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Die unerträgliche Unsicherheit des Seins
Von Stefan Schmöe
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Fotos von Monika Rittershaus "Media vita in morte sumus": So dichtete um 750 ein Mönch, vermutlich in Frankreich. "Mitten im Leben sind wir im Tod", übersetzte Martin Luther. Um den Tod und dessen Unausweichlichkeit geht es in Aribert Reimanns letzter vollendeter Oper L'invisible, uraufgeführt 2017 an der Deutschen Oper Berlin (unsere Rezension). In dieser "trilogie lyrique", wie er das Werk bezeichnete, hat Reimann drei Einakter des belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck (1862 - 1949), zwischen 1890 und 1894 entstanden, verschmolzen. L'intruse (Der Eindringling) zeigt eine Familie beim Abendessen, bei der nur der blinde Großvater das drohende Unheil spürt: Den plötzlichen Tod der Tochter, die vor ein paar Tagen ein Kind entbunden hat. In Interieur (in etwa Innenleben) hat sich ein junges Mädchen ertränkt und ein älterer Mann muss ihrer nichtsahnenden, sehr glücklichen Familie die Nachricht davon überbringen. Am stärksten an Pelléas et Mélisande, Maeterlincks durch die Vertonung Debussys wohl berühmtestes Werk, erinnert das märchenhafte La mort de Tintagiles (Der Tod des Tintagiles). Der Knabe Tintagiles wird von der Großmutter, einer alten Königin, ins Schloss gerufen, wo ihm als potenziellem Thronfolger die Ermordung droht wie schon seinem Vater und seinen Brüdern. Vergeblich versuchen seine Schwestern, ihn zu schützen. ![]() L'Instruse: Nur der blinde Großvater ahnt das drohende Unheil - Ursule (links) und der Onkel halten das für unangebrachte Hysterie
Drei Variationen auf den Tod also - mit verbindenden Elementen wie der Figur eines alten Mannes oder der Mutter - und natürlich dem Motiv des gefährdeten Kindes. Ein Junge steht auch im Zentrum der zunächst tiefschwarzen Bühne (Fabian Wendling), bevor sich ein großbürgerlich gedeckter Tisch hereinschiebt. Fenster und Türen, die wegen eines vermeintlichen Eindringlings (den nur der blinde Vater spürt) eine Rolle spielen, werden pantomimisch angedeutet. Die junge Mutter malt am Bühnenrand ein Bild, eine Königin, was auf La mort de Tintagiles vorausweist - einer von vielen subtilen Spuren und Querverweisen, von denen die faszinierende Inszenierung von Daniela Löffner durchwoben ist. Reimann verwendet für diesen ersten Teil ein reines Streichorchester, das er oft geradezu perkussiv einsetzt. Die ziemlich spröde, auf melodische Entwicklungen fast vollständig verzichtende Musik zeichnet eine Atmosphäre von unheimlicher Spannung. Den Schrei des Neugeborenen, gleichzeitig Tod der Mutter, unterlegt Reimann mit einem Akkord der Holzbläser, die danach Interieur begleiten und diesem zweiten Teil eine ganz andere Klangfarbe geben werden. An den Schluss jeden Teils setzt Reimann aber ein Terzett von drei Countertenören (mit betörendem Klang: Iurii Iushkevich, Tobias Hechler und Dmitry Egorov), die von der Harfe begleitet werden und im Madrigalstil die musikalische Zerrissenheit aufhellen. ![]()
Dazu fahren mehrere mit Gras, Blumen und Schilf bedeckte Inseln vom Bühnenhimmel herunter, von denen tentakelartige Wurzeln bedrohlich herabhängen - ein Bühneneffekt, den man nicht so schnell vergisst, zumal das Licht (Joachim Klein) den Kontrast zwischen der Schwärze des Raumes und der Anmut dieser Flusslandschaft exzellent herausarbeitet. Auf der größten dieser Inseln macht die glückliche Familie ein Picknick, während der alte Mann, der zuvor in L'intruse der blinde Großvater war, sich nicht zum Überbringen der Todesnachricht durchringen kann. Erik van Heyningen liefert mit schönem lyrischem Bariton ein bestechendes Rollenportrait. Für La mort de Tintagiles fahren die Inseln wieder ein Stück nach oben und deren geheimnisvolles Wurzelwerk ersetzt den Turm des Schlosses aus der Vorlage. Auch hier markiert das Terzett der Countertenöre wieder den Übergang. Für den dritten und letzten Teil der rund 90-minütigen Oper setzt Reimann das volle Orchester ein. Mit der zunehmenden Fülle der Klangfarben macht er es dem Hörer einfacher als zuvor. Nach den konsequenten Schroffheiten von L'invisible und dem von längeren gesanglichen Bögen und Akkorden geprägten Interieur wird die Musik unmittelbarer, auch sehr expressiv, nicht zuletzt in einer großen Szene der Ygraine, Schwester des von der Ermordung bedrohten Knaben. ![]() La mort de Tintagiles: Ygraine (links) und Bellangère wollen ihren Bruder Tintagiles vor dem Tod schützen, Aglovale hilf ihnen und bringt Schwerter herbei.
