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Händel und Virginia WoolfVon Thomas Molke / Fotos: © Matthias Jung und Sandra ThenIn insgesamt drei Opern hat sich Georg Friedrich Händel mit Ariosts großem Versepos Orlando furioso beschäftigt, das eine sagenhafte Abhandlung mit dem Feldzug Karls des Großen gegen die Sarazenen in Spanien darstellt, der in der Schlacht bei Roncesvalles 778 mit der Vernichtung des fränkischen Heeres sein blutiges Ende fand. Ariost fügte in die Erzählung um den Paladin Roland (Orlando), der aus unerwiderter Liebe zu Angelica, der Königin von China, den Verstand verliert, zahlreiche Fabelwesen und weitere fiktive Charaktere und Geschichten ein. So gibt es beispielsweise eine Nebenhandlung um den schottischen Ritter Ariodante, der an der Treue seiner Verlobten Ginevra zweifelt, und als weitere Hauptfigur den Paladin Ruggiero, der von seiner Braut Bradamante aus den Fängen der Zauberin Alcina befreit wird. Wie bei seinen beiden späteren Opern Ariodante und Alcina griff Händel für seine Vertonung nicht direkt auf das Versepos zurück, sondern bearbeitete ein bereits bestehendes Libretto einer anderen Oper. Im Falle von Orlando war es das Dramma pastorale Orlando ovvero La gelosa pazzia von Carlo Sigismondo Capeche, das 1711 mit der Musik von Domenico Scarlatti in Rom uraufgeführt worden war. Händels Version, die am 27. Januar 1733 am King's Theatre Haymarket zur Uraufführung gelangte, war zwar ein gewisser Erfolg beschieden. Sie verschwand aber nach nur zehn Aufführungen vom Spielplan, da der Starkastrat Senesino, dem Händel die Titelpartie in die Kehle komponiert hatte, zu Händels Konkurrenzunternehmen, der Opera of the Nobility, wechselte und Händel wohl keinen adäquaten Ersatz hatte. So geriet die Oper in Vergessenheit, bis sie 1922 beim Händelfest in Halle an der Saale in einer deutschsprachigen Bearbeitung von Hans Joachim Moser wiederentdeckt wurde. Erst seit den 1980er Jahren stand das Werk etwas häufiger auf dem Spielplan. Maßstäbe setzte vor allem die Inszenierung am Fenice Theater in Venedig 1985 mit Marilyn Horne in der Titelpartie. Die Oper Köln übernimmt nun eine Produktion des spanischen Festivals Perelada, die dort 2021 wegen der Corona-Pandemie nur einmal gespielt wurde. Orlando (Xavier Sabata) wird wahnsinnig (© Matthias Jung) Wer Capeches Libretto für Händel bearbeitet hat oder ob Händel die Änderungen eventuell selbst vorgenommen hat, lässt sich heute nicht mehr nachweisen. Jedenfalls verzichtet Händel in seiner Fassung auf das zweite Liebespaar Isabella / Zerbino und konzentriert sich ganz auf die Dreiecksgeschichte um Orlando, Angelica und Medoro, die den Paladin schließlich wahnsinnig werden lässt. Vielmehr weitet er sie zu einer Vierecksgeschichte aus, indem er noch die Schäferin Dorinda einführt, die wie Angelica in den maurischen Prinzen Medoro verliebt ist und deren Liebe Medoro genauso wenig erwidert wie Angelica die Liebe Orlandos. Während Angelica und Medoro Dorinda allerdings mit einem Schmuckstück abfinden können, das Orlando Angelica einst aus Liebe geschenkt hat, wenden sie bei Orlando eine List an, um seinen Nachstellungen zu entfliehen. Angelica gibt Orlando gegenüber vor, eifersüchtig auf eine Prinzessin zu sein, die dieser gerettet hat, und fordert neue Beweise für seine Liebe. Orlando zieht daraufhin voller Tatendrang los, und Angelica und Medoro planen die gemeinsame Flucht. Als Orlando den Betrug entdeckt, wird er rasend, lässt