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Kirche und Freiheit - aber Freiheit wovon und wofür eigentlich?
Von Stefan Schmöe
Es ist ein Neustart für das von Pina Bausch gegründete Tanztheater Wuppertal: Boris Charmatz, seit einem Jahr künstlerischer Leiter der Compagnie, stellt seine erste repertoirefähige Choreographie am Haus vor (zuvor war er im Frühjahr mit dem Projekt Wundertal unter Einbeziehung vieler Laientänzer:innen auf die Straßen unter der Wuppertaler Schwebebahn gezogen). Weil in der eigentlichen Spielstätte, dem Wuppertaler Opernhaus, gerade die Schäden des Hochwassers von 2021 beseitigt werden, ist das Haus momentan nicht bespielbar. So musste - oder durfte, wie man's nimmt - Charmatz ausweichen in den "Mariendom" im benachbarten Velbert-Neviges. Die von Gottfried Böhm 1966 - 1968 erbaute Wallfahrtskirche aus Sichtbeton ist nach dem Kölner Dom die zweitgrößte Kirche des Erzbistums, was ihr den irreführenden Namen "Dom" einbrachte. Der dunkle und mächtige, sich zeltartig erhebende Innenraum ist dafür bis auf den Altar leergeräumt worden; zwei Stuhlreihen (die hintere erhöht) umgeben die Tanzfläche, die als solche nicht abgegrenzt ist (eine Bühne gibt es nicht), die man aber, einigermaßen komisch, als Besucher auf der Suche nach einem freien Platz nicht betreten darf - da sind die Platzanweiserinnen streng. Das wahre Heiligtum ist also an diesem (und sechs weiteren) Abenden der Tanz. Ensemble (Foto: © Evangelos Rodoulis)Beim Einlass ist der Raum in monochromatisch gelbes Licht getaucht, das alle anderen Farben als Grautöne erscheinen lässt. Dazu ertönen elektronisch erzeugte Sinustöne, auch das als "Schwebung" bezeichnete charakteristische An- und Abschwellen zweier Töne mit minimal unterschiedlicher Tonhöhe (tatsächlich besteht das gelbe Licht der Natriumlampen auch aus zwei minimal unterschiedlichen Frequenzen - ob das eine Bedeutung haben soll?) Jedenfalls herrscht eine unnatürliche, leicht befremdliche Atmosphäre, die sich der sakralen Aura vehement entgegenstellt. Das Licht bleibt, wenn das Ensemble in den Raum stürzt, die Tonkulisse allerdings verschwindet. Dafür singen Tänzerinnen und Tänzer die Oberstimme des zweiten Satzes aus Beethovens letzter Klaviersonate, rezeptionsgeschichtlich gerne als Weltabschiedswerk des Komponisten oder als Beschreibung des Jenseits gedeutet. Natürlich lässt sich diese Musik nicht vernünftig singen, schon gar nicht, wenn man zwischendurch bis an die physischen Grenzen rennen und fallen, den Raum erobern und sich zusammenfinden muss. Den Tänzerinnen und Tänzern gelingt der Versuch musikalisch sehr achtbar und mit erstaunlicher Tonreinheit und Sicherheit. Es hilft beim Zuschauen, Beethovens Variationssatz einigermaßen im Ohr zu haben, um die hier immer wieder durch Pausen unterbrochenen Konturen der Komposition nachzuvollziehen. Charmatz bemüht im Marienheiligtum nicht nur eines der Heiligtümer der Musikgeschichte, er verknüpft die Musik auch mit Bewegung und das Atemholen mit Pausen. Man kann dahinter Pina Bauschs Ausruf "Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren" (den Wim Wenders zum Titel seiner Filmdokumentation über das Ensemble machte) heraushören. Problematisch bleibt, dass Charmatz zwar mit extrem hoher Power den Wechsel von dynamischer Bewegung und Erstarrung zeigt, aber für den rund zwanzigminütigen Satz (der durch die Pausen noch gedehnt wird) keine wirklich zwingende Bewegungssprache findet. Rennen, stürzen, abrollen auf hartem betonboden - das ist auf Dauer eben auch ermüdend anzuschauen. (Foto: © Uwe Stratmann)
Vom der Formensprache des klassischen Balletts ist bei Charmatz, das war klar, nichts zu sehen, und auch so etwas wie die "Schönheit" oder "Eleganz" von Tanz sucht man vergebens. Das setzt sich fort in den ziemlich hässlichen Kostümen (Florence Samain), überwiegend Sportkleidung vom Badeanzug bis zu Shorts, dazu gerne Netzstrümpfe, und irgendetwas Schwarzes - sehr individuell, angesiedelt irgendwo zwischen Alltag und artifizieller Banalität. Die Choreographie ist ruppig, ziemlich dynamisch und kraftvoll (und auch sehr schweißtreibend). Eine Abfolge von Solo, Pas de deux und Ensemble gibt es nicht; praktisch durchgehend ist das gesamte Ensemble auf der Bühne, und oft passieren viele Dinge gleichzeitig. Regelmäßig finden sich mehrere oder auch alle Tänzer:innen zu skulpturalen Gruppen zusammen. Ursprünglich bezeichnete der von Pina Bausch gewählte Begriff "Tanztheater" ja eine