Wenn man demnächst nach der Sängerin der Saison sucht, wird man an der fabelhaften Irina Simmes kaum vorbeikommen. Wie vor einem Goldgrund schwingt sich der ganz leicht dunkel grundierte, jugendliche Sopran in die Höhe und gestaltet die komplexe Partie der Ygraine mit immenser Intensität wie faszinierender Selbstverständlichkeit. Den Knaben hat Reimann als Sprechpartie gestaltet, was im Kontrast zur Gesangslinie von erheblichem Reiz ist - Kinderdarsteller Victor Böhme spricht den französischen Text mit großer Musikalität. Die Kostüme (Daniela Selig) verbinden heutige Alltagskleidung elegant mit märchenhaften Elementen. Wenn Ygraine ihre Schwester Bellangère (mit mädchenhaft leuchtendem Sopran: Karolina Makuła) und den alten Aglovale (der schon erwähnte Erik van Heyningen) überredet, mit Schwertern gegen das drohende Unheil - also den Tod - zu kämpfen, dann wird die Vergeblichkeit dieses Kampfes in suggestiven Bildern dargestellt. Die Regie erklärt nicht, sondern sie setzt die Vorlage mit allen symbolistischen Unbestimmtheiten in einer sehr effektvollen Bildsprache um. Trost oder gar Heilsversprechen kann und will sie nicht anbieten. Der Tod bleibt groß, unheimlich und nicht fassbar. ![]()
Das hochkonzentriert und überaus diszipliniert spielende Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter der Leitung von Titus Engel glättet und romantisiert nichts. Die Musik klingt in L'intruse in ihren Abgründen schroff, manchmal gar abweisend. Bestechend gelingen die nuanciert ausbalancierten, registerartigen Mischklänge in Interieur. Auch in der sich allmählich verdichtenden Klangballung in La mort de Tintagiles bleibt der Orchesterklang klar und transparent. Diese letzte Oper Reimanns macht es dem Publikum nicht leicht, weder von der Musik noch von der Erzählstruktur. Es ist an sich schon eine Großtat der Oper Frankfurt, das Werk, eingebettet in einen überaus vielfältigen Spielplan, zur Aufführung zu bringen (und Reimanns erste Oper Melusine wird im Juni im Bockenheimer Depot folgen). Hier entwickelt sie eine beklemmende Wucht. "Der Tod ist groß", dichtete Rainer Maria Rilke, "Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen / mitten in uns." Bei Reimann weint der Tod nicht. Er schreit, ächzt, flüstert. Er lässt keine Wahl: Man muss sich mit ihm auseinandersetzen.
Die ohne Pause gespielten 90 Minuten von L'invisible gehören szenisch wie musikalisch zum Fesselndsten, was diese Opernsaison zu bieten hat. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie
Bühne
Kostüme
Licht
Dramaturgie
SolistenL'intruse
Der Großvater
Der Vater
Der Onkel´
Ursule
Ihre zwei Schwestern
Die Dienerin
Die Mutter
Die Krankenschwester
Kind
Intérieur
Der Alte
Der Fremde
Marthe
Marie
Der Vater
Die Mutter
Die Tote im Wasser
Ihre Schwester
Ihr Bruder
La mort de Tintagiles
Ygraine
Bellangère
Aglovale
Drei Dienerinnen der Königin
Tintagiles
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