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Don Chisciotte

Oper in zwei Akten
Kritische Edition von Juan Manuel Gallego de Udaeta
Dialogfassung von Seollyeon Konwitschny-Lee
Musik von Manuel del Pópolo Vicente García

in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 2 h 45' (eine Pause)

Premiere des Theaters für Niedersachsen im Stadttheater Hildesheim am 28. September 2024




Theater für Niedersachsen
(Homepage)
Alptraum-Visionen eines Malers

Von Thomas Molke / Fotos: © Clemens Heidrich

Seit Oliver Graf 2019 die Intendanz am Theater für Niedersachsen übernommen hat, bildet in jeder Spielzeit eine Trilogie einen Schwerpunkt des Spielplans. Dabei erarbeiten die unterschiedlichen Sparten des Hauses jeweils eine Produktion zu einem literarischen Thema mit insgesamt drei unterschiedlichen Regie-Handschriften in einem einheitlichen Bühnenbild. Nach den Räubern in der Spielzeit 2019/2020, Medea in der Spielzeit 2021/2022 und Hamlet und Woyzeck in den folgenden Spielzeiten, ist die Wahl in diesem Jahr auf Don Quijote gefallen, wobei in dieser Saison die drei Produktionen über die ganze Spielzeit verteilt Premiere haben und mit Oper und Musical eigentlich zwei Musiktheaterproduktionen auf dem Plan stehen. Im Bereich der Oper hat man dieses Mal aber nicht nur wie in den Vorjahren eine absolute Rarität ausgegraben, sondern präsentiert auch eine deutsche Erstaufführung. Manuel Garcías Don Chisciotte ist in der Neuzeit bis jetzt nur 2006 in Sevilla zur Wiederaufführung gelangt. Der spanische Komponist ist, wenn überhaupt, vor allem als Startenor des frühen 19. Jahrhunderts bekannt. So hat er nicht nur in der Uraufführung von Rossinis Il barbiere di Siviglia die Partie des Conte d'Almaviva gesungen, sondern auch durchgesetzt, dass das Stück zunächst unter dem Titel Almaviva auf dem Spielplan stand. In den letzten Jahren wird vor allem bei Belcanto-Festivals auch seinem kompositorischen Talent Tribut gezollt. So gab es beispielsweise 2014 bei der Neuburger Kammeroper eine Wiederentdeckung seines Califfo di Bagdad, und das Belcanto Festival Rossini in Wildbad hat mit Le Cinesi, I tre gobbi und L'isola disabitata gleich drei Werke Garcías in den vergangenen Jahren präsentiert.

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Die Wirtstochter Brunirosa (Neele Kramer, Mitte) erzählt den Gästen (Opernchor) von Don Chisciottes Kampf gegen die Windmühlen.

Wann Garcías Don Chisciotte genau zur Uraufführung kam ist noch nicht erforscht. Juan Manuel Gallego de Udaeta, der Herausgeber der kritischen Edition, geht davon aus, dass die Oper erstmals 1829 in Paris gespielt wurde, nachdem García einige Jahre in Amerika verbracht hatte und dort unter anderem Rossinis Barbiere, Cenerentola und Otello herausgebracht hatte. Eine Nähe zu Rossinis Musik lässt sich seiner Komposition nicht absprechen, aber auch Mozart, Spontini und Cherubini scheinen seinen Stil beeinflusst zu haben. Die Handlung der Oper greift eine Episode aus Miguel de Cervantes' berühmtem Roman Don Quijote heraus und verknüpft sie mit dem Ende des Romans, in dem der Titelheld sterbend erkennt, dass seine vermeintlichen Abenteuer allesamt eine Illusion gewesen sind und er in seinem Wahn zwischen Dichtung und Realität nicht hat unterscheiden können. Auch der berühmte Kampf gegen die Windmühlen wird in einer Erzählung in die Oper mit aufgenommen. Im Zentrum steht allerdings die Geschichte zweier Paare, Fernando und Dorotea und Cardenio und Lucinda. Fernando und Cardenio sind beste Freunde, und Fernando ist mit Dorotea verlobt. Als Cardenio sich allerdings in Lucinda verliebt, entführt Fernando sie, um sie selbst zur Frau zu nehmen. Auf ihrer Suche nach den beiden treffen Cardenio und Lucinda auf Don Chisciotte, der sich ebenfalls in die Auseinandersetzung der beiden jungen Paare einmischt.

