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Das Prinzip Lulu
Von Stefan Schmöe
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Fotos von Barbara Aumüller Dem Mythos nach wurde Pandora, um die Menschen für den Raub des Feuers durch Prometheus zu bestrafen, aus Lehm erschaffen und von den Göttern mit allen Liebreizen versehen und mit einem Vorratskrug ausgestattet, in dem sich alle Übel wie Krankheit und Tod, aber auch die Hoffnung befanden. Sie bekam den Auftrag, diesen Krug zu den Menschen zu bringen und ihnen mitzuteilen, er dürfe unter gar keinen Umständen geöffnet werden - was, dem Wunsch der Götter entsprechend, natürlich nicht eingehalten wurde. Alles Schlechte und Böse entwich, und allein die Hoffnung blieb zurück, als er wieder geschlossen wurde. Seitdem ist die Welt ein trost- wie hoffnungsloser Ort. In späteren Varianten wurde aus dem riesigen Krug eine Schachtel oder Dose, was Pandora zur Trägerin des vergifteten Geschenks machte, oder sie wurde direkt selbst damit gleichgesetzt. Die Parallelen zum biblischen Sündenfall und zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies liegen auf der Hand. Frank Wedekind nannte die beiden Teile seiner "Monstertragödie" um die rätselhafte Lulu Erdgeist und Die Büchse der Pandora, um, nicht ohne ein gehöriges Maß an Ironie, auf die mythologische Dimension des so gegenwärtigen Stoffes hinzuweisen. Aus dem Dreck gezogen oder, wenn man es eher mythologisch mag, aus Lehm entstanden : Lulu (Brena Rae, vorne) und "Anima", ihr von Evie Poaros getanztes Alter Ego
In Nadja Loschkys Inszenierung von Alban Bergs Oper, deren Libretto der Komponist selbst aus Wedekinds zweiteiliger Tragödie extrahierte, wird Lulu zu Beginn aus einem Erdloch gezogen, mit Schlamm bedeckt, und am Ende wird sie da hinein auch wieder verschwinden. Im strengen Bühnenbild von Katharina Schlipf, einem auf die Drehbühne gestellten, nach oben offenen Zylinder, mag man die berüchtigte Büchse erahnen. Mehr noch symbolisiert es ein abstraktes System von archaischer Größe in monochromen Sepiafarben. Die setzen sich fort in den Kostümen (Irina Spreckelmeyer), die vorsichtig auf die Bruchstelle zwischen den 1920er-Jahren und dem Faschismus verweisen. Damit bezieht sich die Regie auf die Entstehungszeit: Uraufgeführt wurde die unvollendete Oper 1937 in Zürich (erst 1979 kam der von Friedrich Cerha vervollständigte dritte Akt auf die Bühne). Im Zuge von Lulus gesellschaftlichem Aufstieg wird ihre Kleidung farbiger, natürlich rot, und mit dem spiegelbildlichen Abstieg verschwindet diese Farbe wieder. Ihr gegenüber bleiben alle anderen Figuren farblos. Selbst das Blut des erschossenen Dr. Schön fließt in Grautönen. Ohne Lulu ist die Welt sehr blass. Reichlich zynisch, dass hier SCHÖN an der Wand steht: Wirklich schön ist die Dreiecksbeziehung aus Lulu, Dr. Schön und dem Maler nicht.
Neben der ästhetisch überwältigenden Konsequenz der Regie besticht Loschkys messerscharf analytischer Zugang. Lulu, von den Männern missbraucht und verkauft, reagiert gefühllos sachlich wie eine Puppe auf die tödliche Herzattacke ihres ersten Ehemanns, des ältlichen Medizinalrats, wie auf den Selbstmord des zweiten, des Malers. Teilnahmslos nimmt sie hin, wie Dr. Schön verblutet, nachdem sie auf ihn geschossen hat (anstatt sich selbst zu töten, was dieser gefordert hatte). Auch das Schicksal der Gräfin Geschwitz, die Lulu mittels eines abenteuerlichen Kleidertauschs aus dem Gefängnis befreit, berührt sie nicht. Lulu ist der Motor des Geschehens, die unheimliche Antriebskraft der (Männer-)Welt. In Frankfurt singt und spielt Brenda Rae die Figur mit einer geradezu unheimlichen Präsenz und unterkühlter Schönheit. Ihr gelingt das Kunststück, beide Geschichten zu erzählen: Die berührende Individualtragödie des Mädchens, das immer Opfer und Täterin zugleich ist (die Regie lässt wenig Zweifel daran, dass diese Lulu bereitwillig über jede Leiche geht), aber eben auch die erweiterte Sicht auf Lulu als Prinzip, das sich eine patriarchalische Welt konstruiert. Dass Brenda Rae bei aller Virtuosität und Beweglichkeit über eine vergleichsweise kleine Stimme verfügt, ist erst einmal gewöhnungsbedürftig, weil alle um sie herum lauter singen. Aber das ergibt Sinn: Lulu bleibt auch hier die nicht fassbare Außenseiterin. Die Regie stellt Lulu eine Tänzerin zur Seite (von zerbrechlicher Schönheit: Evie Poaros), ihr im Aussehen zunächst gleich. Während die singende Lulu sich verändert, bleibt die Tänzerin - im Besetzungszettel etwas pathetisch als "Anima", also "Seele", bezeichnet - die Lulu in ihrer Urform. Sie ist das fragile, unschuldige Mädchen, das wie ein Schatten und wie eine Mahnung im Stück mitläuft. Die Welt könnte eine bessere sein ohne all' die Projektionen von Weiblichkeit. Nebenbei: Die Produktion wird begleitet von einem klug gestalteten, diesen und viele weitere Aspekte des Werkes aufgreifenden Programmheft, das unbedingt lesenswert ist (Redaktion: Yvonne Gebauer und Mareike Wink). "Sieg verloren": Dass ausgerechnet die begehrten "Jungfrau"-Aktien beim Pariser Börsencrash an Wert verlieren, ist noch so eine böse Pointe des Stücks. Lulu verliert allmählich an Farbe, das Schicksal der in sie verliebten Gräfin Geschwitz (rechts) lässt sie ohnehin kalt.
