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Und wenn kein Gott wäre?
Von Stefan Schmöe
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Fotos von Sandra Then
"Es ist ein Weinen in der Welt, / als ob der liebe Gott gestorben wär" - so beginnt das Gedicht Weltende von Else Lasker-Schüler. Der wunderbare Schauspieler August Zirner, der eigentlich eine kleine Rolle in dieser Oper hat und mit einigen zusätzlichen Texteinschüben eine große daraus macht, spricht die beiden Verse, und leitmotivisch zieht sich eine kurze Erzählung Zirners durch den Abend: Als Kind habe er beim Beten den Kopf immer senken müssen, denn, so die Begründung, man dürfe Gott nicht anschauen. Irgendwann habe er ganz mutig gerade deshalb nach oben geschaut. Und was hat er gesehen? Nichts. Es ist kein Gott in dieser schrecklichen Welt, in der eine Dorfgemeinschaft in Griechenland mit einem Passionsspiel doch eben diesen Gott herbeibeschwören will.
Dabei wäre christliche Barmherzigkeit angesagt, denn in die Vorbereitungen hinein platzt eine Gruppe griechischer Christen aus Kleinasien, die von den Türken vertrieben und jetzt ausgehungert auf der Suche nach einer neuen Heimat sind (historischer Hintergrund ist der türkisch-griechische Krieg Anfang der 1920er-Jahre). Sie werden von der um Wohlstand und Status besorgten Dorfgemeinschaft abgewiesen. Allein die Darsteller von Christus und seinen Aposteln, die sich zunehmend mit ihren Rollen identifizieren, solidarisieren sich mit den Fremden. Als Christus-Darsteller Manolios offen zur Revolte aufruft, wird er vom Darsteller des Judas getötet. Bohuslav Martinů hat das Libretto zu The Greek Passion nach dem Roman Christus wird wieder gekreuzigt von Nikos Kazantzakis (erschienen 1948) in englischer Sprache selbst erstellt. Geplant war die Uraufführung für die Londoner Oper Covent Garden, die das 1957 komponierte Werk aber ablehnte - zu viel gesprochener Text, lautete eines der Argumente. Martinů arbeitete die Oper um und brachte eine deutlich konventioneller angelegte Version 1961 in Zürich auf die Bühne. Die mühsam rekonstruierte Urfassung, die jetzt in Hannover gespielt wird, wurde erst 1999 bei den Bregenzer Festspielen uraufgeführt.
Mit der (erfundenen) Begründung, sie seien mit der Cholera infiziert, weist Grigoris eine Gruppe von Vertriebenen ab
Man ahnt, was den Londoner Verantwortlichen seinerzeit Unbehagen verursacht hat: Nicht nur durch gesprochene Passagen wird der musikalische Fluss immer wieder unterbrochen, sondern in der kleinteiligen Struktur der Komposition werden lyrische und emphatische Phrasen schroff von stilistisch ganz anderen Elementen abgelöst. Stephan Zilias und das sehr aufmerksame Niedersächsische Staatsorchester Hannover glätten in ihrer packenden Interpretation nichts, im Gegenteil. Sie stellen den collagenartigen Charakter deutlich heraus, spitzen ihn mitunter sogar noch zu, wenn etwa eine zarte elegische Melodie von derber Volksmusik des Akkordeons auf der Bühne harsch übertönt wird. Verschiedene musikalische Sphären stehen hart nebeneinander, manchmal in unterschiedlichen Lautstärken, als überblende eine Wahrnehmung die andere. Dabei kommt das lyrische Element der Musik keineswegs zu kurz. Das Orchester darf in melodischen (tonalen) Bögen schwelgen, nur ist es eben meist sehr schnell und plötzlich damit vorbei. Chor, Extrachor und Kinderchor (Einstudierung: Lorenzo Da Rio und Tatjana Bergh) singen mit großem Ton blockhaft statisch, wenn es um liturgische Phrasen geht, und mit scharfem, klar konturiertem Rhythmus, wenn die Stimmung ins Aggressive umschlägt. Nichts ist in dieser Musik beständig. Nicht einmal das Leitmotiv des Manolios wird so recht greifbar. In diesem steten Wechsel und der erratischen Form erscheint die musikalische Dramaturgie Martinůs ausgesprochen modern.