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Radipelo (Eddie Mofokeng, vorne links), Brunirosa (Neele Kramer, hinten links) und der Wirt Marcello (Uwe Tobias Hieronimi, hinten rechts) präsentieren Don Chisciotte (Yohan Kim, vorne rechts) Dorotea (Sonja Isabel Reuter, Mitte) als Prinzessin Micomicona.

Zur Zeit der Uraufführung der Oper dürfte die Geschichte um Cardenio, Fernando, Dorotea und Lucinda dem Publikum aus Cervantes' Ritterroman sehr vertraut gewesen sein. In der heutigen Zeit ist das wahrscheinlich nicht mehr der Fall, weshalb sich Regisseurin Seollyeon Konwitschny-Lee wohl das Recht herausnimmt, die Geschichte abzuändern. So erschießt Dorotea ihren Verlobten Fernando "versehentlich" im Kerker, als sie droht, sich selbst das Leben zu nehmen, wenn er nicht zu ihr zurückkehrt. Anschließend wird sie zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt und verbrannt. Dass diese Variante, die auch im Programmheft abgedruckt ist, nicht mit Garcías Libretto übereinstimmt, lässt sich erahnen, wenn man den gesungenen Text verfolgt. So besingen Dorotea und Fernando ihr wiedergefundenes Glück, während Fernando sterbend auf der Bühne liegt. Cardenio söhnt sich mit dem bereits toten Freund wieder aus, und auch auf dem Scheiterhaufen wirkt Dorotea voller Zuversicht. Nun ist diese Variante nicht weniger verrückt als die Originalgeschichte und passt zu Don Chisciottes Wahnvorstellungen. Bei einer deutschen Erstaufführung hätte man allerdings vielleicht doch das Werk erst einmal mit der eigentlichen Handlung präsentieren sollen, um dann in eventuell folgenden Inszenierungen eine neue Sichtweise zu entwickeln.

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Schießerei im Wirtshaus (in der Mitte: Fernando (Seunghoon Baek) und Dorotea (Sonja Isabel Reuter mit Don Chisciotte (Yohan Kim) dahinter, umgeben vom Chor und der Statisterie)

Aber Konwitschny-Lee geht in ihrer Inszenierung noch weiter. Als neue Figur fügt sie den spanischen Maler Goya ein, der kurz vor der Uraufführung der Oper im politischen Exil in Frankreich gestorben ist und in zahlreichen Bildern die Missstände seiner Zeit und die Gräueltaten des Spanischen Unabhängigkeitskriegs im von Napoleon besetzten Madrid verarbeitete. Konwitschny-Lee sieht Parallelen zwischen Garcías Oper und den Erfahrungen, die García (und Goya) in Spanien und Frankreich gemacht haben, was der Anlass für García gewesen sein mag, die Geschichte von Don Chisciotte zu vertonen. So ist der Dorfrichter (L'auditore), der den Streit im Wirtshaus zu schlichten versucht, in Konwitschny-Lees Inszenierung Napoleon höchstpersönlich, der den Widerstand zu brechen versucht, indem er seine Soldaten wahllos in die Menge schießen lässt. Dafür wird ein Gemälde Goyas, Die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808, auf der Bühne nachgestellt. Anschließend ist es auch Napoleon, den Dorotea bezirzt, um zu dem Gefangenen Fernando vorgelassen zu werden. Don Chisciotte spricht ihn dann auch noch als Doktor an, wenn er aus einem Brief eines Verrückten von Guy de Maupassant zitiert.

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Goya (Dirk Flindt) taucht in die Welt von Don Chisciotte ein (vorne links: Dorotea (Sonja Isabel Reuter)).

Anna Siegrot, die nach Medea und Hamlet zum dritten Mal das Einheitsbühnenbild für die Trilogie entwirft, hat einen recht abstrakten Ansatz gewählt. In zwei konzentrischen Schienen befinden sich acht verschiebbare Wände, die als Rahmen und Fassaden dienen und durch wechselnde Positionen neue Räume entstehen lassen. Als weitere Requisiten dienen ein Tisch und mehrere Stühle. In diesem Ambiente sind die Kostüme von Amelie Müller recht klassisch und opulent gehalten und zeichnen die Figuren so, wie man sie sich in einem spanischen Ritterroman vorstellt. Goya tritt in einem weißen Nachthemd mit Schlafmütze auf, um zu betonen, dass die ganze Geschichte eine Alptraumvision des Malers ist. Zu Beginn der Ouvertüre öffnen drei Statisten mit Eselskopf den Raum, der durch die verschiebbaren Wände verschlossen ist, und man sieht Goya mit einer Marionette eines Ritters auf dem Stuhl neben ihm. Dabei blättert er in dem Roman Don Chisciotte, bevor er von den drei Statisten mit Eselsköpfen in eine surreale Traumwelt entführt wird. Dorotea tritt zunächst ebenfalls als Marionette auf, löst sich aber von ihren Fäden, während Don Chisciotte dabei die Hilfe seines Knappen Sancio Pancia benötigt.

