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Jahrmarkt der Gefühle Von Thomas Molke / Fotos: © Ursula Kaufmann, Karl Heinz Krauskopf und Oliver Look
Wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft bei der Europa-Meisterschaft um den Einzug ins Viertelfinale kämpft, die Parkplätze und die Hauptzufahrtstraße zum Opernhaus mit dem "Langen Tisch 2024" anlässlich des 95. Geburtstags der Stadt Wuppertal gesperrt sind und die Vorstellung im Wuppertaler Opernhaus dennoch ausverkauft ist, muss schon etwas ganz Besonderes laufen, was das Publikum von nah und fern unter diesen widrigen Umständen nach Barmen lockt. Es handelt sich um die letzte Aufführung der Neueinstudierung von Pina Bauschs Viktor vor der Sommerpause. Das Stück erlebte am 14. Mai 1986 im damals noch existierenden Schauspielhaus Wuppertal seine Uraufführung und entstand in einer Zeit, als sich schon ein treues Fan-Publikum gebildet hatte und Pina Bausch auch international immer mehr Beachtung geschenkt wurde. Nach Er nimmt sie an der Hand und führt sie in sein Schloss, die anderen folgen... 1978 und Walzer 1982 war es das dritte Mal, dass ein Stück in Kooperation an einem fremden Ort mit einer fremden Institution entstand. Im Fall von Viktor handelt es sich um eine Koproduktion mit dem Teatro Argentina di Roma. Bausch begab sich mit ihrer Compagnie nach Italien und ließ dort zahlreiche Eindrücke in das Stück einfließen. Nachdem es 2014 anlässlich des 40-jährigen Jubiläums "PINA40" zur letzten Neueinstudierung kam, steht das Stück nach weiteren 10 Jahren nun erstmals wieder auf dem Programm. Frank Willens als feine Dame (im Hintergrund: Tänzerinnen) (© Oliver Look) Mit dem Titel verbindet man unweigerlich Dominique Mercy, der viele Jahre als Tänzer die Compagnie geprägt hat und unlängst gemeinsam mit Josephine Ann Endicott, Malou Airadou und Lutz Förster bei der Tanzpreis-Gala in Essen mit dem Deutschen Tanzpreis als bedeutender Weggefährte Bauschs geehrt wurde. Auch auf dem neuen Programmheft ist er in unverwechselbarer Pose abgebildet, in schwarzem Anzug mit umgehängtem Mantel, einem schwarzen Hut, einer Zigarette in der Hand und dem markanten verträumten Blick. Ob es sich bei dieser Figur um den Titelgeber des Stückes handelt, lässt der Tanzabend offen. Der Name fällt in dem Stück genau einmal, wenn eine Tänzerin (Breanna O'Mara) im Sitzen expressiv nach vorne gerutscht ist und zu einer männlichen Stimme aus dem Off die Lippen bewegt. Ihr Name sei Viktor. Viktor sei in Gefahr und bitte um einen Unterschlupf, sei auch bereit, Tür und Fenster zu schließen, falls es zieht. Mehr erfährt man von Viktor an diesem Abend nicht. Vielleicht ist er auch das namenlose Kind im Märchen der Großmutter aus Büchners Woyceck, das Julie Anne Stanzak an diesem Abend zweimal in recht aggressivem Tonfall erzählt. Julie Shanahan (mit Alexander López Guerra (links) und Milan Nowoitnick Kampfer (rechts)) präsentiert Kleider (© Ursula Kaufmann) Ansonsten lebt der gut dreieinhalbstündige Abend von kurzen Szenen, die mal skurril, mal lustig und mal traurig sind und dabei passend zur jeweiligen Stimmung mit klassischer Musik oder Unterhaltungsmusik untermalt werden. Julie Shanahan, die mit Tsai-Chin Yu neben zwei Tänzerinnen der Uraufführung 1986, Héléna Pikon und Bénédicte Billiet, die Proben zur Neueinstudierung geleitet hat, eröffnet den Abend selbst auf der Bühne und tritt in einem roten Kleid auf. Die Arme hat sie hinter dem Rücken verschränkt, so dass es so aussieht, als ob sie keine Arme habe. Während sie lächelnd ins Publikum blickt, ertönt Aram Khatchaturians berühmter Walzer aus der Masquerade Suite, der sehr eng mit dem klassischen Tanz verbunden ist. Shanahan bewegt sich allerdings dazu nicht, sondern blickt nur ins Publikum und schreitet erhaben auf die Rampe zu. Schließlich tritt ein Tänzer auf, der ihr einen schwarzen Pelzmantel umlegt und sie von der Bühne führt. Es folgen mehrere teils skurrile Szenen. Tänzer legen zwei Teppiche auf der Bühne aus. Eine Frau legt sich auf einen der Teppiche und wird von einem Tänzer eingerollt. Frank Willens tritt als fein gekleidete Dame mit großem Hut mit zwei Steinen auf, die er dem Publikum übergibt. Andrey Berezin führt Tsai-Wei Tien, die unaufhörlich Kinderlieder singt, etwas genervt über die Bühne und versucht, den Gesang zu unterbinden. Zunächst legt er sie auf den Boden und deckt sie mit ihrem Mantel zu. Da Tien aber nicht aufhört zu singen, legt er den Mantel schließlich über ihr Gesicht, bis sie endlich verstummt. Aida Vainieri und Alexander López Guerra betreten als Paar die Bühne und legen sich auf den Boden. Anschließend werden sie von Franko Schmidt wie zwei leblose Puppen getraut, wobei Schmidt zum "Ja"-Wort ihre Köpfe bewegt und die beiden schließlich