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Die andere Seite des Märchens
Von Stefan Schmöe / Fotos von Ingo Schaefer
Die Geschichte vom Aschenputtel ist in vielen Variationen erzählt worden - im Märchen wie auf der Bühne. Der Kern der Geschichte blieb dabei fast immer der gleiche: Das sozial unterprivilegierte "gute" Mädchen "aus der Asche" erlebt gegen allerlei Widerstände, verkörpert durch die "böse" Stieffamilie, einen sagenhaften sozialen Aufstieg zur Braut eines Prinzen. Bridget Breiner hat 2013 in Gelsenkirchen den Versuch eines Perspektivwechsels unternommen (siehe dazu unsere Rezension). Der Blick richtet sich nicht mehr auf das Aschenputtel, das hier Clara heißt, sondern auf die ältere der beiden Stiefschwestern, hier mit dem Namen Livia. Man erinnere sich: Bei den Brüdern Grimm schnitten sich die beiden Stiefschwestern Zehen oder Ferse ab, um sich als Trägerin des Schuhs, den die geheimnisvolle Fremde beim Ball verloren hatte, ausgeben zu können. Es steht also auch für die Vertreterinnen des vermeintlich Bösen viel auf dem Spiel. Da lohnt ein genauerer Blick auf diese Stiefschwestern durchaus.
Stiefschwestern: Clara (links) und Livia
Völlig umkrempeln lässt sich der Stoff allerdings nicht, denn das herzensgute, aber vermeintlich nicht gesellschaftstaugliche Aschenputtel ist die schillerndere Figur, an der auch Bridget Breiner nicht vorbeikommt. Emilia Peredo Aguirre tanzt sie mit großem Charme und strahlendem Lächeln als eine junge Frau, die sich ihrer Ausstrahlung durchaus bewusst ist. Im Gegensatz dazu ist Francesca Berruto als Livia ein bleiches, immer streng dreinschauendes Mädchen, das kontaktscheu und gehemmt wirkt und in der Gesellschaft "funktionieren" will. Dem klassischen Märchenschema entsprechend hätte man die beiden genau andersherum besetzen müssen. Schon dadurch entwickelt die Geschichte eine neue Dynamik.
Entstanden ist diese Choreographie am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, wo Bridget Breiner von 2012 bis 2019 Ballettchefin war. Als Referenz an die Stadt und die Region hat sie die Geschichte ins Bergbaumilieu verlegt. Das Bühnenbild (Ausstattung: Jürgen Franz Kirner) zeigt eine Waschkaue - das ist der Raum, in dem die Bergleute die Kleidung wechselten und in Drahtkörben unter die Decke zogen. Damit ist ein emblematisches Bild gelungen, das den sozialen Hintergrund präzise vermittelt. Claras alleinerziehender Vater (mit zurückhaltender Eleganz: Nelson López Garlo) ist Vorarbeiter in einer Zeche, und die Tochter wächst unter derben, aber lebensfrohen Bergmännern auf, die in kräftigen Stiefeln auftreten. Bevorzugte Musik sind hier Arbeiterlieder und Songs. Hier ist von Beginn an Aschenputtel-Clara diejenige, die sich selbstbewusst und sicher in den Milieus bewegt, in die sich Livia an der Schwelle zum Erwachsenwerden erst hineinfinden muss. Im Kontrast dazu tanzen die neue Stiefmutter und deren Töchter natürlich im Spitzenschuh zu Orchestermusik von Johann Strauss, die leider nur vom Band erklingt (die Choreographie hätte ein echtes Orchester im Graben verdient). Norma Magalhães als Stiefmutter im leicht artifiziellen Sahra-Wagenknecht-Stil und Phoebe Kilminster als übermütige, kindlich-naive Stiefschwester Sophia geben ihren Figuren Profil und zeigen, dass hinter der Fassade des vermeintlich Bösen eben auch Menschen mit Wünschen und Sehnsüchten stecken. Der Märchenprinz ist hier ein Industriellensohn mit dem vielsagenden Namen J. R. Prince. Olgert Collaku tanzt ihn zunächst mit Konformität und kühler Überlegenheit, bis er Clara begegnet und freier in seinen Bewegungen wird. Auch für ihn wird die Begegnung zum Ausbruch aus Konventionen. Livia begegnet dem Bergarbeiter Mitch
Bridget Breiner stellt in diesem Szenario mit großer Virtuosität verschiedene Stile vom klassischen Ballett bis zu freien Formen des modernen Tanzes für die Arbeiter nebeneinander. Zudem erweist sie sich als kluge Erzählerin, die mit kurzen Bildern eine Situation umreißen kann, aber auch Szenen groß ausformuliert wie die Begegnung zwischen Clara und Prince und dem plötzlichen Erwachen einer noch sehr vorsichtigen Liebe. Dabei umgeht sie die üblichen Klischees. Die durchweg spannende Choreographie behält eine große Natürlichkeit. Jedes Bild ist für die Handlung von Bedeutung, nie wirkt Technik als Selbstzweck oder das Szenario als Vorwand für "schöne Szenen". Die Kompagnie des Balletts am Rhein tanzt auf hohem Niveau. Dazu erzeugen die farblich fein abgestuften Kostüme und die sensibel und sehr genau durchdacht gestaltete Beleuchtung (Patrick Fuchs) beeindruckende Bilder.
Etwas gewöhnungsbedürftig sind die Stilbrüche in der Musik. Johann Strauss (Sohn) für die Stieffamilie "aus besseren Verhältnissen" wird, wie oben schon erwähnt, scharf gegen eher spröde Songs für die Arbeiter geschnitten. Livia wird mit Live-Musik begleitet, und zwar von einem Akkordeon (großartig: Marko Kassl, der neben eigener Musik auch Teile einer Ballettmusik Aschenputtel von Johann Strauss für sein Instrument arrangiert hat und damit eine Verbindung der Sphären schafft). Damit ist Stiefschwester Livia musikalisch privilegiert, und ihr gehört der Schluss des Balletts. Das darf hier natürlich nicht mit der Hochzeit Claras und des Mr. Prince enden, sondern erfordert eine Reaktion Livias darauf. Da kommt zunächst der Arbeiter Mitch (Gustavo Carvalho tanzt ihn als sanftmütiges Kraftpaket) für einen Pas de deux, der Livia aus ihrer feinen Welt auf den Bergbauboden holt. Für einen Moment hat man die Befürchtung, das könne in einem verkitschten Finale enden - aber die beiden gehen schnell auseinander. Livia bleibt allein zurück, aber sie hat einen Lernprozess hinter sich und kann eigentlich ganz optimistisch in eine selbstbestimmte Zukunft schauen. Ein bisschen mehr lächeln dürfte Francesca Berruto da schon.
Ruß ist eine choreographisch toll erzählte, nachdenkliche und gar nicht märchenhaft-naive Aschenputtel-Version. Bridget Breiners preisgekrönte Choreographie aus dem Jahr 2013 ist auch in Duisburg sehenswert. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Choreographie
Choreographische Einstudierung
Bühne und Kostüme
Licht
Dramaturgie (2013)
Dramaturgische Betreuung Uraufführung: Bühnenmusik
Akkordeon Tänzerinnen und Tänzer* Besetzung der Premiere
Livia
Sophia
Mutter von Livia und Sophia
Clara
Vater von Clara
J. R. Prince, Sohn eines Industriebarons
Mitch, ein Arbeiter
Arbeiter
Ball
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