erst später - und schläft. Um ihn herum läuft ein Junge und lässt einen weißen Drachen fliegen, oder handelt es sich um eine Friedenstaube? Aus dem Schnürboden rieselt leise der Schnee herab. Verträumt stimmt Schürmann den "Simple Song" an, und die Bühne verwandelt sich in eine Kirche. Drei riesige Kirchenfenster im Hintergrund und an den Seiten herabgelassene Portale, die in der Ansicht leicht nach hinten gekippt sind, geben den Blick frei in einen hehren Raum, in dem die folgende Messe stattfinden soll. Wie allmählich in diesem Ambiente die Stimmung kippt und die Zweifel überhand nehmen, wird musikalisch und darstellerisch vom Ensemble großartig umgesetzt. Immer wieder versucht Schürmann als Celebrant die offenen Fragen mit dem Aufruf "Lasset uns beten" zu ersticken. Immer unzufriedener wird die Gemeinde, allen voran der Street Chorus, bis auch schließlich der Celebrant keinen Ausweg mehr weiß, sich die Kutte vom Leib reißt und alles im Chaos versinken lässt. Regungslos liegt der Chor dann auf dem Boden. Die Kirchenfenster und die Portale verschwinden. Es dauert, bis allmählich wieder ein Funken Hoffnung aufkeimt. Thorsten Schmid-Kapfenburg hält das Sinfonieorchester Münster, das in mehreren Bereichen im Orchestergraben und auf der Bühne agiert, wunderbar musikalisch zusammen und taucht eindrucksvoll in Bernsteins Klangvielfalt ein. Die Massenszenen sind in der Choreographie von Lillian Stillwell gut umgesetzt und stehen stets im Bezug zum Geschehen auf der Bühne. Für den Street Chorus findet Tom Ryser eine geschickte Personenregie, die die einzelnen Figuren als Individuen zeichnet. Samuel Schürmann begeistert als Celebrant mit intensivem Spiel und stellt die unterschiedlichen Stadien von großer Zuversicht über Verzweiflung bis hin zu neuer aufkeimender Hoffnung glaubhaft dar. So gibt es am Ende verdienten und lang anhaltenden Applaus für alle Beteiligten. FAZIT Bernsteins Mass wirft Fragen auf, die auch in der Zeit der Glaubenskrise wieder hochaktuell sind und auf die es immer noch keine Antworten gibt. Die Inszenierung in Münster setzt die Problematik bewegend um und geht unter die Haut.
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ProduktionsteamMusikalische Leitung
Regie
Choreographie
Bühne und Kostüme
Licht
Choreinstudierung
Einstudierung Boys Choir Dramaturgie
Sinfonieorchester Münster Opernchor
und Extrachor
Solistinnen und Solisten *Premierenbesetzung
Celebrant Street Chorus 2. Rock
Singer 3. Rock Singer 1. Blues Singer 2. Blues
Singer 3. Blues Singer Sopran Mezzo Preacher Tenor Bariton Bass Heiliger Geist Boys Choir Kindersolist*in
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