Von der Lehrerin und Mutter zum Kojoten
Von Thomas Molke
/
Fotos: © Alvise Predieri Wenn
Sicherheitskräfte im zweiten Akt im Aalto Theater den Saal stürmen, könnte man
meinen, man wäre in der Neuproduktion von Mozarts Zauberflöte gelandet.
Während dieser Regie-Einfall im beliebten Opernklassiker allerdings für
Unverständnis und Kopfschütteln sorgt, gehört diese Szene an diesem Abend
durchaus ins Stück. Auf dem Spielplan steht die moderne Oper The Listeners
der US-amerikanischen Komponistin Missy Mazzoli, die am 24. September 2022
als Auftragswerk der Opera Philadelphia, der Norwegian National Opera und der
Chicago Lyric Opera im Opernhaus Oslo zur Uraufführung gelangte. Da die
Intendantin des Aalto Musiktheaters Dr. Merle Fahrholz einen Schwerpunkt ihrer
Programmgestaltung der Pflege von Komponistinnen im Musiktheater gewidmet hat,
steht seit dem 25. Januar 2025
Mazzolis vierte Oper
hier als deutsche
Erstaufführung auf dem Plan. Die Handlung ist so aktuell und modern, dass die
Sicherheitskräfte hier nicht wie ein Fremdkörper wirken.

Claire (Betsy Horne, rechts) fühlt sich durch den
Brummton mit dem Schüler Kyle (Aljoscha Lennert) verbunden, sehr zum Missfallen
ihrer Tochter Ashley (Lisa Wittig, hinten links).
Die Handlung basiert auf der gleichnamigen Erzählung von Jordan Tannahill, die
in Deutschland unter dem Titel Das Summen erschienen ist. Royce Vavrek, der auch schon in früheren Projekten mit Mazzoli
zusammengearbeitet hat, hat den Roman zu einem Libretto umgeformt. Im Zentrum steht die
Lehrerin und Mutter Claire Devon, die von einem tiefen, permanenten Brummton
gequält wird, der ihr schlaflose Nächte bereitet und schließlich dazu führt,
dass sie ihre Familie verlässt und ihren Job verliert. Zuflucht findet sie mit
ihrem Schüler Kyle, der an dem gleichen Phänomen leidet, bei dem charismatischen
Philosophen Howard Bard, der angeblich anderen Menschen mit diesem Problem
geholfen hat und sie unter dem Namen "The Listeners" als Gruppe um sich versammelt
hat. Claire fühlt sich in dieser Umgebung zunächst gut aufgehoben, erkennt aber
im Laufe der Zeit, dass die Gruppe starke sektenähnliche Strukturen hat. Dabei
steigt sie durch eine Liebesbeziehung mit Howard zu seiner "Nummer Zwei" auf und
verdrängt seine bisherige Assistentin Angela. Als Dillon, ein weiteres Mitglied der
Gruppe, Howards Macht hinterfragt, kommt es zum Eklat. Dillon schießt mit einer
Waffe um sich und wird von der Polizei in Gewahrsam genommen. Als die
Gruppe nach diesem Ereignis extrem unter dem Brummton leidet, beweist Angela,
dass Howard selbst diesen Ton gar nicht hören kann und alle angelogen hat. Die
Listeners wenden sich von Howard ab und wählen Claire zur neuen Anführerin, die sich damit komplett von ihrem früheren Leben lossagt und
ganz ihrer neuen
Bestimmung widmet.

Heulen mit dem Kojoten: Claire (Betsy Horne) und
der Kojote (Ivan Estegneev) Eine
besondere Rolle in dem Stück spielt die stumme Figur des Kojoten, der zwar auch
in Vavreks Libretto vorkommt, in der Inszenierung des Teams um Anna-Sophie
Mahler aber noch mehr ins Zentrum rückt und als Beobachter fast ständig auf der Bühne ist. Schon bevor die
Oper beginnt, sieht man sein Fell in einer Videoprojektion auf dem schwarzen
Vorhang. Nach der Pause wird er beim Reißen eines Tieres im Video gezeigt. Der
Choreograph Ivan Estegneev schlüpft selbst in die Rolle und tritt mit einer
Kojotenmaske mal im Fellmantel, mal ohne Mantel in menschlicher Kleidung auf. In
besonderer Beziehung steht er zu Claire, die sich teilweise auch ein Fell um den
Hals legt, um ihre Verbundenheit zum Kojoten hervorzuheben. Wie der Kojote steht sie
zwischen der Zivilisation und der Wildnis und sucht die Befreiung von äußeren
Zwängen. Bei ihr sind es der Job und ihre Familie, die verhindern, dass sie
ihrer wahren Bestimmung folgen kann. Mahler geht in ihrer Inszenierung einen
Schritt weiter, indem der Kojote am Ende seine Tiermaske an Claire übergibt und
sie sich gewissermaßen selbst in ein Tier verwandelt. Wohin sie in dieser
Gestalt die Gruppe aber führen wird, bleibt offen.