Dr. Schön hat Lulu zweimal verheiratet, um sie aus dem Weg zu schaffen und sich selbst die Option auf eine standesgemäße Partie zu bewahren, und doch kommt er nicht von ihr los - und sie nicht von ihm. Simon Neal gestaltet ihn stimmlich wie szenisch mit großer Eleganz und Kraft. Er zeigt den "Gewaltmenschen", wie er zwischendurch betitelt wird, und ist gleichzeitig Vertreter einer bürgerlichen Gesellschaft, die das Frauenbild bestimmen will. Neal gelingt ein in jeder Hinsicht faszinierendes, schillerndes Rollenbild, das der Figur Würde bewahrt und damit einen Rest an Sympathie zulässt. Den Gegenpol zu seiner Eleganz bildet Schigolch, eine schmierige Gestalt, angeblich Lulus Vater, wohl eher ihr erster Zuhälter. Alfred Reiter interpretiert ihn mit stimmlicher Wucht und gefährlicher szenischer Präsenz. Wenn Dr. Schön, der Name sagt es bereits, die "geschönte" Seite des Systems zeigt, so ist Schigolch die hässliche, ungeschminkte. Claudia Mahnke, von der Regie ein wenig vernachlässigt, beeindruckt als Gräfin Geschwitz mit durch und durch souveräner Stimmführung. AJ Gluckert gibt mit leuchtendem, sicherem Tenor einen mehr kühl kalkulierenden als schwärmerischen Alwa, Sohn Dr. Schöns und als Komponist (man beachte die Ähnlichkeit seines Namens mit "Alban") das Alter Ego Bergs. Aus dem guten Ensemble hervorzuheben sind noch Tenor Michael Porter als Prinz, Kammerdiener und Frauen verhökernder Marquise (da hat er - Zufall? - optisch eine gewisse Ähnlichkeit mit Harvey Keitel als Zuhälter in Martin Scorseses Film Taxi Driver) und Bianca Andrews mit quirligem Sopran als Garderobiere, Gymnasiast und Groom. Letzte Szene: Nicht nur Lulu (vorne; links von ihr ihre "Anima") ist am Ende, auch das Interieur der bürgerlichen Gesellschaft taugt offensichtlich nur noch als Sperrmüll. Alwa (links außen), Schigolch (sitzend in der Mitte) und die Gräfin Geschwitz (rechts) werden daran nichts ändern können.
Im Orchestergraben spielt das Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter der Leitung von Chefdirigent Thomas Guggeis zuverlässig, dürfte aber an Transparenz und Schärfe durchaus noch zulegen. Vor allem in der ersten Hälfte der hier besprochenen Aufführung klingt vieles recht pauschal und unentschlossen, ob es hier um symphonische Breite oder kammermusikalische Durchhörbarkeit geht. Die Interpretation ist letztendlich irgendetwas dazwischen, nicht schlecht, aber auch nicht allzu profiliert. Auch dürfte bei der beschriebenen stimmlichen Disposition die orchestrale Begleitung Brenda Raes noch stärker zurückgenommen werden. Gleichwohl entwickelt auch der instrumentale Part immense Spannung. Die entlädt sich in einem ungebändigten Schrei Lulus, in dem alles Leid komprimiert wird. Nicht nur das ist ein Moment, den man nicht so schnell vergessen wird.
Eine großartige, szenisch wie musikalisch packende und berührende Produktion. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie
Bühne
Kostüme
Licht
Konzeptionelle Mitarbeit
Dramaturgie
Solisten
Lulu
Dr. Schön / Jack the Ripper
Alwa
Gräfin Geschwitz
Maler / Freier
Tierbändiger / Athlet
Schigolch
Garderobiere / Gymnasiast / Groom
Prinz / Kammerdiener / Marquis
Theaterdirektor / Diener
Medizinalrat / Bankier / Professor
Eine Fünfzehnjährige
Mutter
Kunstgewerblerin
Journalist / Clown
Anima
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