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Von der Notwendigkeit des Erinnerns
Von Stefan Schmöe
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Fotos von Matthias Stutte Wann wird Erinnern zur Verantwortung? Und wann zur Last? Das sind zentrale Fragen, die an einigen wenigen Stellen wirkungsvoll auf die Bühnenrückwand projiziert werden. Zur Last werden sie zunächst für Lisa, ehemalige Aufseherin im KZ Auschwitz, die bei einer Schiffspassage in einer anderen Passagierin die damals inhaftierte Marta zu erkennen glaubt. Das ruft die Erinnerungen an die verdrängte Vergangenheit hervor, und die Bilder aus dem Vernichtungslager werden wieder lebendig. Komponist Mieczysław Weinberg stellt in seiner im russischen Exil in den 1960er-Jahren komponierten, erst 2009 uraufgeführten Oper zwei Handlungsebenen nebeneinander, die Ereignisse auf dem Schiff und die in Auschwitz. Im Libretto von Alexander Medwedew nach einem Roman von Zofia Posmysz, die ihre eigenen Erlebnisse als Häftling im KZ darin verarbeitet, geht es auch um den Zusammenbruch aller Rechtfertigungsversuche für das Unfassbare. Und damit auch die Frage, wo ein Befehl endet und die Verantwortung für das eigene Handeln beginnt. ![]() Lisa, ehemalige Aufseherin in Auschwitz, und Ehegatte Walter, ahnungsloser BRD-Karrierediplomat, auf der Schiffspassage in ein neues Leben
Die Erzählung aus der Täterperspektive sei schwierig, weil sie mit einem anderen Blick aufgewachsen sei, sagt die 1954 in Tel Aviv geborene Regisseurin Dedi Baron in einem sehenswerten Videointerview, das man auf der Theaterhomepage anschauen kann. Sie verzichtet auf eine realistische Darstellung des Lagers und auf jede NS-Emblematik. In der Gedankenwelt Lisas wird das Personal des Passagierschiffes ohne Kostümwechsel zu SS-Aufsehern und zum Lagerkommandanten. Die Häftlinge mischen sich wie Geister unter die Reisenden, die im ersten Akt auf Sonnenliegen die Reise zu genießen scheinen. Wobei der Bühnenraum (Ausstattung: Kirsten Dephoff) mit Laternen an der rostigen Rückwand, die wie Duschköpfe aussehen, fatal an die Gaskammern erinnert. In einer späteren Einstellung erahnt man die Pritschen der Häftlinge in den Baracken. Die unheimliche Präzision der Choreographie (Liron Kichler) des Chores deutet auf subtile Weise die Disziplin im Lager an. Einen Blick in die Vergangenheit deuten die in Sepiatönen (wie auf leicht vergilbten Fotografien) gehaltenen Kostüme der Reisenden an, gegen die sich das strahlende Weiß von Lisas Bluse (das in den Uniformen des Schiffspersonals wiederkehrt) aggressiv abhebt. So kommt die Regie mit vielen kleinen Zeichen aus, die unaufdringlich, aber suggestiv das Grauen andeuten. ![]() In der Erinnerung Lisas werden die Häftlinge lebendig.
Die in Krefeld gespielte Fassung kürzt das Werk um einige Szenen aus dem Lagerleben. Das ist bedauerlich, weil man keine Note dieser faszinierenden, hier ungemein spannend erzählten Oper missen möchte, und es verschiebt die Akzente, worüber sich diskutieren lässt. Es fehlen in Teilen die individuellen Geschichten der sechs Frauen, die mit Marta hier gefangen sind und die in dieser Inszenierung mit identischen schulterlangen Haaren beinahe ununterscheidbar bleiben. Weinberg hebt im Original stärker hervor, dass sich hinter den monströsen Todeszahlen Einzelschicksale verbergen, was hier ein wenig verlorengeht. Vielleicht gehört das Verschwinden der Individualität zum Programm der Inszenierung. Dedi Baron konzentriert den Blick auf den Konflikt zwischen Lisa und Marta, zwischen denen sich ein denkbar ungleicher Machtkampf entwickelt. Marta und ihr Verlobter Tadeusz, den sie im Lager wiederfindet, nehmen Lisas gönnerhafte Gefälligkeiten wie die Möglichkeit eines heimlichen Rendezvous nicht an, weil sie der Aufseherin nicht zur Dankbarkeit verpflichtet sein und die erzwungene Hierarchie nicht anerkennen wollen. Es ist ein Ringen um Menschenwürde, das sich in diesem Abhängigkeitsverhältnis ergibt. ![]() In Auschwitz: Lisa (links) und Marta
