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Ernstes Thema metaphorisch verpackt Von Thomas Molke / Fotos: © Daniel Senzek
Ab der Spielzeit 2023/2024 übernimmt Rebekah Rota die Intendanz der Oper
Wuppertal und beginnt in einer nicht ganz einfachen Ausgangssituation. Das
Opernhaus ist nämlich zunächst einmal 12 Wochen für den Vorstellungsbetrieb
gesperrt, um die Schäden, die das Hochwasser im Juli 2021 verursacht hat, weiter
zu beheben. Aber Rota lässt sich von solchen
widrigen Bedingungen nicht entmutigen. Für die Eröffnungspremiere hat sie eine
Außenspielstätte gesucht und mit der Alten Glaserei an der Nordbahnstraße,
unweit von Utopiastadt am Mirker Bahnhof eine ehemalige Industriehalle gefunden,
die zwar vielleicht für auswärtige Besucher*innen nicht gerade leicht zu
erreichen und zu finden ist, für die ausgewählte Produktion aber ein
eindrucksvolles Ambiente schafft. Auf dem Programm steht nämlich die
zeitgenössische Oper Angel's Bone der chinesischen Komponistin Du Yun.
Das Werk wurde am 6. Januar 2016 beim Prototype Festival in New York City
uraufgeführt und 2017 mit dem Pulitzer Preis in Musik ausgezeichnet. Nach einer
Produktion in Augsburg in der vergangenen Spielzeit ist Wuppertal das
zweite Haus in Deutschland, das dieses Werk auf den Spielplan stellt.
Girl Angel (Anna Angelini) und Boy Angel (Jason
Lee) landen auf der Erde im Garten von Mr. und Mrs. X.E.
Yun behandelt in ihrer insgesamt zweiten Oper ein ernstes, aber auch heute noch
sehr relevantes Thema: moderne Sklaverei und Menschenhandel. Erzählt wird die
Geschichte des Ehepaares Mrs. und Mr. X.E. Dabei wirft bereits der Name Fragen
auf. Steht er für ein x-beliebiges Paar oder handelt es sich um eine Abkürzung?
Denkbar wäre, dass E. für den paradiesischen Garten Eden steht, aus dem die
Menschen einst vertrieben worden sind, also gewissermaßen eX Eden. Jedenfalls
landen eines Tages im Garten dieses frustrierten Ehepaares zwei Engel, die von
ihrer langen Reise erschöpft sind. Das Ehepaar beschließt aus Angst, dieses
göttliche Geschenk wieder zu verlieren, den Engeln die Flügel zu rupfen und sie
zu domestizieren. Besucher*innen von nah und fern werden eingeladen, um gegen
eine großzügige Spende die Engel zu betrachten. Dabei werden die Engel immer
mehr ausgenutzt und die Menschen immer übergriffiger. Mr. X.E. misshandelt den
weiblichen Engel, während Mrs. X.E. glaubt, mit einem Engelskind schwanger zu
sein und sich als Reinkarnation der heiligen Mutter Maria betrachtet. Mr. X.E.
bereut seine Taten und will den Engeln ihre Flügel zurückgeben. Doch es ist zu
spät. Er stirbt, während seine Frau die Engel gehen lässt. Als Gast in
einer Fernsehshow präsentiert sie sich anschließend selbst als Opfer und erweist
sich im Scheinwerferlicht als geborene Schauspielerin. Doch ihr Gewissen klopft
schließlich ohrenbetäubend an die Tür und entlarvt sie als Lügnerin.
Mrs. X.E. (Edith Grossman) starrt gebannt auf den
Fernseher (rechts und links: der Opernchor).
Sammy van den Heuvel hat in der Alten Glaserei einen beklemmenden Bühnenraum
geschaffen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Das Publikum schließt die Bühne, die
aus einem T-förmigen Steg besteht, in drei Blöcken von zwei Seiten ein. Unter
dem Steg befindet sich ein Gang, der wie ein langer Käfig wirkt. Hier werden die
Engel, nachdem ihnen die Flügel gerupft worden sind, zunächst eingesperrt. Während in der Oper eigentlich nur drei Engel,
ein Girl Angel, ein Boy Angel und ein Archangel, vorkommen, führt Regisseurin
Jorinde Keesmaat noch mehrere Statistinnen ein, die ebenfalls als "Ware Engel"
gehandelt werden. Der lange Gang unter dem Steg steht vielleicht für den
beschwerlichen Weg, den Menschen auf der Suche nach einer besseren Zukunft über
Schleuserbanden auf sich nehmen. Auf der rechten Seite des Stegs befindet sich
ein Sessel. In ihm sitzt Mrs. X.E. zu Beginn des Abends und verfolgt eine Show
im Fernseher, der nur durch ein Flackern in der Beleuchtung angedeutet wird. In
der Mitte des Stegs befindet sich eine Art Schrank. Hier bereitet Mrs. X.E. nach
dem Auftritt ihres Mannes das Essen vor. Darauf wird später auch der Girl Angel
von Mr. X.E. grausam misshandelt.
Das Sinfonieorchester Wuppertal ist auf einem Podest in der Nähe des Eingangs
untergebracht. Wenn die Zuschauer*innen kurz vor Beginn der Vorstellung in den
Saal gelassen werden und sich durch das Dunkel auf die drei Blöcke verteilen,
ist der von Ulrich Zippelius einstudierte Opernchor der Wuppertaler Bühnen
bereits im Einsatz, kauert sich von allen Seiten an den Steg und stößt
unartikulierte Laute aus. Man hat das Gefühl, dass die Chorsänger*innen sich
durch die Gänge zu verständigen suchen. All das schafft eine leicht unheimliche
Atmosphäre. Wenn das Stück dann beginnt, geht der Gesang des Chors in eine Art
Choral über, und die Chorsänger*innen besteigen ein Podest, das sich neben dem
Orchester befindet. Yuns Musiksprache vereint auf unkonventionelle Weise
Elemente aus Klassik, Punkrock, Kabarett und Elektronik und ist dabei in
ihrer Poesie ähnlich schonungslos wie die Handlung des Stückes.
