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Das romantische Liebespaar hat ausgedientVon Stefan Schmöe / Fotos von Ingo Höhn
Die Geschichte des wohl berühmtesten Liebespaares der Theatergeschichte möchten die beiden isländischen Choreographinnen Erna Ómarsdóttir und Halla Olafsdóttir nicht erzählen. Jedenfalls nicht in konventioneller Gestalt als Handlungsballett, selbst wenn die Musik überwiegend von Sergej Prokofjew stammt. Der isländische Musiker und Videokünstler Valdimar Jóhannsson hat neue Musik hinzukomponiert, eine Art elektronisches Rauschen, und eine Sängerin (an diesem Abend Emily Adomah) betreibt ein wenig Vokalakrobatik. Allzu sehr ins Gewicht fällt das gegenüber Prokofjews 1935 entstandener, hier deutlich gekürzter Ballettmusik (die vom Band eingespielt wird) nicht. Eher schaffen die Einschübe Brüche im Ablauf und Irritationsmomente. Denn nicht nur der Titel ist umgestellt und nennt jetzt die Frau zuerst, sondern auch die Ballettkonventionen werden mehr als nur hinterfragt. Es gibt keine festen Rollen mehr und damit auch keine Hierarchien zwischen Solo und Ensemble, keine Julia und keinen Romeo. Es gibt ab und zu Liebespaare, wobei das biologische Geschlecht bedeutungslos ist. Auch in den Kostümen spiegelt sich das nicht mehr. Insofern ist jede und jeder auf der Bühne gleichzeitig Julia und Romeo. Und wenn es um Paare geht, dann wird nie ein Pas de deux getanzt, sondern es agiert immer das komplette zweiundzwanzigköpfige Ensemble. Auflösung klassischer Formen: Das Ensemble im ersten Teil.
Dabei lässt sich im (stärkeren) ersten Teil des Abends die Handlung noch grob nachverfolgen. Das Stück ist in klar abgegrenzte Szenen eingeteilt, die teilweise der Geschichte folgen, teilweise diese durchbrechen. So beginnt der Abend, indem die Tänzerinnen und Tänzer durch den Zuschauerraum auftreten, sehr langsam und diesen erst einmal mit ihrer Präsenz füllend, und dabei flüsternd vor sich hin sprechen - vermutlich Shakespeare. Später gibt es eine Szene, in der das Ensemble an der Rampe steht und jede(r) sich dem Publikum vorstellt. Man nennt die eigene "Rolle", die es ja - siehe oben - in konventioneller Form gar nicht gibt. Das kann man als Reminiszenz an das Tanztheater Pina Bauschs betrachten, das in den frühen Stücken oft mit diesem Mittel gearbeitet hat. Grandios gelingt es dem Choreographinnenduo, die Szene aufzulösen und in Tanz übergehen zu lassen. Jazz Dance und Show Dance sind nicht weit, und manche Formation hat den Charakter einer Revue. Schöne Hebefigur im herzförmigen Bett - aber nur noch als ein Zitat der klassischen Ballettkunst.
In einigen Szenen sieht man Figuren des klassischen Balletts (allerdings wird nicht auf Spitze getanzt, obwohl das als Zitat durchaus Sinn ergeben würde), die aber nicht mehr einem vorgegebenen Ablauf folgen, sondern isoliert für sich stehen, und zwar viele verschiedene Elemente gleichzeitig. Die akademische Konvention erscheint als Zitat ohne inhaltlichen Sinn. Die Choreographinnen sprechen in diesem Zusammenhang von "Exorzismus". Gleichwohl sind diese Szenen eindrucksvoll choreographiert. Das klassische Vokabular wird zum Steinbruch für eine nicht unbedingt neue, aber in der Absage an konventionelle Formen neu gedachte Tanzsprache. Diese schöpft eher die Energie des klassischen Balletts als dessen Ästhetik ab und bedenkt die Tradition samt ihrem Schönheitsideal mit einiger Ironie. In der Wirkung ist das ungemein kraftvoll. Die Baseler Compagnie bewältigt die Aufgaben beeindruckend. Wenn schon nicht in der Musik, so darf der Hardrock im zweiten Teil wenigstens szenisch präsent sein.
So gibt es beispielsweise eine große surreale Hochzeitsszene, in der etliche Paare mit Schleier in hautfarbenen Kostümen zu einer Art Trauzeremonie schreiten. Die aufgedruckte Schambehaarung hat natürlich auch hier für das Geschlecht keine Bedeutung. Als Pater erscheint hier die Vokalkünstlerin. Es gehört zu den Stärken der Produktion, die auf einer Choreographie am Münchner Gärtnerplatztheater aus dem Jahr 2018 basiert, dass solche Momente mehr sind als nur Persiflage, sondern ein Ritual in die Popkultur transformieren. Als Zeichen der Liebe senken sich an anderer Stelle unzählige leuchtende Herzen über die Szene. Ein riesiges Bett hat natürlich Herzform. Kitsch wird gefeiert, nichts ist echt und gleichzeitig eben doch. Ein Pubertierendendrama? Ja und nein. Ein Drama der ganz großen Gefühle (und ganz großen Bilder) auf jeden Fall, mit viel Power inszeniert. Und auf ganz eigene Weise mitreißend. Gegen Ende wird die Angelegenheit zunehmend blutiger.
Auf die Liebe folgt die Gewalt. Nach der Pause wird eine Plane ausgerollt, und dann überschütten sich die Akteure eimerweise mit Kunstblut. Das Problem der Szene ist weniger die (kalkulierte) Trivialität, sondern sind die damit verbundenen tänzerischen Einschränkungen. Wedelnde Arme hat man irgendwann zur Genüge gesehen. Es bleibt der Eindruck, dass dies die alles beherrschende Geste im zweiten Teil darstellt. Wenn die Blutorgie vorüber ist, müssen die Bühne aufgeräumt und die Akteure notdürftig gesäubert werden. Überbrückt wird das mit einer Videosequenz (Valdimar Jóhannsson), die das Ensemble bedeutungsschwer in einem Fluss badend zeigt, mit allerlei surrealen Verfremdungen. Aber danach fehlt das tänzerisch große Finale. Die vielen Julias oder Romeos finden sich letztendlich überraschend kraftlos in der Bildwelt von Heavy Metal und Death Metal wieder.
Die Produktion wird ihrer Bezeichnung "Tanzspektakel" auf faszinierende Weise gerecht, wenn auch mit ein paar Erschöpfungserscheinungen im zweiten Teil. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Choreographie
Bühne
Kostüme
Video
Lichtdesign
Ton
Gesang
Tänzerinnen und TänzerFeiza BessardEva Blunno Lydia Caruso Yaëlle Chassin Dayne Florence Marina Sánchez Garrigós Karat Kila Carlos Kerr Jr. David Lagerqvist Dario Minoia Stefanie Pechtl Jan Chris Pollert Anthony Ramiandrisoa Reika Shirasaka Ekaterina Shushakova Tana Rosás Suñé Giulia Torri Thalia Tulkens Sophie Vergères Jin Young Won Cheng-An Wu Max Zachrisson
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