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Expedition ins Innere
Von Stefan Schmöe /
Fotos von Matthias Jung
Wie klingt Schnee? Kann man ihn hörbar machen? Eine "Winterplatte" hat die isländischen Künstlerin Björk ihr 2001 veröffentlichtes Album Vespertine genannt und den Schnee als Leitmotiv bezeichnet. Knirschende Schritte in selbigem gehören dann auch zu den vielen Geräuschen, die neben Elektronik, Streichern, Harfe und natürlich der unverkennbaren Stimme Björks mit ihren charakteristischen Brüchen und sprunghaften Registerwechseln die Platte prägen. Bereits 2018 hat das Nationaltheater Mannheim aus dem Album eine Oper gemacht, für die das Kollektiv Himmelfahrt Scores die Musik für Symphonieorchester, zwei Frauen- und zwei Männerstimmen sowie Chor arrangiert hat. In Zeiten von Corona entstand eine reduzierte Fassung, die wiederum Grundlage für die jetzt in Bonn gespielte Version von Roman Vinuesa darstellt. Der auch schon im Original durchaus theatralische Gestus der Platte wird hier von einem Kammerorchester, zwei Frauenstimmen, Knabensopran, Bariton und Frauenchor realisiert. Und wenn beim Hören von Björk zuvor durchaus Zweifel bestanden, ob sich der Charakter der Musik in dieser Form transformieren lässt: Es funktioniert.
Das Spannungsfeld zwischen einem "Pop-Album" (so steht's im Untertitel der Produktion, aber dem einzigartigen Stilmix von Björk wird die allzu pauschale Bezeichnung kaum gerecht) und der sogenannten "klassischen" Musik spielt dabei keine nennenswerte Rolle. Man hat sich schnell eingehört in diesen Klangkosmos weitab vom Pop-Mainstream, der in dieser Bearbeitung gegenüber dem Original eine ganz eigene Qualität entwickelt. Die Musik klingt hier opernhafter, auch konventioneller, ist aber immer noch in ihrer Substanz wenig greifbar - und rätselhaft schön. Als Orchester sitzt in dieser Produktion das Ensemble Musikfabrik seitlich auf der Bühne und spielt unter der Leitung des Bonner Kapellmeisters und designiertem Erfurter Generalmusikdirektors Hermes Helfricht mit großer Präzision und üppigem Farbreichtum. Helfricht scheut auch filmmusikhafte Aufschwünge nicht und lässt die Musik delikat und einschmeichelnd erklingen. Der ausgezeichnete Frauenchor der Bonner Oper (Einstudierung: André Kellinghaus), meistens unsichtbar hinter der Bühne postiert, wird beinahe instrumental eingesetzt und steuert eine weitere, oft ätherisch klare Klangfarbe bei.
Alles nur ein Traum?In der Mitte das Kind, eine Puppe, mit seinem singenden Doppelgänger und der Doppelgängerin der Forscherin
Für die Inszenierung ist das Kommando Himmelfahrt zuständig - das sind der Regisseur Thomas Fiedler, die Dramaturgin Julia Warnemünde und der Komponist Jan Dvořák (der die Verbindungsstelle zu Himmelfahrt Scores darstellt). Sie erzählen die Geschichte einer Wissenschaftlerin in einer Extremsituation. Eine Biologin untersucht im Polargebiet am äußersten Rand Kanadas (und damit der Zivilisation überhaupt) eine Tierseuche - eine absolut tödliche Krankheit, die Hirsche befällt, aber nach allen bisherigen Erkenntnissen nicht auf den Menschen überspringen kann. Es sind wohl Träume oder Phantasien der einsamen Forscherin, die sie in diesem Umfeld ein Kind gebären und aufziehen lassen. Dieses Kind erscheint als täuschend lebensechte Puppe - wie auch der "Hirschmann", ein Zwitterwesen, halb Mensch und halb Hirsch. Dieser steht, so kann man im Programmheft nachlesen, in der gallischen Mythologie symbolisch für den Zyklus der Natur: Der Hirsch wirft im Herbst sein Geweih ab, und im Frühling wächst es neu. Kind- und Hirschmannpuppe haben einen Knabensopran und einen Bariton als singendes Gegenstück, und auch die Figur der Forscherin erhält eine in schwarz gekleidete Doppelgängerin, eine Projektion ihrer Wünsche und Gedanken. Diesen beiden ist der Hauptteil der Gesangspartie übertragen, und der Wechsel der Stimmfarbe spiegelt die komplexe Stimmführung Björks wider. Nicole Wagner, deren schöner Sopran ganz leicht eingedunkelt ist, singt die Forscherin. Man könnte sich für diese Musik eine mädchenhaftere Stimme mit weniger Vibrato vorstellen. Dem kommt der hellere, leuchtkräftigere Sopran von Ava Gesell näher, der die Doppelgängerin anvertraut ist.
