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Verpasste Lebenschancen mit ergreifender Musik
Von Thomas Molke / Fotos: © Matthias Stutte Puschkins Versroman Eugen Onegin nimmt in der russischen Literatur einen ähnlichen Stellenwert ein wie Goethes Faust in Deutschland. Von daher schien es ein waghalsiges Unterfangen für den noch relativ jungen Komponisten Peter Tschaikowsky zu sein, das Werk zu einer Oper zu verarbeiten. Viele seiner Freunde und Komponistenkollegen zeigten sich zunächst skeptisch, da das zum russischen Nationalepos erhobene Meisterwerk Puschkins überwiegend in Erzählform geschrieben ist und kaum Dialoge enthält. Man erachtete es folglich beinahe als Sakrileg, Puschkins Figuren in einer Oper vollständig neue Texte in den Mund zu legen. Doch Tschaikowsky hielt an seinem Vorhaben fest, mit der Vertonung des Stoffes dem Musiktheater eine ähnlich neue Richtung mit mehr Realismus und Psychologie zu geben, wie sie auch der Versroman eingeschlagen hatte. Um sich von den klassischen großen Opern abzugrenzen, bezeichnete er das Stück als "lyrische Szenen" und stellte in jedem der drei Akte eine andere Figur in den Mittelpunkt. Die eigentliche Uraufführung fand am 17. März 1879 als geschlossene Vorstellung im Moskauer Maly-Theater statt, dem Kleinen Haus des Bolschoi, und wurde von Studentinnen und Studenten des Konservatoriums produziert. Zwar bemängelten einige Zeitgenossen, dass das Stück zu handlungsarm sei und kein dramatisches Potenzial besitze, aber Tschaikowsky ließ sich von seinen Kollegen dennoch überzeugen, das Werk auf die große Bühne am Moskauer Bolschoi-Theater zu bringen. Die Begeisterung für die hochemotionale Musik und die menschlich nachvollziehbaren Konflikte der Figuren trafen das Publikum mitten ins Herz und ließen die Kritiker sehr schnell verstummen. So verbreitete sich das Stück über ganz Europa und hat seitdem einen festen Platz im Repertoire der Opernhäuser inne. Tatjana (Sofia Poulopoulou, vorne links) begegnet Onegin (Rafael Bruck, vorne links) (hinten rechts: Lenski (Woongyi Lee) und Olga (Kejti Karaj)). Helen Malkowsky gibt in ihrer Inszenierung den Figuren viel Raum, um tief in die Gefühlswelt der einzelnen Charaktere einzutauchen, und baut weitere Aspekte in das Stück ein, die einen neuen Blick eröffnen. So startet das erste Bild auf dem Landgut Larinas mit einer Beerdigung. In Trauerkleidung nehmen Larina und ihre Töchter vor einem Bildnis mit Trauerflor Abschied von dem Gutsbesitzer, während Filipjewna nahezu stoisch die Schnapsgläser für den anschließenden Umtrunk säubert, zu dem sich die Dorfgemeinde einfindet. Das fröhliche Lied der Bauern passt hier zwar nicht ganz zum Anlass, mag aber als Versuch betrachtet werden, die düstere Stimmung im Haus ein wenig aufzuheitern. Verwirrung stiftet eine schwangere Frau, die Larina gegenübertritt und ihr einen Brief überreicht. Dass Larina ihr Geld zusteckt, lässt vermuten, dass diese Frau ein uneheliches Kind des Verstorbenen unter ihrem Herzen trägt und Larina sich das Schweigen der Frau erkauft. Larina gibt den Brief an Tatjana weiter, die bei der Lektüre irritierter ist als bei den Büchern, mit denen sie sich ansonsten beschäftigt. Bühnenbildnerin Tatjana Ivschina hat einen hohen abstrakten Raum entworfen, der durch Einsatz der Drehbühne Einblick in insgesamt drei unterschiedliche Bereiche des Hauses gibt. Die Wände sind grau und heruntergekommen, und auch die zahlreichen Fenster lassen keinen Blick nach draußen zu, da die Scheiben entweder blind oder mit Papier verhangen sind. Tatjana (Sofia Poulopoulou) schreibt einen Brief. Dieses Papier reißt Tatjana im zweiten Bild von zahlreichen Fenstern ab, um darauf ihren Brief an Onegin zu schreiben, dem sie bei der Beerdigung erstmals begegnet ist und in den sie sich sofort unsterblich verliebt hat. Im weiteren Verlauf werden weitere Fensterscheiben aus dem Schnürboden herabgelassen, auf denen sich zunächst in beeindruckenden Projektionen Regentropfen sammeln und auf der beschlagenen Scheibe ein Herz und weitere Kritzeleien zeigen. Wenn Onegin dann im dritten Bild auftritt, um Tatjanas Werben eine Abfuhr zu erteilen, bilden die Scheiben den Brief ab, den Tatjana Onegin über ihre Amme Filipjewna hat zukommen lassen. Im letzten Bild vor der Pause kommt ein wenig Farbe in den Hintergrund. Auf die Rückwand werden herbstliche Bäume projiziert, die das Drama ankündigen, was sich auf Tatjanas Namenstagsfeier abspielt. Um Lenskis Überreaktion auf Onegins Flirt mit Olga zu motivieren, ist hier jede Menge Alkohol im Spiel. Lenski wird von den Gästen regelrecht abgefüllt, so dass er offensichtlich nicht mehr Herr seiner Sinne ist, wenn er Onegin am Ende zum Duell herausfordert. Onegin (Rafael Bruck, Mitte) flirtet sehr zum Missfallen von Lenski (Woongyi Lee, rechts) mit Olga (Kejti Karaj). Nach der Pause ist von der Fassade nur