Die Hauptpartien sind ideal besetzt. Eva Maria Günschmann gibt eine strenge, durch und durch pflichtbesessene wie machtbewusste Lisa. Ein wenig mehr Selbstzweifel dürfte sie in ihre ansonsten grandiose Interpretation der Figur einstreuen. Mit klarer, genau fokussierter Stimme und präziser, wortgenauer Phrasierung gestaltet sie die Dialoge mit Marta und mit ihrem bis dahin ahnungslosen Ehemann Walter, einen jetzt um seine Karriere fürchtenden BRD-Diplomaten (mit eindrucksvollem, seiner Entrüstung angemessen scharfem Tenor: Jan Krisof Schliep, der einzige Gast im Ensemble). Sophia Poulopoulou, um einen Kopf kleiner (was die Inszenierung geschickt zum Ausdruck der Machtverhältnisse einsetzt), ist eine mädchenhafte Marta mit lyrisch fließendem, oft sehr zartem, aber nicht zu kleinem Sopran. Und es sind die ganz leisen, aber ungeheuer intensiv gesungenen Passagen (auch im ausgezeichneten, mit angenehm wenig Vibrato singenden Chor), die einen ganz starken Eindruck hinterlassen. Rafael Bruck singt mit jugendlichem Bariton den Tadeusz, der dem Lagerkommandanten dessen an Schostakowitsch erinnernden Lieblingswalzer auf der Geige vorspielen soll, stattdessen aber die Chaconne aus Johann Sebastian Bachs d-Moll-Partita anstimmt. Er wird diese Provokation nicht überleben. Hier steht er in dieser Schlüsselszene, dem Ende der Handlung, nackt auf der Bühne, dem Publikum den Rücken zugewandt. Dieses Bild, das den Versuch der Erniedrigung wie der ungebrochenen Menschenwürde ausdrückt, wird man so schnell nicht wieder los. ![]() Im Lager trifft Lisa unerwartet ihren Verlobten Tadeusz wieder
Auch die weiteren Partien kann das Theater Krefeld und Mönchengladbach, das mit diesem so schwierigen wie großartigen Werk den 75. Geburtstag der Zwei-Städte-Theatergemeinschaft feiert und damit auch einen klaren gesellschaftspolitischen Anspruch formuliert, ausgezeichnet besetzen. Über sich hinaus wachsen die Niederrheinischen Sinfoniker, die unter der Leitung von Chefdirigent Mihkel Kütson die unterschiedlichen Stilebenen der Musik scharf nebeneinanderstellen: Schrille Tanzmusik für die SS-Welt, gepflegte Tanzmusik für die scheinbar heile Welt von Walter und Lisa, mitfühlende Lyrik für die Gefangenen. Neben expressiven Schlagzeugattacken stehen unendlich ruhige Klangflächen, über denen der Chor das Geschehen kommentiert. (Es lohnt unbedingt, sich vor der Aufführung die Einführung durch Studienleiter Anton Brezinka anzuhören, der am Flügel auch auf die ungewöhnliche musikalische Struktur der Oper eingeht.) Immer wieder nimmt sich die Inszenierung zurück und lässt die gerade in ihren Kontrasten bewegende Musik Weinbergs sprechen. Als stumme Figur fügt Dedi Baron in dieser durchgehend fesselnden Inszenierung in einigen Szenen ein junges Mädchen (Liron Kichler) ein, laut Besetzungszettel eine "junge Israelin", die das Geschehen betrachtet. Das spiegelt die Notwendigkeit des Erinnerns von beiden Seiten - den Nachkommen der Opfer wie der Täter. "Wenn eines Tages das Echo eurer Stimmen verhallt, sind wir verloren" - die Worte des Widerstandskämpfers Paul Éluard hat Weinberg der Oper als Motto vorangestellt, und er lässt sie im Epilog von Marta singen, bei aller Intensität sehr zärtlich. Dedi Baron stellt ein hoffnungsvolles Bild an den Schluss. Die Gesellschaft auf dem Schiff, die sich eben noch gut gelaunt zuprostete und nichts wahrhaben wollte, stellt ihre Gläser, jetzt mit Kerzen darin, auf dem Boden ab, zwischen Plaketten, die Stolpersteine zur Erinnerung an die Opfer des Holocaust sein könnten. So endet der Abend mit einer leisen und doch entscheidenden Geste der Erinnerung.
Mit dieser von Dedi Baron sehr sensibel inszenierten Passagierin zum Jubiläum der Theaterehe zwischen Krefeld und Mönchgengladbach erlebt man hier eine szenisch wie musikalisch ungemein packende und berührende Produktion. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne und Kostüme
Choreographie
Chor
Dramaturgie
Solistinnen und Solisten* Besetzung der Premiere
Lisa
Walter
Marta
Tadeusz
Katja
Krystina
Vlasta
Hannah
Yvette
Bronka
1. SS-Mann
2. SS-Mann
3. SS-Mann
Älterer Passagier
Steward
Oberaufseherin
Junge Israelitin
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