zum Kuss zueinander dreht. Aida Vainieri wird von den Tänzern "geformt" (von links: Dean Biosca, Milan Nowoitnick Kampfer und Alexander López Guerra) (© Ursula Kaufmann) Die Bühne von Peter Pabst ist von hohen braunen Felswänden eingerahmt und vermittelt eine sehr düstere Atmosphäre. Immer wieder steht Andrey Berezin oben auf den Wänden und schaufelt Erde auf die Bühne herab, so dass der Eindruck entsteht, man befinde sich in einem Grab, das allmählich zugeschaufelt wird. In diesem Grab erzählen die Tänzerinnen und Tänzer zahlreiche kleine Geschichten, die häufig auch die Konflikte zwischen Männern und Frauen thematisieren. Besonders tragische Rollen kommen dabei Aida Vainieri zu, die krampfhaft versucht, den anderen zu gefallen, dabei aber immer wieder gedemütigt wird. Zunächst gibt sie die verlassene Geliebte. Ein Tänzer umarmt eine Tänzerin und küsst sie wild. Vainieri stellt sich vor die Tänzerin, so dass die Arme des Tänzers sie nun leidenschaftlich berühren, auch wenn seine Gefühle der anderen Frau gelten. Dann versucht sie, einen Mann zu küssen, ohne dabei den Blick vom Publikum abzuwenden, so dass der Kuss relativ unwirklich erscheint. Ein weiterer Tänzer befiehlt ihr durch Klatschen, in heftiges Gelächter auszubrechen und genauso plötzlich wieder zu verstummen. Anschließend wird sie mit Wasser überschüttet, muss aber weiter beim Klatschen fröhlich sein. Anschließend wird sie von drei Tänzern geformt, während sie aus einem Buch ein Märchen in Kurzform vortragen muss. Später wird sie von Willens als mondäner Dame gedemütigt, der Vainieri alles recht machen möchte, dabei jedoch immer wieder in ihre Schranken gewiesen wird. Vainieris Mimik geht dabei unter die Haut. Ihr großartig komödiantisches Talent entfaltet sie dann mit zwei weiteren Tänzerinnen, die rauchend ein heruntergekommenes Restaurant betreiben. Franko Schmidt nimmt als Gast an einem etwas entfernten Tisch Platz und wartet verschüchtert darauf, dass die Bedienung kommt. Nachdem Vainieri zunächst deutlich gemacht hat, dass sie auf diesen Gast eigentlich gar keine Lust hat, knallt sie ihm die Karte auf den Tisch und nimmt unfreundlich die Bestellung entgegen. Als er dann eine weitere Bedienung fragt, was das denn für Essen sei, kommentiert das Vainieri kurz mit einer Nummer, ohne zu berücksichtigen, dass der Gast etwas anderes bestellt hat. Seinen Wunsch nach einem Kaffee wiegelt sie damit ab, dass die Maschine kaputt sei. Man kann nur mutmaßen, ob die Compagnie bei dem Rom-Aufenthalt ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Bemerkenswert ist auch Blanca Noguerol Ramírez, die eine Auktion leitet und ohne Punkt und Komma die einzelnen Gebote wiederholt, während die Tänzer die zu versteigernden Waren über die Bühne tragen. Ein Gefühl von Schwerelosigkeit (an den Ringen: Luciény Kaabral, im Hintergrund: Tänzerinnen und Statisterie) (© Karl Heinz Krauskopf) Neben den teils traurigen Alltagsszenen, die zu melancholischer Musik unter die Haut gehen, gibt es auch große Ensembles, die von einer gebückten Gestalt (Scott Jennings) mit Stock als Spielleiter dirigiert werden. Bei der Gestalt weiß man nicht, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, da über der schwarzen Hose ein Rock getragen wird und der Kopf komplett mit einem schwarzen Tuch bedeckt ist. Erst sieht man zu italienischer Volksmusik die Frauen von rechts auftreten und dabei ihre Haare kraftvoll von hinten nach vorne schütteln. Dann gehen sie in einen bewegenden homogenen Ausdruckstanz über, der von der Gestalt aber immer wieder korrigiert und kritisiert wird. Diese Szene wird von den Frauen zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal wiederholt. Am Ende tanzen die Männer diese Sequenz, die sich vorher auch an der Rampe geschminkt haben. Regelrecht romantisch wird es zur Tanzmusik aus den 30er Jahren. Zu "Hm, hm, du bist so zauberhaft" von Rudi Schuricke tanzen die Tänzerinnen und Tänzer paarweise verliebt durch das Publikum. Auch zu "Cheek to Cheek" und "Puttin' On the Ritz" wird es sehr nostalgisch. Aus dem Schnürboden werden Ringe herabgelassen, an denen die Tänzerinnen nahezu schwerelos durch den Raum schweben. So wird es in diesen knapp dreieinhalb Stunden eigentlich niemals langweilig, und das Publikum bedankt sich mit stehenden Ovationen. FAZIT Viktor hat auch nach fast 40 Jahren nichts von seinem
ursprünglichen Charme verloren und wird auch von der neuen Tänzer*innen-Generation
zusammen mit einigen Altgedienten wunderbar umgesetzt. |
ProduktionsteamInszenierung und Choreographie
Probenleitung Neueinstudierung
Mitarbeit Proben Bühne Kostüme
Dramaturgie
Mitarbeit
Probe Statisten Statisterie Tänzerinnen und Tänzer*rezensierte Aufführung *Andrey Berezin
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