Während man die Texte Björks als Lieder über die Liebe zu einem Mann verstehen kann, verschieben sich in dem hier gewählten Kontext die Akzente hin zu einem großen Diskurs über das Verständnis von Natur und das Leben an sich. Der ewige Kreislauf der Natur ist durch die Krankheit gefährdet. Spiegelbildlich erschießt die Forscherin den Hirschmann. Dem Tod steht das Heranwachsen des Kindes gegenüber, wobei dieses Kind irgendwann verschwindet. Nicht alles in der Inszenierung erschließt sich, aber das ist kein Nachteil: Auch die Musik und die Songtexte Björks leben von der Aura des Geheimnisvollen und Mythischen. Die Regie schafft in ihrer Bildwelt geschickte Bezüge zu diesen Texten. Der Titel Vespertine lässt sich mit "abendlich" nur ungenau übersetzen - der Begriff spielt auf bestimmte Wachstumsmuster an, etwa das Aufblühen bestimmter Pflanzen in den Abendstunden. Auf diese Wissenschaftlichkeit spielt die Figur der Biologin an, die zur Erforscherin der eigenen Seele wird. Hidden place, der erste Song, beschreibt den Rückzug an einen "versteckten Ort", was man auch als Reise in das Innere, in die eigene Gefühlswelt umdeuten kann. In diesem Motivgeflecht erscheint die Forschungsstation in entlegener Schneelandschaft als ein überzeugendes Bild. Szenisch ein wenig überstrapaziert wird die Figur des Hirschmanns, der als Puppe seine mythische Dimension schnell einbüßt. Sehr eindrucksvoll gelingt der Frühlingseinbruch im Song Aurora, wenn die Choristinnen die weißen Tücher vom Bühnenboden wegziehen und gleichzeitig die Musik aufzuleuchten scheint.
Der Hirschmann (auch eine Puppe) wurde von der Forscherin erschossen und wird von einer Figur, die als "der Mann" bezeichnet wird, in die Forschungsstation getragen
Vielleicht wird die Regie in ihrem Bemühen um Realismus eine Spur zu konkret. Andererseits zeigt der Kontrast zwischen der ziemlich genau dargestellten Forschungskapsel und der seltsamen, irrationalen Außenwelt auch die Grenzen unseres wissenschaftlichen Denkens auf. Die Gefährdung des fragilen Systems Mensch durch die Epidemie kann hier gerade noch einmal abgewehrt werden, wenn die Forscherin erkennt, dass die Krankheit nicht auf den Menschen überspringen kann. Da klingen die traumatischen kollektiven Erfahrungen der Corona-Zeit in die Inszenierung herein. Aber die ohne Pause gespielten 90 Minuten von Vespertine, deren Spannungsbogen gegen Ende ein wenig abflacht, erzählen vor allem eine Menge über unsere Verletzlichkeit.
Vespertine ist ein szenisch, vor allem aber musikalisch spannendes und berührendes Projekt, das sich um den Unterschied zwischen Pop und Opernmusik nicht groß schert.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme und Puppen
Video
Chor
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der rezensierten Aufführung
Eine Wissenschaftlerin
Ihre Doppelgängerin
Ein Junge
Ein Mann
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