über dem Nebenbuhler ein Haus zusammenstürzen und will die untreue Geliebte in einen Abgrund stoßen. Der Zauberer Zoroastro, der weder bei Ariost noch in Capeches Libretto vorkommt, verhindert eine Katastrophe, indem er Orlando einen Trank reicht, mit dem dieser von seiner Raserei geheilt wird. Der geläuterte Orlando bittet Angelica und Medoro um Verzeihung, und es kommt zur allgemeinen Versöhnung. Dorinda tröstet sich mit der Erkenntnis, dass Liebe nur Durcheinander verursacht und mehr Leid als Freude bringt. Orlando (Xavier Sabata, vorne) und Medoro (Adriana Bastidas-Gamboa, hinten) kämpfen um Angelicas Gunst. (© Sandra Then) Während sich der Stoff in der Barockoper großer Beliebtheit erfreute und vor und nach Händel zahlreiche weitere Komponisten zu Vertonungen inspirierte, interessiert sich das Regie-Team um Rafael R. Villalobos vor allem für den gleichnamigen Roman von Virginia Woolf aus dem Jahr 1928. Orlando ist bei ihr ein junger Adeliger, der durch verschiedene Jahrhunderte streift und dabei auch sein Geschlecht ändert. Woolf hinterfragte damit die Rollen von Mann und Frau und die Stellung der Frau in der Gesellschaft. Inspiriert zu der Figur des Orlando hat Woolf Vita Sackville-West, mit der sie nach einer kurzen erotischen Liaison eng befreundet war und die selbst mit der Schriftstellerin Violet Trefusis jahrelang eine wilde Liebesbeziehung verband, die die beiden vor der Öffentlichkeit als Hetero-Paar tarnten. Villalobos sieht nun in den drei Frauen Woolf, Sackville-West und Trefusis Parallelen zu drei Figuren des Stücks: Dorinda, Medoro und Angelica. Auch bei der Uraufführung wurde die Partie des Medoro von einem Mezzosopran gesungen, und ein großes Terzett der drei in Händels Opern deutet für Villalobos an, dass sie eigentlich keine bloßen Randfiguren in der Geschichte um Orlando sind. So lässt er Dorinda als Virginia Woolf auftreten, die unglücklich in Vita Sackville-West (Medoro) verliebt ist, deren Herz aber für Violet Trefusis (Angelica) schlägt. Medoro (Adriana Bastidas-Gamboa, vorne rechts) zwischen Dorinda (hier: Alina König Rannenberg, hinten links) und Angelica (hier: Giulia Montanari, hinten Mitte) (© Matthias Jung) Welche Rolle spielt dann aber die Titelfigur Orlando in diesem Beziehungsgeflecht? Existiert er überhaupt jenseits der Vorstellung der drei Protagonistinnen? Ist er ein Doppelgänger von Medoro, was eigentlich keinen Sinn macht, da Angelica / Trefusis und Medoro / Sackville-West einander lieben? Was sollte er als Doppelgänger zerstören wollen? Oder soll die Raserei eine Anspielung auf Sackville-Wests Eifersucht auf Trefusis sein, die sich auch gerne mit anderen Damen und Herren vergnügte? Besteht ein Zusammenhang zwischen Orlando und seiner Schöpferin Woolf, die selbst an einer bipolaren Störung litt? Villalobos gibt keine Antworten auf diese Fragen, sondern lässt das Publikum allein entscheiden. Die Kostüme, für die er ebenfalls verantwortlich zeichnet, ordnen den vier Figuren eindeutige Farben zu, Orlando gelb, Angelica rot, Medoro grün und Dorinda blau. Das gelbe Sakko von Orlando tragen abwechselnd Medoro und Dorinda, während der gelbe Faltenrock über Orlandos Hose vielleicht eine Zweigeschlechtlichkeit andeutet. Offen bleibt auch die Frage, wer Zoroastro eigentlich ist. Villalobos lässt ihn erst relativ spät als Figur auf der Bühne auftreten. Den Anfang singt er aus dem Off, während man auf der Bühne in einer schemenhaften Projektion nur einen großen Mund