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Orffs "magische
Bilder" im abstrakten Gewand Von Thomas Molke / Fotos:© Isabel Machado RiosCarl Orffs am 8. Juni 1937 an der Oper Frankfurt uraufgeführte Carmina burana gelten nicht nur wegen des berühmten Eingangschors "O Fortuna" zu den Meisterwerken der Chormusik des 20. Jahrhunderts. Auch Choreographinnen und Choreographen hat das Werk immer wieder zu Tanzkreationen inspiriert, was nicht verwunderlich ist. Schließlich enthielt das Titelblatt zum Programmheft der Uraufführung die vielsagende Formulierung "atque imaginibus magicis" ("und mit magischen Bildern"), womit eine szenische Umsetzung suggeriert wurde. Nun hat sich auch der Direktor der MiR Dance Company, Giuseppe Spota, gemeinsam mit dem Ensemblemitglied Alessio Monforte an eine Deutung der "magischen Bilder" gewagt und präsentiert den ersten Ballettabend der neuen Spielzeit im Großen Haus mit Orchester, Opern-, Extra- und Kinderchor des MiR sowie zwei Solisten und einer Solistin. Und weil das rund 60-minütige Stück für einen kompletten Abend vielleicht ein wenig zu kurz erschien, hat Spota noch ein "Praeludium" vorangestellt, zu dem er die beiden Choreographinnen Carla Cervantes Caro und Sandra Egido Ibáñez eingeladen hat. Camilla Bizzi (links) und Chiara Rontini (rechts) in Somos Ihr im März 2022 auf Gran Canaria uraufgeführtes Stück Somos, was Wir sind bedeutet, wurde beim Internationalen Duett-Wettbewerb 2024 in Rotterdam mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Spota erlebte dort die Kreation, in der die Choreographinnen selbst auftraten, und konnte die beiden überzeugen, das Werk mit Tänzerinnen und Tänzern der MiR Dance Company einzustudieren. Die beiden Choreographinnen beschreiben das Stück als das Ergebnis einer tiefen persönlichen Suche, bei der sich zwei Körper ineinander verschlingen und dabei versuchen, die Essenz von Intimität und eigener Persönlichkeit zu wahren. Die Musik stammt von dem spanischen Pianisten und Filmkomponisten Nico Casal und wird an einigen Stellen von elektronischen Klängen unterstützt. Neu an der Choreographie ist, dass sie nicht von einem Paar "getanzt" wird sondern von zwei Paaren, die auf beiden Seiten des oberen Foyers im MiR agieren. Der Flügel befindet sich zwischen den beiden Seiten und wird an diesem Abend von Karolina Halbig gespielt. Auf der einen Seite befinden sich zwei Tänzerinnen (Camilla Bizzi und Chiara Rontini), auf der anderen Seite zwei Tänzer (Pablo Navarro Muñoz und Yordi Yasiel Perez Cardoso). Die Bühne besteht jeweils aus einem schwarzen quadratischen Podest auf dem ein orangefarbener kreisrunder Teppich ausgebreitet ist. Die Farben der Kostüme der Tänzerinnen und Tänzer greifen den Farbton des Teppichs wieder auf, so dass sie gewissermaßen mit dem Boden zu einer Einheit verschmelzen. Pablo Navarro Muñoz (links) und Yordi Yasiel Perez Cardoso (rechts) in Somos Da die Choreographie vor der Carmina burana im Foyer gezeigt wird, muss man sich entscheiden, welches Paar man sich anschauen will. Man kann sich entweder um das jeweilige Podest stellen oder findet mit ein wenig Glück einen der wenigen Sitzplätze am Podest. Des Weiteren besteht die Möglichkeit vom Treppenhaus aus das Stück zu betrachten. Je nachdem wo man steht, hat man hier vielleicht die Möglichkeit, beide Paare zu sehen, ohne dass man während des Stückes die Seiten wechseln muss. Alternativ kann man sich auch schon vor der Präsentation auf seinen Platz im Saal begeben, weil dort auf dem eisernen Vorhang ein Video-Stream der Kreation gezeigt wird. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um einen Live-Stream, sondern um eine Aufzeichnung, so dass man eventuell nicht die aktuelle Besetzung vom Foyer sieht. Dafür hat man aber einen freien Blick auf die Bewegungssprache, weil niemand vor einem steht, und die Möglichkeit, die beiden Darbietungen zu vergleichen, die im Ablauf zwar ähnlich sind, dabei aber keine synchronen Bewegungen anstreben. Ob der Blick aus dem Saal mit dem Stream oder das Live-Erlebnis mit eventuelle Sichteinschränkung im Foyer zu bevorzugen ist, mag unterschiedlich beurteilt werden. Ästhetisch ist sicherlich beides beeindruckend anzusehen, auch wenn der Zusammenhang zur folgenden Choreographie von Carmina burana unklar bleibt und die Dauer von gut 10 Minuten den Gesamtabend auch nicht viel umfangreicher gestaltet. "O Fortuna": Ensemble Orffs Werk hat im eigentlichen Sinn keine durchgängige Handlung und setzt sich aus insgesamt 24 Liedern zusammen, die Orff aus einer Sammlung von Vaganten- und Scholarenliedern aus dem 12. und 13. Jahrhundert auswählte, auf die man 1803 in der Bibliothek des Klosters Benediktbeuern gestoßen war, weswegen die Sammlung auch "Benediktbeurer Lieder" genannt wurde. Johann Andreas Schmeller hatte sie im Bestand einer Münchner Hofbibliothek unter dem Titel Codex Buranus gefunden und 1847 neu herausgegeben. Orff wählte aus diesen in Latein, Mittelhochdeutsch und Altfranzösisch verfassten Texten 24 aus und schuf