Howard (Heiko Trinsinger, stehend rechts) und
Angela (Deirdre Angenent, stehend Mitte) bieten Claire (Betsy Horne, sitzend
Mitte rechts) eine neue Familie. Des
Weiteren beschäftigt das Regie-Team, wie der quälende Brummton, der an drei Stellen in
der Oper in die Musik eingewoben wird und nachvollziehbar macht, wieso er für
die Betroffenen derart unangenehm ist, szenisch umgesetzt wird. Mahler fasst ihn
mit ihrer Bühnenbildnerin Katrin Connan als tiefe Wut, die einen Menschen in den
Wahnsinn treiben kann. Connan stellt diese Wut in riesigen Lettern des
englischen Wortes "ANGER" auf die Bühne. Wenn der Vorhang sich öffnet, sieht man
diese Buchstaben vor der Projektion eines wunderbaren Waldes, aus dem der Kojote
hervorzutreten scheint. Doch zwischen Claire und der freien Natur, steht
zunächst diese Wut in Form des Brummtons und verhindert ihre freie Entfaltung.
Wenn sie sich allmählich von ihrer Familie löst, rücken die Buchstaben in den
Hintergrund, um schließlich im Bühnenboden zu verschwinden. Doch ganz frei ist
Claire auch am Ende nicht. So erscheint das Wort am Schluss in großen Lettern auf der
Projektion im Hintergrund. Überhaupt sind die Videoprojektionen von
Georg Lendorff großartig umgesetzt und fangen die unterschiedlichen Atmosphären
des Stückes hervorragend ein. Wenn der Brummton im Orchester das erste Mal
angedeutet wird, verzerrt sich der pittoreske Wald und löst sich in eine Art
Schallwellen auf. Nach der Katastrophe im zweiten Akt bewegt sich ein riesiger
Feuerball auf Claire und die Gruppe zu.

Howard (Heiko Trinsinger, Mitte) umringt von
seinen Anhängerinnen und Anhängern Wie
gefährlich der scheinbar ach so empathische "Erlöser" Howard ist, wird direkt
von Beginn des Stückes an deutlich. In einem Prolog treten drei Mitglieder der
Sekte vor den Vorhang und erzählen vor laufender Kamera, wie ihr Leben völlig
aus den Fugen geraten ist. Dabei werden die Gesichter der drei Figuren
schonungslos in enormer Größe auf den Vorhang projiziert, so dass keine Schwäche
verborgen bleibt. Howard zwingt die Mitglieder der Sekte dazu, diese Aufnahmen
zu machen, um sie später als Druckmittel verwenden zu können. Da verwundert es
nicht, dass Dillon einen Zusammenbruch erleidet und in seiner Verzweiflung auf
einen Mobilfunkturm schießt, um die Verbreitung dieser Videos zu verhindern. Der
Pavillon, der aus dem Schnürboden auf die Bühne herabgelassen wird, scheint im
ersten Moment eine Form von Schutz für die Sektenmitglieder zu bieten. Die
durchsichtigen farbigen Fenster geben aber keine Möglichkeit, vor den anderen
unbeobachtet zu bleiben.