Mr. X.E. (Zachary Wilson, links) und Mrs. X.E.
(Edith Grossman, auf dem Steg in der Mitte) preisen den Besucher*innen (auf der
rechten Seite von links: Ja-Young Park, Marco Agostini und Andreas Heichlinger
aus dem Opernchor) die Engel (Statisterie) an.
Das Publikum bleibt keineswegs nur in der Rolle der Betrachtenden. Durch die
Nähe zum Geschehen auf der Bühne wird es stellenweise in die Handlung direkt mit
einbezogen. Wenn das Ehepaar X.E. Besucher*innen einlädt, die Engel zu
betrachten, verteilt beispielsweise Mrs. X.E. im Saal Zettel mit der Telefonnummer,
unter der man einen Termin buchen kann. Im weiteren Verlauf gibt es zur Feier
der Veranstaltung auch Sekt. Wenn Mrs. X.E. am Ende selbst Teil einer
Fernseh-Show wird, nimmt sie im Publikum Platz und beantwortet quasi wie eine
Zuschauerin die ihr gestellten Fragen. Insgesamt bleiben jedoch die TV-Szenen
sehr abstrakt. Vielleicht spielen sie sich genauso in Mrs. X.E.s Kopf ab wie die
Videoprojektionen, mit denen Frouke ten Velden Einblick in Mrs. X.E.s Inneres
gewährt. Zwar stilisiert sich Mrs. X.E. auch auf der Bühne mit einem langen
blauen Tülltuch als Madonna. Die Videoprojektionen zeigen sie dabei jedoch
noch viel hehrer und später auch mit dem Engelskind schwanger. Am Ende machen
sie allerdings auch deutlich, wie das eigene schlechte Gewissen Mrs. X.E.
heimsucht und ihr falsches Spiel offenbart.
Mrs. X.E. (Edith Grossman) stilisiert sich als
Madonna (auf der linken Seite Mr. X.E. (Zachary Wilson) mit einem gerupften
Engelflügel).
Mit Edith Grossman, Jason Lee und Zachary Wilson kann man an diesem Abend
bereits drei Solist*innen kennenlernen, die bereits jetzt oder im Falle von
Wilson ab 2024 zum neuen Wuppertaler Ensemble gehören. Grossman überzeugt als
Mrs. X.E. mit einem satten Mezzosopran und intensivem Spiel. Eindrucksvoll gibt
sie die frustrierte Ehefrau, die durch die Engel zunächst neue Hoffnung schöpft,
sie dabei jedoch schonungslos für ihre eigenen Zwecke ausnutzt. Dabei gelingt
ihr der Wechsel zur stilisierten Heiligen sehr glaubhaft, bevor
sie am Ende an ihrer Schuld zerbricht. Yun findet für den Schluss einen
schonungslosen Klang, der zunächst unerträglich wird und dann abrupt abbricht.
Lee überzeugt mit weichem Tenor als geschundener Boy Angel, der von einem "Female
customer" (Banu Schult aus dem Opernchor) missbraucht wird. Wilson punktet als
Mr. X.E. mit kraftvollem Bariton, der sich zunächst von seiner Frau lenken
lässt, sich dann jedoch rücksichtslos an dem Girl Angel vergreift. Eindrucksvoll
wird seine Reue in Szene gesetzt. Vier vermummte schwarze Gestalten aus dem Chor
suchen ihn regelrecht heim und sperren ihn in einen von dem Steg gelösten Käfig.
Über ihm hängt dabei eine Art Felsen von der Decke herab.
Mr. X.E. (Zachary Wilson) missbraucht den Girl
Angel (Anna Angelini).
In den weiteren Rollen sind Anna Angelini und Gerben van der Werf als Gäste zu
erleben. Angelini gibt den Girl Angel mit zartem Sopran sehr verletzlich. Ihre
Misshandlung spielt sie überzeugend aus. Hierbei möchte man am liebsten
wegschauen, weil die Brutalität der Szene kaum zu ertragen ist. Genauso
gnadenlos wie das Geschehen auf der Bühne ist dabei die Musik von Yun, die
Johannes Witt mit dem Sinfonieorchester Wuppertal so direkt herausarbeitet, dass
Weggucken allein nicht reichen würde. Hier müsste man auch weghören, um diese
Bilder aus dem Kopf zu bekommen. Van der Werf stattet den Archangel mit
leuchtendem Countertenor aus, der in Keesmaats Inszenierung genauso zur "Ware
Engel" wird wie die anderen Figuren. Der von Ulrich Zippelius einstudierte Chor
überzeugt nicht nur durch Homogenität sondern auch in kleineren Solopartien. So
kann man die Eröffnungspremiere der neuen Intendantin als durchaus gelungen
bezeichnen, auch wenn es sich dabei wirklich um harte Kost handelt, auf die sich
das Premierenpublikum allerdings einlässt.
FAZIT
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Produktionsteam
Musikalische Leitung Inszenierung
Bühne und Kostüme Video- und Lichtdesign Choreographie
Choreinstudierung Dramaturgie
Sinfonieorchester Wuppertal Opernchor der
Statisterie der Solistinnen und Solisten
Mrs. X.E.
Mr. X.E.
Girl Angel
Boy Angel
Archangel
Man on TV
The female customer
TV Host
Customers
|
- Fine -