Die Aktualität des Stoffes liegt auf der Hand, und Regisseurin Barbora Horáková und Kostümbildnerin Eva-Maria van Acker lassen keinen Zweifel, dass sie auf unsere Gegenwart schauen. Dabei geht es Horáková in der bereits 2020 entstandenen, wegen der Corona-Pandemie aber kurzfristig abgesagten und jetzt nachgeholten Produktion gar nicht in erster Linie um die politisch heiß diskutierte Frage der Aufnahme von Flüchtenden. Sie zeigt den moralischen Konflikt einer Wohlstandsgesellschaft im Umgang mit denen, die nicht am Reichtum teilhaben. Das abstrakte Bühnenbild (Susanne Gschwender) besteht im Wesentlichen aus verschiebbaren Mauern, die man als physische Grenzen wie als Grenzen des Denkens ansehen kann. Immer wieder werden sie aus der Vogelperspektive gefilmt und auf Wände rechts und links der Bühne projiziert. Oft bilden sie ein Labyrinth, dann wieder zeigen sie eine Kreuzform. In manchen Szenen werden in Videosequenzen barocke Gemälde eingeblendet, darunter Francisco de Zurbaráns an den Beinen gefesseltes Lamm, das Agnus Dei, oft in Vergrößerungen und Verfremdungen. Dieses Spiel mit Symbolen zieht sich durch die assoziativ mit vielen Querverweisen arbeitende Inszenierung.
Auf der Bühne wechseln extrem realistisch dargestellte Momente abrupt mit abstrahierenden Szenen. Horáková bedient sich dabei aller Mittel des Theaters. Die Inszenierung greift in den Zuschauerraum über, spielt mit volkstümlichen Elementen, um im nächsten Moment dekonstruierend die leere Bühne zu zeigen. Ein kleines, ganz ausgezeichnetes Tanzensemble (zwei Tänzerinnen und ein Tänzer) deuten das Innenleben der Figuren an (Choreographie: Andrea Tortosa Vidal). Das sachlich und sorgfältig die Geschichte erzählende Geschehen auf der Bühne spiegelt damit auf geniale Weise den sprunghaften Charakter der Musik wider. Die Abwesenheit Gottes bedeutet auch die Abwesenheit von Ordnung.
Manolios wurde von den Dorfbewohnern getötet, Katerina und Fotis (der Priester der vertriebenen) decken den Leichnam zu. Vorne sitzt Schauspieler August Zirner, der das Geschehen immer wieder kommentiert.
Anders als im Libretto ruft Manolios die Neuankömmlinge nicht zum Kampf gegen die Einheimischen auf, sondern wird zum wirren Fanatiker, der mit einer Selbstverbrennung ein Zeichen gegen das Establishment setzen möchte. Der Lynchmob kommt ihm gerade noch zuvor, was freilich auch keine Lösung ist. Und die Gruppe der Flüchtenden zieht nicht geschlossen weiter, sondern geht auseinander und wird fortan irgendwo unter uns sein. Damit sind alle Fragen offen: Wie soll der Mensch in dieser Welt ohne Orientierung weiterleben? Die fesselnde und beklemmende Regie kann und will keine Antworten geben.
Das Konzept wird von einer präzisen Personenregie getragen, und es wird durchweg hervorragend gesungen. Der jugendlich anmutende Christopher Sokolowski gibt dem Manolios eine agile und geschmeidige Tenorstimme, Eliza Boom der Prostituierten Katerina einen schönen lyrischen Sopran. Shavleg Armasi verleiht dem Priester Grigoris mit wuchtigem Bass auch stimmlich große Autorität und Strenge, sein Gegenüber Marcell Bakonyi als Fotis, Priester der Flüchtenden, besticht auch vokal durch Eleganz. The Greek Passion ist eine große Ensembleoper, und dem wird die Staatsoper Hannover in allen Partien bestens gerecht.
Martinů stellt auf unbequeme Weise die großen theologischen Sinnfragen - kurz vor dem evangelischen Kirchentag in Hannover (wo es eigens einen Gottesdienst über diese Produktion geben wird) gelingt eine szenisch wie musikalisch fesselnde, mustergültige Interpretation der Griechischen Passion ohne Sentimentalität und falsches Pathos.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Mitarbeit Regie
Bühne
Mitarbeit Bühne
Kostüme
Choreographie / Dance Captain
Licht
Video
Chor
Kinderchor
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der Premiere
Manolios
Die Witwe Katerina
Priester Grigoris
Priester Fotis
Yannakos
Michelis
Kostandis
Panait
Lenio
Nikolio
Ladas /Kommentator
Kapitän
Ein alter Mann
Patriarcheas
Andonis
Lehrer
Despinio
Eine alte Frau
Dimitri
Stimme
Tänzer:innen
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