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Musiktheater
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Musik für die Lebenden

Oper in zwei Akten und einem Intermezzo Liebe und Pflicht
Libretto von Robert Sturua
Musik von Gija Kantscheli


in mehreren Sprachen mit deutschen und englischen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2h (eine Pause)

Premiere im Opernhaus Bonn am 15. Juni 2025


Homepage

Theater Bonn
(Homepage)

Weltrettung durch die Musik

Von Stefan Schmöe / Fotos von Bettina Stoess

"Am Anfang war der Gesang. Und Gott war der Gesang." Komponist Gija Kantscheli und Librettist Robert Sturua variieren den Beginn des Johannes-Evangeliums und messen damit der Musik eine quasi-religiöse Bedeutung zu. Aus ihr kommt das Rettende und das Erlösende in einer Welt des Schreckens. Kantscheli (1935 - 2019), in Tiflis geboren und in hohen Ämtern des georgischen Musiklebens tätig (1980 wurde er zum "Volkskünstler der Georgischen Sowjetrepublik" ernannt), hat sich schon vor seiner Emigration 1991 nach Deutschland und später nach Belgien in Westeuropa einen Namen gemacht. Ähnlich wie der estnische Komponist Arvo Pärt steht er für eine Musikrichtung, die radikale Einfachheit mit archaischer Harmonik verbindet. Mit Anklängen an christlich-orthodoxe Kirchenmusik erwächst daraus eine sakrale Aura und eine ganz eigene Spiritualität. In einigen Szenen der Musik für die Lebenden ist es genau dieses Modell, das große Wirkung erzielt. Ruhige, sehr leise Klangflächen, kleine Tonschritte, ein an eine Litanei erinnernder Gestus - das sind die Ruhepunkte in einem in der Gesamtbetrachtung außerordentlich turbulenten Werk.

Vergrößerung in neuem Fenster Kriegsszenen im Theater, das man mit dem von russischen Bomben zerstörten Theater im ukrainischen Mariupol identifizieren kann.

Kantscheli, der auch eine Reihe von Film- und Theatermusiken komponierte, gibt sich hier aber als Polystilist. Uraufgeführt wurde Musik für die Lebenden 1984 in Tiflis. Die Bezeichnung "Oper" ist irreführend, denn eine klassische Handlung, die auf einer Geschichte basiert, gibt es nicht - besser spricht man von "Musiktheater". Robert Sturua, langjähriger künstlerischer Partner Kantschelis am Theater in Tiflis, hat eine revueartige Szenenfolge zusammengestellt, deren Textfragmente oft gar keinen unmittelbaren Sinn ergeben. Teilweise sind diese sumerisch (eine verschwundene, heute nicht zu verstehende Sprache). Der Klang, nicht der Wortgehalt hat Bedeutung. Wenn es aber um Textinhalt geht, wird es schnell aphoristisch bedeutungsschwer.

Die mehr in den umfangreichen Regieanweisungen als im tatsächlichen Text ausformulierte Erzählstruktur geht in etwa so: Man sieht einen Lehrer und Schulkinder bei einem Bombenangriff. Der Lehrer erblindet und wird von da an von einem Kind geführt. Das Militär rekrutiert Kinder, Menschen werden erschossen. Man nimmt teil an einer Propagandaveranstaltung im Sowjet-Stil und später an einem Begräbnis. In einer eingeschobenen Szene wird eine surreale Fabel über ein Krokodil gezeigt, das eine Hasenfamilie angreift, aber letztendlich überwältigt und bestraft wird. Im Zentrum des Stückes steht als Theater auf dem Theater eine ausladende Opernparodie. Kriegsversehrte treten auf, und eine (pantomimisch agierende) Frau mit Peitsche und ein Offizier sind immer wieder präsent. Schließlich erobert die Natur die verwüstete Stadt. Der Schluss gehört dem Kinderchor mit einem pantheistischen Schlusswort: "Erhelle uns deine Wege, o Sonne".

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Die Fabel von der Hasenfamilie und dem Krokodil erscheint im Stile alter Zeichentrickfilme.

Ähnlich collagenhaft wie in dieser ziemlich wilden Szenenfolge geht es in der Musik zu. Schrille, brutale Passagen wechseln mit betörender Kinderchormusik. Wenn am Ende des ersten Akts das Hamlet-Zitat "To be or not to be" aufgeworfen wird, wechselt die Musik zum Ragtime. Walzer - mal zerstörend, mal ganz zart - haben eine leitmotivische Funktion. Pathetische Chöre stehen leisen kammermusikalischen Passagen gegenüber. Und die Opernparodie verwendet eklektisch das Material vor allem der italienischen Oper von Monteverdi bis Puccini. Das Bonner Orchester und der Opernchor (Einstudierung: André Kellinghaus) passen sich mit bestechender Souveränität chamäleonartig dem jeweiligen Stil an. Traumwandlerisch entrückt, dabei aber mit tragfähigem Klang und sehr genauer Intonation singt der Kinder- und Jugendchor des Theaters (Einstudierung: Ekaterina Klewitz). Dirigent Daniel Johannes Mayr leitet den in jedem Ton mit großer Überzeugung dargebotenen Stilmix umsichtig.

Vergrößerung in neuem Fenster Theater auf dem Theater: Liebe und Pflicht, eine Parodie auf die klassisch-romantische Oper, thematisiert den schwierigen Umgang mit den Mächtigen.