collagierte Form mit vielen Sprechszenen (oft sehr persönliche Aussagen der Darsteller:innen oder an sich banale Alltagsmomente, die in der Gesamtform den unvergleichlichen Stil Bauschs ergaben). Das greift Charmatz nicht auf, hier grenzt sich "Tanztheater" begrifflich gegen das neoklassische Ballett ab. Mit kleinen Ausnahmen. Es gibt eine Passage, da verschieben sich die Grenzen: Eine Tänzerin "erzählt" mit unhörbar leiser Stimme, aber gestenreich von sexuellen Misshandlungen, die in diesem Kirchenraum (den man sich dann erweitert vorstellen muss: Innerhalb der katholischen Kirche) geschehen sein müssen. Andere laufen mit weit aufgerissenen Mündern herum, es fallen ein paar Sätze über die Endlichkeit des Menschen. In der Summe sind das Plattitüden - was einem eben so zur katholischen Kirche einfällt. Es bleibt der schwächste, bemühteste Teil des Abends. Frank Willens (Foto: © Laszlo Szito)Strukturiert ist das Stück in fünf Blöcke (zwei davon verschmelzen allerdings in der Wahrnehmung zu einem). Auf die Eroberung des Kirchenraums mit Beethoven auf den Lippen folgt eine Sequenz mit (elektronisch eingespieltem) Glockengeläut als durchaus faszinierender Klangkulisse, wobei sich unterschiedliche Glocken überlagern. Das Ensemble verfällt bei inzwischen hellem weißem Licht in pendelnde Bewegungen, mit denen die Bewegung einer Glocke aufgenommen wird. Dabei hat jede Tänzerin, jeder Tänzer ein eigenes, sich veränderndes Bewegungsmuster mit sehr unterschiedlichem Ausdrucksgehalt zwischen Zärtlichkeit und Aggressivität. Diese emotionale Bandbreite ist aber kaum ausformuliert, wirkt zufällig und dadurch auch einigermaßen belanglos, als sei die Choreographie im Stadium "nun macht mal bitte irgendwas Glockenartiges" streckengeblieben. Danach folgen zwei Abschnitte ohne Musik, bei denen die Geräusche des Raumes zum Klang werden. Hier geht es um die bereits erwähnten Anspielungen auf Missbrauch, dann um die Einbindung des Publikums in bestimmte Aktionen (etliche Besucher:innen fassen sich an den Händen und bilden einen großen Kreis). Mitmachtheater mit einem gewissen Niedlichkeitsfaktor. Auch hier bleibt die Choreographie ziemlich hemdsärmlig. Cağdaş Ermiş und Ensemble (Foto: © Uwe Stratmann)
Im letzten Teil füllt die Orgel den riesigen Raum aus - Organist Jean-Baptiste Monnot spielt eine Komposition von Phill Niblock, die aus raumgreifend vollen, beinahe clusterartigen Akkorden besteht, die sich ganz langsam durch das Weglassen oder Hinzufügen eines Tones verändern. Auf der Tanzfläche legen sich die Akteure zu einer skulpturalen Figur, die an einen Leichenberg denken lässt, und einzelne Tänzerinnen und Tänzer laufen über die Körper hinweg, dass einem der Atem stockt. Nach und nach richten sich die Körper gegenseitig wieder auf. Charmatz stellt im Programmheft das Motiv des Berührens in den Mittelpunkt ("Ich berühre Dich und wir kommen in Bewegung"). Im Nevigeser Kirchenraum liegt die Assoziation von Tod und dem Jüngsten Gericht deutlich näher - und eine andere: Ganz ähnliche Bilder von Leichenbergen sind von den Soldaten der Alliierten 1945 nach der Befreiung der Konzentrationslager gemacht worden. Es sind die nachhaltigsten, auch verstörendsten Eindrücke des knapp zweistündigen (ohne Pause getanzten) Abends. Simon Le Borgne, Johanna Lemke (Foto: © Laszlo Szito)Die Tänzerinnen und Tänzer des Wuppertaler Tanztheaters werden verstärkt durch Charmatz' französische Compagnie Terrain. Inwieweit sich das Aufeinandertreffen zweier Kollektive inspirierend auf die Choreographie ausgewirkt hat, lässt sich wohl nur aus der Innenansicht nachvollziehen - das mag ein kreativer Prozess gewesen sein, der dem Publikum aber verschlossen bleibt. Spannender bleibt die Auseinandersetzung mit diesem ganz besonderen Kirchenraum und seiner Aura, insbesondere im von der Orgel unterlegten letzten Teil. Emotional berührend aber wird es kaum. Und worin besteht eigentlich die Freiheit, die Charmatz im Titel mit dem großen Wort Liberté anspricht? Boshaft gesagt: In einer gewissen Beliebigkeit. Die zeigt sich schon darin, dass Liberté Cathédrale weiterzieht in die koproduzierenden Theater in Lyon und Paris, wo es gar keinen Kirchenraum gibt, der den Rahmen bildet. Nach moderner Choreographenlogik sind die damit verbundenen Transformationen des Stücks Teil des künstlerischen Konzepts. Ob die tänzerische Substanz dafür tragfähig genug ist, das ist eine andere Frage.
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