sieht. Ist er etwa auch nur die innere Stimme Woolfs, die sie zu ihrem Roman inspiriert? Zoroastro (Gianluca Buratto, rechts) versucht, Orlando (Xavier Sabata, Mitte) zu beruhigen (auf der linken Seite: Giulia Montanari als Angelica und Alina König Rannenberg als Dorinda, hinten rechts liegend: Adriana Bastidas-Gamboa als Medoro) (© Matthias Jung) Während die Inszenierung und die Personenregie zahlreiche Fragen aufwirft und sich auch die Anspielungen auf Woolfs andere Romane nur dem Teil des Publikums erschließen, die mit den literarischen Werken der Autorin recht vertraut sind, begeistert das Bühnenbild von Emanuele Sinisi. Über der Bühne schwebt ein riesiger dreieckiger Spiegel, der den Bühnenboden reflektiert und den weißen Untergrund wie eine Art Blatt Papier erscheinen lässt, auf dem zu Beginn der Oper die Buchstaben in Projektionen tanzen wie in Woolfs Kopf, die sie zu Sätzen zusammensetzen will. Ein Schreibtisch mit einer grünen Lampe im Bauhaus-Stil und einer Schreibmaschine dominiert den Raum. Hier nimmt Dorinda / Woolf zu Beginn Platz, um an ihrem Roman zu arbeiten. Dabei rollt Orlando als Figur auf die Bühne über das Blatt. Zwei Klappen lassen sich im Bühnenboden öffnen. Eine Klappe bietet den Figuren die Möglichkeit aufzutauchen und schnell zu verschwinden. Eine andere Klappe gibt den Blick auf ein riesiges Bett frei, in dem Zoroastro den wahnsinnigen Orlando in einen tiefen Schlaf fallen lässt. Das ist alles eindrucksvoll anzusehen, auch wenn sich der Zusammenhang zwischen Händels Oper und den Anspielungen auf Virginia Woolfs Biographie bzw. Roman nicht erschließt. Star des Abends ist das Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung des Barock-Spezialisten Rubén Dubrovsky, der mit sehr viel Fingerspitzengefühl und Liebe zum Detail Händels Musik zum Blühen bringt. Xavier Sabata verfügt in der Titelpartie über einen sehr weichen Countertenor, der sich zwar in den Läufen sehr beweglich zeigt, für den rasenden Orlando allerdings fast ein wenig zu lieblich und brav klingt. Da hätte man sich etwas mehr Schärfe in den Spitzentönen gewünscht, vor allem in den beiden Bravour-Arien im ersten und zweiten Akt. In der Schlafszene im dritten Akt hingegen ist seine Stimmführung wunderbar passend. Sabina Puértolas stattet die Partie der Angelica mit strahlenden Spitzentönen aus und punktet mit großer Beweglichkeit in den Koloraturen. Adriana Bastidas-Gamboa ist als Medoro mit kraftvollem, sattem Mezzosopran eine absolut sichere Bank. Aufhorchen lässt Maria Koroleva, Mitglied des Internationalen Opernstudios, als Dorinda mit hellem, absolut klarem Sopran, der in den Spitzentönen über eine enorme Lieblichkeit verfügt. Gianluca Buratto stattet den Zauberer Zoroastro mit markantem Bass aus, auch wenn der Personenregie für die Figur nicht allzu viel einzufallen scheint. So gibt es für alle Beteiligten am Ende verdienten Applaus. FAZIT Musikalisch bietet der Abend Barockmusik vom Feinsten. Szenisch wirkt die Parallele zwischen Händels und Woolfs Orlando allerdings arg konstruiert.
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Produktionsteam
Musikalische Leitung Inszenierung und Kostüme Szenische Einstudierung Bühne Licht Übernahme Beleuchtung Staatenhaus
Gürzenich-Orchester Köln Laute / Theorbe I Laute / Theorbe II Cembalo I Solistinnen und Solisten*rezensierte Aufführung Orlando Angelica Medoro
Dorinda Zoroastro Stimme der
Tonaufnahme
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