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Die Geisterbotin (Neele Kramer) erscheint Don Chisciotte (Yohan Kim).

Unklar bleibt, ob Garcías Oper eigentlich eine durchkomponierte Oper ohne Dialoge ist oder ob die Dialogfassung von Konwitschny-Lee auch übersetzte Passagen enthält, die aus dem Original stammen. Alles in allem erzählt Konwitschny-Lee aber eine in sich schlüssige Geschichte, der man gut folgen kann. Musikalisch wird man zunächst mehr an Mozart als an Rossini erinnert. Beim Finale des ersten Aktes kopiert García das Finale von Rossinis Barbiere aber so extrem, dass man fast von einem Plagiat sprechen kann. Florian Ziemen arbeitet mit der TfN-Philharmonie die unterschiedlichen Klangfarben der Partitur differenziert heraus und belegt, dass García nicht nur ein hervorragender Sänger war, sondern es auch verdient hat, als Komponist wiederentdeckt zu werden. Die Titelpartie hatte García eigentlich für sich komponiert. Ob er sie selbst zum Zeitpunkt der Uraufführung noch singen konnte, ist nicht bekannt. Immerhin hatte seine Stimme Ende der 1820er Jahre ihren Zenit bereits überschritten, so dass die Partie vielleicht zu anspruchsvoll gewesen wäre. Mit Yohan Kim verfügt das Theater für Niedersachsen über einen Haustenor, der den Anforderungen in jeder Hinsicht gewachsen ist, in den Läufen große Flexibilität besitzt und auch die Höhen sauber aussingt. Im eingefügten Monolog aus Guy de Maupassants Brief eines Verrückten glänzt Kim außerdem mit einer enormen Komik.

Auch Sonja Isabel Reuter kann als Idealbesetzung für die Partie der Dorotea betrachtet werden. Mit strahlenden Koloraturen und großer Flexibilität in den Läufen gestaltet sie die unglückliche Frau, die wie eine Löwin um ihren Geliebten kämpft, aber zwischendurch immer noch Zeit findet, als Prinzessin Micomicona Don Chisciottes Handeln zu beeinflussen. Andrey Andreychik verfügt als Sancio Pancia über einen kraftvollen Bariton und überzeugt mit komödiantischem Spiel. Neele Kramer gibt eine zupackende Wirtstochter Brunirosa, die mit großem Spielwitz von Don Chisciottes Kampf gegen die Windmühlen berichtet, und verwandelt sich am Ende in eine beinahe unheimliche Geisterbotin, die Don Chisciotte in eine andere Welt führt. Auch die übrigen Solistinnen und Solisten und der von Achim Falkhausen einstudierte Opernchor und Extrachor des TfN überzeugen durch große Spielfreude, so dass es verdienten Beifall für alle Beteiligten im leider nicht vollständig ausverkauften Haus gibt.

FAZIT

Musikalisch hat Manuel Garcías Don Chisciotte seine Meriten und verdient eine Wiederentdeckung. Insgesamt findet Seollyeon Konwitschny-Lee in ihrer Inszenierung eine schlüssige Umsetzung. Für eine deutsche Erstaufführung eines absolut unbekannten Werkes hätte man sich aber vielleicht weniger Eingriffe in das Libretto gewünscht.

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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Florian Ziemen

Inszenierung
Seollyeon Konwitschny-Lee

Bühne
Anna Siegrot

Kostüme
Amelie Müller

Chor
Achim Falkenhausen

Dramaturgie
Samuel C. Zinsli

 

TfN-Philharmonie

Opernchor und Extrachor des TfN

 

Solistinnen und Solisten

*Premierenbesetzung

Don Chisciotte
Yohan Kim

Dorotea
Sonja Isabel Reuter

Sancio Pancia
Andrey Andreychik

Lucinda
Carolina Luquin Duarte

Fernando
Seunghoon Baek

Cardenio
Julian Rohde

Ferulino
Chun Ding

Radipelo
Eddie Mofokeng

Marcello, Wirt
Uwe Tobias Hieronimi

Brunirosa, seine Tochter /
Geisterbotin
Neele Kramer

L'auditore (Napoleon)
Hogeun Kim

Goya, Maler
Dirk Flindt

 


Weitere
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Theater für Niedersachsen
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