eine einzige Wand übrig geblieben, die ein großes Tor darstellt. Hier wartet Lenski auf Onegin, ist sich aber bereits in seiner großen Arie zu Beginn des Bildes bewusst, dass er diesen Tag nicht überleben wird. Onegin tritt ohne Sekundant auf, sondern hängt einem umgekippten Tisch seinen Mantel um, stellt seine Schuhe davor und legt einen Hut auf den Tisch, um anzuzeigen, dass er die ganze Auseinandersetzung nicht wirklich ernst nimmt. Doch im folgenden Duett merken Lenski und Onegin, dass sie keinen Weg zurück finden. Lenski legt kurz vor dem Duell die Waffe nieder und stellt sich mit offenen Armen in den Toreingang, um sich erschießen zu lassen. Das geht seinem Sekundanten allerdings zu weit. Er versucht, auch Onegin, der die ganze Szene noch nicht durchschaut hat, die Waffe zu entwenden, was aber misslingt. Ein Schuss löst sich und trifft Lenski, der mittlerweile hinter dem Tor verschwunden ist. Der verzweifelte Onegin sieht noch einmal die Dorfgemeinschaft, die sich zur Beerdigung Lenskis einfindet, und erhascht einen letzten vorwurfsvollen Blick Olgas, bevor er in die Welt hinaus flieht. Onegin (Rafael Bruck, links) trifft in St. Petersburg beim Fürsten Gremin (Hayk Deinyan, rechts) Tatjana (Sofia Poulopoulou) als Fürstin Gremina wieder. Im sechsten Bild in St. Petersburg ist dann auch die letzte Wand verschwunden. Der Chor steht mit dem Rücken zum Publikum in schwarzer Trauerkleidung auf der Bühne, während Onegin barfuß und mit offenem Hemd durch die Reihen auf der Suche nach seinem inneren Frieden irrt. Über die Drehbühne wird ein gedeckter Tisch mit dem Fürsten Gremin und Tatjana hereingefahren. Sie hat sich als Fürstin Gremina mittlerweile in eine vornehme Dame verwandelt und ist nicht mehr das naive Mädchen vom Land. Nun erkennt Onegin seinen Fehler und bittet sie, sein Liebesflehen zu erhören. Es kommt zu einer ergreifenden letzten Begegnung zwischen den beiden, in der Tatjana zwar bekennt, Onegins Liebe zu erwidern, aber dennoch standhaft bleibt und ihrem Gatten die Treue hält. Noch einmal sieht man die Fenster aus dem dritten Bild, auf denen einst Tatjanas Liebesbrief geschrieben war. Dann überlässt Tatjana Onegin auf der völlig leeren Bühne seinem Schicksal. Musikalisch lotet Giovanni Conti, der in der rezensierten Aufführung am Pult der Niederrheinischen Sinfoniker steht, die emotionalen Tiefen der Musik mit viel Temperament aus und lässt das Publikum eine Achterbahn der Gefühle erleben. Rafael Bruck gestaltet die Titelpartie mit kraftvollem Bariton und arbeitet szenisch zunächst die Arroganz Onegins glaubhaft heraus, um im Verlauf des Stückes eindrucksvoll zu zeigen, wie Onegins Welt nach dem Tod Lenskis immer mehr aus den Fugen gerät. Sofia Poulopoulou verfügt als Tatjana über einen glockenklaren Sopran, der in den Höhen große Strahlkraft besitzt. Die große Briefszene kann als ein musikalischer Höhepunkt des Abends bezeichnet werden. Mit großartiger Mimik zeichnet sie die Schermut des jungen Mädchens und vollzieht einen überzeugenden Wandel vom naiven Mädchen zu einer reifen Frau. Kejti Karaj stattet ihre Schwester Olga mit warmem Mezzosopran aus und gefällt durch temperamentvolles Spiel. Woongyi Lee punktet als Lenski mit höhensicherem, kraftvollem Tenor, der in seiner großen Arie herzzerreißend leidet. Das Publikum ist von dieser Szene derart ergriffen, dass es sogar den eigentlich verdienten Szenenapplaus vergisst. Dass die Oper zeitgleich auch im benachbarten Düsseldorf auf dem Spielplan steht, kann als Vorteil betrachtet werden. So kann man nämlich sehr schnell einen geeigneten Ersatz für die erkrankte Eva Maria Günschmann in der Partie der Gutsbesitzerin Larina finden. Katarzyna Kuncio hat einen Tag zuvor die Partie noch in der Wiederaufnahme in Düsseldorf gesungen und findet sich wunderbar in die Inszenierung ein. Dabei lässt sie es sich noch nicht einmal nehmen, beim Tanz im vierten Bild eine sehr aktive Rolle zu übernehmen. Stimmlich stattet sie die Partie mit sattem Mezzosopran aus. Das gleiche gilt auch für Satik Tumyan in der Partie der Amme Filipjewna. Der von Michael Preiser einstudierte Opernchor überzeugt ebenso wie die übrigen Solisten, so dass es am Ende verdienten Applaus für alle Beteiligten gibt. FAZIT Wer es nicht mehr schafft, für diese Inszenierung nach Mönchengladbach zu kommen, hat Gelegenheit, diese Produktion ab 16. November 2024 in Krefeld zu sehen.
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ProduktionsteamMusikalische Leitung Inszenierung
Bühne
Kostüme
Choreinstudierung
Dramaturgie
Niederrheinische Sinfoniker Opernchor des Theaters Statisterie des Theaters
Solistinnen und Solisten*rezensierte Aufführung
Larina, Gutsbesitzerin Tatjana
Olga
Filipjewna
Eugen Onegin
Wladimir Lenski
Fürst Gremin
Triquet, ein Franzose
Ein Hauptmann Saretzkij
Vorsänger
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