Valérie Ironside beeindruckt mit glasklarer Mädchenstimme als Blindenführer, Rolf Rachbauer ist ein mit hoher Präsenz polternder Lehrer, Clélia Oemus als jugendliche Solistin singt mit kokettem Charme den "To-be-or-not-to-be"-Ragtime. Tae Hwan Yun, Tianji Lin, Katerina von Bennigsen, Ava Gesell und Giorgos Kanaris schlagen sich tapfer in der eingeschobenen parodistischen Oper "Liebe oder Pflicht". Darin verzichtet eine Frau auf das private Liebesglück und heiratet einen Tyrannen, um diesen irgendwie zu mäßigen - nur wird es schnell unübersichtlich, wer in der Handlung welche Motivation besitzt und welche Schuld auf sich geladen hat. Man kann daraus womöglich die Kunst und Notwendigkeit des Taktierens gegenüber dem Sowjetregime herauslesen. Großartig spielt Manon Greiner die stumme Frau mit der Peitsche, die selbige zwischendurch gegen das Band einer Sportgymnastin tauscht. Kurz: Das Bonner Ensemble gibt alles.

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Am Ende gehört die zerstörte Welt der Natur und den Kindern. An ein Happy End mag die Regie nicht glauben.

Was aber macht diesen grotesken Bilderbogen aus der Spätzeit der Sowjetunion heute aktuell? Die Musik sicher nicht, denn die ist über weite Strecken handwerklich ordentlich gemachte Gebrauchsmusik, aber für sich genommen auch nicht mehr. Ohne die passenden Bilder würde sie in sich zusammenfallen. Das Motiv der von Bomben zerstörten Stadt, ursprünglich in einer Phase vorsichtiger Entspannung im Verhältnis der Großmächte konzipiert, hat durch den Ukraine-Krieg traurige Aktualität erhalten. Darauf bezieht sich der aus Russland stammende, heute in Berlin lebende Regisseur Maxim Didenko, der sich auf seiner Homepage als Unterstützer der Ukraine und Kriegsgegner positioniert. Das Bühnenbild (Ausstattung: Galya Solodovnikova) deutet das Innere des Theaters in Mariupol an. Dieses wurde im März 2022 bombardiert, nachdem viele Zivilisten hier Schutz gesucht hatten. Damit schafft die Regie einen konkreten Bezugspunkt für die Passagen, die unmittelbar mit Krieg zu tun haben. Das ist die eine, die realistische Seite. Die andere zeigt bunte und oft völlig überdrehte Bilder. Die Parabel von den Hasen und dem Krokodil etwa erscheint wie ein russischer Zeichentrickfilm der 1980er-Jahre.

In der irritierenden Vielfalt, den harten Brüchen und der immer wieder grellen Ästhetik, die manchmal surreal und dann wieder extrem realistisch angelegt ist, spiegelt die Inszenierung eine ungeordnete Welt wider, der alle Gewissheiten verloren gegangen sind. Eine Welt, in der plötzlich Krieg und Militär dominant sind, bis hinein in die Welt der Kinder. Das funktioniert im (kurzen) ersten Teil ausgezeichnet, beginnt aber mit der ziemlich langen (und auch langatmigen) Opernparodie zu lahmen. Hat der Kitsch zu Beginn noch Methode und wird gezielt als Gestaltungsmittel eingesetzt, so fehlt dem zunehmenden Pathos des Stücks mehr und mehr die Ironie. Die Verklärung der Musik zwischen Bombast und Askese driftet in eine krude Mischung aus Pathos und Sentimentalität ab, der die Inszenierung nichts entgegensetzt. An die rettende Kraft von Natur und Musik unter Führung der Kinder mag die Regie dabei nicht glauben und taucht das Schlussbild in giftgrünes Licht. Trotzdem großer Jubel vom Premierenpublikum, den sich das Ensemble redlich verdient hat. Offen bleibt die Frage, warum das Stück aus den 1980er-Jahren in der Reihe "Focus '33" läuft, die sich doch eigentlich mit dem Verschwinden oder Nichtverschwinden von Opern nach dem Jahr 1933 befasst.


FAZIT

Ein Abend voller ambivalenter Eindrücke: Die Musik für die Lebenden präsentiert sich als schrille Collage mit vielen Brüchen. Das sentimental-pathetischen Finale können auch die Regie und das engagierte Bonner Ensemble mit einem glänzend aufgelegtem Kinder- und Jugendchor nicht retten.




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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Daniel Johannes Mayr

Inszenierung
Maxim Didenko

Bühne und Kostüme
Galya Solodovnikova

Video
Oleg Mikhailov

Licht
Boris Kahnert

Choreographie
Sofia Pintzou
Alexander Fend

Chor
André Kellinghaus

Kinderchor
Ekaterina Klewitz

Dramaturgie
Polina Sandler


Statisterie des
Theaters Bonn

Kinder- und Jugendchor des
Theaters Bonn

Chor des
Theaters Bonn

Beethoven Orchester Bonn


Solisten

* Besetzung der Premiere

Blinder alter Mann
Ralf Rachbauer

Ein Junge - Blindenführer
* Valérie Ironside /
Soraya-Nikita Krajewski /
Sofiia Kirdan

Angelo
Tae Hwan Yun

Frau mit Peitsche
Manon Greiner

Solistin Jugendchor
* Clélia Oemus /
Joana Taskiran

Sandro
Tianji Lin

Silvana
Katerina von Bennigsen

Lucia
Ava Gesell

Marquis
Giorgos Kanaris

Tänzer und Tänzerinnen
Thomas Bauer
Uri Burger
Camilla Fiumara
Nikos Fragkou
Manon Greiner
Laura Guy
Shinnosuke Nagata
Andrew Pan
Aya Sone
Victor Villareal



Weitere
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