Claire (Betsy Horne, vorne rechts und in der
Projektion) übernimmt die Führung (hinten links: Ivan Estegneev als Kojote,
vorne links: Deirdre Angenent als Angela, hinten rechts: Heike Trinsinger als
Howard). Auch musikalisch gelingt es
Mazzoli die gefährliche Faszination der Sekte einzufangen. So singt der Chor
zunächst aus dem Publikum und lässt es gewissermaßen Teil des Geschehens werden, das sich auf
der Bühne ereignet. Mit gehörigem Hokuspokus entwickelt Howard anschließend auf
der Bühne eine Trost spendende Atmosphäre mit blauer Lichtpyramide und kleinen
leuchtenden Kugeln, die die Sektenmitglieder zu nahezu hymnischer Musik
andächtig halten oder in ruhigen fließenden Bewegungen schwingen. Diese Passagen
stehen musikalisch in starkem Kontrast zu den Momenten, in denen der quälende Brummton Claire und den anderen, die darunter leiden, den Verstand raubt.
Musikalisch bewegend wird auch die Eskalation im zweiten Akt umgesetzt, wenn die
Sicherheitskräfte Dillon stoppen. Hier tritt eine Reporterin auf, die
hautnah die Ereignisse einem nach Schlagzeilen gierenden Publikum präsentiert.
Andrea Sanguineti arbeitet mit den Essener Philharmonikern die vielschichtigen
Klangfarben von Mazzolis Musik eindrucksvoll heraus und hält das Orchester, den
Chor und die Solistinnen und Solisten wunderbar zusammen. Der von Klaas-Jan de
Groot einstudierte Opernchor des Aalto-Theaters leistet stimmlich und
darstellerisch ebenfalls Gewaltiges und begeistert als leicht manipulierbare
Masse.Auch die Solistinnen und Solisten lassen keine Wünsche
übrig. Da ist zunächst Betsy Horne als Claire Devon zu nennen, die zwar als
leicht erkältet angesagt wird, was man in ihrer Interpretation der Partie aber
nicht bemerkt. Überzeugend gestaltet sie die geplagte Frau, die auf der Suche nach
ihrer inneren Ruhe ist, und punktet mit kraftvollen Höhen und leuchtendem Sopran.
Heiko Trinsinger gibt einen nahezu diabolischen Howard Bard, der wie ein netter
Onkel daherkommt, aber sich sofort absolut gnadenlos zeigt, wenn man sich nicht
seinen Wünschen fügt oder für ihn überflüssig geworden ist. Das alles
unterstreicht er musikalisch mit einem balsamischen Bariton, der blitzschnell in
harte Töne umschlagen kann. Zu spüren bekommt das vor allem Deirdre Angenent als
Angela, die sich ihm mit warmem Sopran ergibt und darunter leidet, von ihm
schließlich für Claire fallengelassen zu werden. Aljoscha Lennert gestaltet die
Partie von Claires Schüler Kyle mit jugendlichem Tenor. Karel Martin Ludvik
arbeitet den Wahnsinn Dillons mit kraftvollem Bariton heraus. Mandla Mndebele
zeichnet mit weicher Stimmführung die Verzweiflung von Claires Gatten Paul
überzeugend heraus, wenn er versucht, seine Frau aus den Fängen der
Sekte zu befreien. Lisa Wittig gibt mit frischem Sopran eine zunächst sehr
aufmüpfige Tochter, die sich nach Liebe und Aufmerksamkeit sehnt.
Die übrigen Partien sind ebenfalls gut besetzt, so dass es großen und
verdienten Beifall für alle Beteiligten gibt.FAZIT
Mazzoli präsentiert in ihrer Oper ein hochaktuelles und brisantes Thema, das von
großer Relevanz für ein modernes Publikum ist, und bringt die Problematik
musikalisch auf den Punkt. Die Inszenierung liefert ebenfalls einen guten Zugang
zum Stück.
Ihre Meinung
Schreiben Sie uns einen Leserbrief
(Veröffentlichung vorbehalten)
|
Produktionsteam
Musikalische Leitung
*Andrea Sanguineti /
Wolfram-Maria Märtig
Inszenierung
Anna-Sophie Mahler
Bühne
Katrin Connan
Kostüme
Pasquale Martin
Licht Paul Grilj
Video Georg Lendorff
Choreinstudierung
Klaas-Jan de Groot Choreographie
Ivan Estegneev
Dramaturgie
Savina Kationi Essener Philharmoniker
Opernchor
des Aalto-Theaters Statisterie des Aalto-Theaters
Solistinnen und Solisten
*rezensierte Aufführung Claire Devon
Betsy Horne
Paul Devon
Mandla Mndebele
Ashley Devon
Lisa Wittig Kyle Harris
Aljoscha Lennert
Howard Bard
Heiko Trinsinger
Angela Rose
Deirdre Angenet
Thom
Tobias Greenhalgh
Dillon
Karel Martin Ludvik Coyote
Ivan Estegneev Sina
Iva Seidl Emily
Laura Kriese Hortense
Ks. Marie-Helen Joël Danica
Ks. Christina Clark Vince
Robin Grunwald Bram
Michael Kunze Jess
Uta Schwarzkopf /
Helga Wachter Lee Ann
Stefanie Rodriguez /
Astrid Wittkop Mrs. Moreno
Cassandra Doyle Theresa Alvarez
Idil Kutay
Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Aalto Musiktheater (Homepage)
|