in Zusammenarbeit mit dem Lateinkenner Michel Hofmann ein Libretto, das in drei Teile gegliedert ist. Der erste Teil beschreibt das Erwachen des Frühlings und die aufkeimende Liebe. Der zweite Teil handelt von einem opulenten Gelage in einer Taverne, bei dem ein Schwan verzweifelt versucht, dem Kochtopf zu entkommen, und der dritte Teil greift das Liebeswerben des ersten Teils wieder auf. Eingerahmt wird das Werk von dem berühmten Chor "O Fortuna", der Anrufung der Schicksalsgöttin, was dem Werk einen gewissen zyklischen Charakter verleiht. In Gelsenkirchen verzichtet man auf eine Übertitelung der einzelnen Passagen, so dass die Texte leider absolut unverständlich bleiben, wenn man sie nicht mit dem im Programmheft abgedruckten QR-Code aufruft. Abstraktes Beziehungsgeflecht: von links: Joonatan Zaban, Chiara Rontini und Marie-Louise Hertog Zum Verständnis von Monfortes und Spotas Choreographie würden sie aber auch nicht helfen, so dass man sich unabhängig davon auf die Bildsprache einlassen muss. Zu Beginn des Stückes sieht man sechs Tänzerinnen und Tänzer, die durch den Saal vor den eisernen Vorhang treten. Die Kostüme von Alessandro Vigilante sind von der Clubbing-Szene inspiriert und spiegeln individuelle Persönlichkeiten wider. In den Schnitten werden unterschiedliche Körperstellen freigelegt, die andeuten, dass jeder Mensch in diesem Ambiente etwas anderes von sich preisgibt. Dann hebt sich der eiserne Vorhang. Der Orchestergraben ist hochgefahren, weil sich das Orchester mit dem Opern- und Extrachor im Hintergrund der Bühne befindet. An der Rampe stehen sechs weitere Tänzerinnen und Tänzer, die mit den anderen sechs Tänzerinnen und Tänzern in Aktion treten. Als Bühnenelemente sieht man in der Mitte drei schwarze breite Ringe, die zu einer Art Fass übereinander gestapelt sind und die sich mit viel Fantasie als das Schicksalsrad deuten lassen. Der Rest der relativ schmalen Bühne, für die Spota verantwortlich zeichnet, besteht aus mehreren Gestellen über zwei Ebenen, die teilweise mit Treppen, teilweise mit geschwungenen Rampen herabführen. Auf einer oberen Ebene sieht man einen einzelnen Tänzer, der dem Publikum den Rücken zuwendet. Das Kostüm könnte noch aus dem "Praeludium" stammen. Langsam entblößt er sich und legt ein anderes enges Kostüm an. Wenn die Musik beginnt, fallen die Tänzerinnen und Tänzer zunächst auf den Boden und ziehen sich zum berühmten "O Fortuna" Schuhe an, die auf der Bühne verteilt waren. Passend zur Musik stampfen sie dabei an einzelnen Stellen synchron den Rhythmus, bevor sie schnell um die schwarzen Ringe herumlaufen. Die folgenden Teile von Orffs Werk sind tänzerisch sehr abstrakt gehalten und lassen kaum einen Bezug zu dem gesungenen Text erkennen. Mit viel Fantasie kann man vielleicht im zweiten Teil noch den Schwan im Ofen erkennen, wenn sich Zsófia Safranka-Peti allein in einem Gestell windet, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Was den Körpereinsatz betrifft, leistet die Company Gewaltiges und geht bis an ihre Grenzen. Besonders deutlich wird das am Ende bei Chiara Rontini und Joonatan Zaban, die am Ende ihre Individualität ablegen und in hautfarbenen engen Kostümen ein als Kampf angelegtes Pas de deux mit kraftvollen Bewegungen präsentieren. Das Publikum feiert die Company mit großem Jubel. Auch die musikalische Umsetzung lässt keine Wünsche offen. Rasmus Baumann findet mit der Neuen Philharmonie Westfalen einen packenden Zugang zu Orffs vielfältiger Klangsprache, arbeitet das "O Fortuna" mit großer Wucht heraus und findet im ersten und dritten Teil sehr leichte und spielerische Momente, wenn es um das zarte Liebeswerben geht. Im zweiten Teil setzt er mit dem Orchester auch die bittere Komik mit dem Schwan hervorragend um. Der von Alexander Eberle einstudierte Opernchor, der um den Extrachor ergänzt wird, präsentiert sich stimmgewaltig und arbeitet die unterschiedlichen Stimmungen großartig heraus. Der Kinderchor ist zwar nicht zu sehen, begeistert aber ebenfalls durch frischen Klang. Martin Homrich arbeitet mit hoch angesetztem Tenor und teilweise im Falsett die Qualen des Schwans, der dem Kochtopf nicht entkommen kann, lautmalerisch intensiv heraus. Yancheng Chen lässt mit kraftvollem Bariton aufhorchen und versprüht als gefräßiger Abt eine gewisse Komik. Margot Genet punktet mit leuchtendem Sopran. FAZIT Auch wenn einiges in der Choreographie rätselhaft bleibt, faszinieren die musikalische Umsetzung und der unbändige Körpereinsatz der Company.
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Produktionsteam
Dramaturgie Somos Choreographie, Bühne und Kostüme Klavier Tänzerinnen und Tänzer*rezensierte Aufführung
*Camilla Bizzi Carmina burana
Musikalische Leitung
Regie und Bühne Choreographie Kostüme
Licht
Ton
Chorleitung Neue Philharmonie Westfalen Opern- und Extrachor des MiR Kinderchor des MiR Sängerinnen und Sänger *rezensierte Aufführung *Margot Genet / Tänzerinnen und Tänzer
Camilla Bizzi
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