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Jeanne und die schöne neue KI-gesteuerte Welt
Von Stefan Schmöe / Fotos © Jubal Battisti Der Titel trügt. Es geht gar nicht - oder nur am Rande - um Jeanne d'Arc. Dabei bietet das kurze Leben der "Jungfrau von Orléans" allemal einen großen Stoff für das Theater: Das Bauernmädchen aus der Provinz, das Stimmen der Heiligen hörte; das im Alter von nur 17 Jahren gegen alle militärische Vernunft zur Anführerin einer Truppe ernannt und das von den Engländern belagerte Orleans befreite; das inmitten eines Krieges um die Thronfolge den entmutigten Prinzen in Reims zum König Karl VII. krönen ließ. Und natürlich das schnelle tragische Ende: Der vergebliche Versuch, Paris von den Engländern zurückzuerobern; Verhaftung und Prozess wegen Ketzerei und schließlich die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen. Von alledem erzählt Lillian Stillwell, Ballettchefin am Theater Münster, fast nichts. Der mit einer Stunde zeitlich kurze, aber sehr intensive Ballettabend Jeanne d'Arc präsentiert kein Handlungsballett. Weder geht es um die historische Jeanne d'Arc noch um ein coming-of-age eines jungen Mädchens. ![]()
Stillwell greift einzelne Motive aus dem Leben dieser Frau heraus. Den ersten Abschnitt nennt sie "Stimmen" und bezieht sich damit natürlich auf die Eingebungen, die Jeanne nach eigenen Angaben bereits im Alter von 13 Jahren hatte. Hier werden diese Stimmen durch den ganz ausgezeichneten Chor des Theaters hörbar, der auf der Bühne mit zurückgenommenem Vibrato, genauer Intonation und einem subtil ausbalancierten Klang Werke von Beat Furrer (Enigma I - IV, entstanden zwischen 2006 und 2013) singt. In archaische Kostüme gekleidet, wirkt er wie der Chor der griechischen Tragödie, vor dem Jeanne in einem großen, energetisch aufgeladenen Solo zur Anführerin wächst. Die Tanzsprache transformiert Elemente des klassischen Balletts in eine kraftvolle, mitunter athletisch anmutende Choreographie. Diese Jeanne schöpft Energie aus ihren Visionen und reift in großer, nach oben gerichteter Bewegung zur Persönlichkeit. Pirouetten und Sprünge, sogar Spitzentanz, wirken wie der Vergangenheit entlehnt und für die Gegenwart und Zukunft umgedeutet. Das spiegelt den Rückgriff auf eine historische Gestalt aus dem Blickwinkel unserer Zeit. In der hier besprochenen zweiten Aufführung gibt Hera Norin der Figur eindrucksvolle, fast sportliche Dynamik. Was im Halbdunkel der Bühne ein wenig fehlt, ist das Charisma, das man mit Jeanne D'Arc verbindet. ![]() Kriegsbereit? Ensemble
Die Kriegssituation wird mit dem im 15. Jahrhundert entstandenen und seinerzeit sehr populären Chanson L'homme armé angedeutet. "Den Mann in Waffen muss man fürchten", heißt es da. Zum Beginn des Abends schafft dieses Lied einen historischen Rahmen; in der zweiten Szene, mit "Mut" überschrieben, wird es (jetzt durch Schlagzeug unterlegt) wiederholt und konkretisiert die Kriegssituation. Dazu formieren sich Compagnie und Chor in soldatischer Aufstellung. Stillwell findet starke, weitgehend abstrakte Bilder. Wenn Jeanne dann eine Krone in den Händen hält, bleiben die historischen Ereignisse als Handlung durchaus präsent. Die clapping music für zwei klatschende Performer (sehr akkurat: Relmu Levalle Campusano und Thomas Korschilgen) bildet einen leicht ironischen Kontrast. Ungemein beeindruckend erklingen die Variations of Fuga C II von Peter Sadlo (1962 - 2016), hochkonzentriert gespielt von Relmu Levalle Campusano. ![]()
Bis dahin kann man ein Handlungsgerüst, das sich lose an der Geschichte der Jeanne D'Arc orientiert, im effektvoll ausgeleuchteten leeren Bühnenraum immerhin erahnen. Zwischen der zweiten und der dritten Szene, überschrieben mit "Zukunft", gibt es einen Bruch. Die düstere Atmosphäre hellt sich auf, weißer Tanzboden wird ausgelegt. Song und dance für Percussion-Duo von Gene Koshinski (entstanden 2009) sorgt mit Naturgeräuschen und Vogelzwitschern nicht völlig kitschfrei für entspannte Stimmung. Der Blick in die Zukunft lässt sich aus den Visionen der Jeanne ableiten und auch aus den Enigma-Kompositionen von Beat Furrer, die Texte von Leonardo da Vinci verwenden. Dessen rätselhafte "Prophezeiungen" kann man als apokalyptische Visionen deuten. Der Blick wechselt von der historischen Vision auf unsere Zeit und unsere Zukunft. Stillwell zeichnet eine roboterhafte, wie von einem Algorithmus emotionslos gesteuerte Gesellschaft in futuristisch anmutenden Ganzkörperanzügen, wobei Tänzerinnen und Tänzer fließende, maschinenartige Bewegungen ausführen. Im Hinblick auf die Synchronität dürfte die Präzision höher sein. Die ästhetische Vorstellung einer geradezu keimfrei anmutenden Zukunft wie im Labor, wie man sie in durchaus ähnlich aseptischer Form vom Raumschiff Enterprise kennt, wirkt in einer von Krieg und drohender Klimakatastrophe geprägten Gegenwart allerdings schon wieder merkwürdig anachronistisch. ![]() Ein Versuch von Befreiung? Melina Solkidou und Ensemble
Ob die "Stimmen", die wir jetzt oder bald vernehmen und die unser Handeln steuern werden, von künstlicher Intelligenz gesteuert sind - das ist eine Frage, die Lillian Stillwell stellen möchte, die aber in diesem Kontext ziemlich konstruiert wirkt. Freiheit und Individualität haben, das zeigt die Choreographie, dann wohl keine Bedeutung mehr. Die Auflehnungsversuche eines Paares fallen zögerlich aus und wirken unbestimmt. Ein wenig verliert Stillwell die Jeanne D'Arc aus den Augen. So ist dieser elegant choreographierte, aber recht gefällig und harmlos ausgefallene dritte Teil der insgesamt beeindruckenden Aufführung der wohl schwächste. Gleichwohl wirkt der Chorsatz again (after ecclesiastes) von David Lang (* 1957) mit einschmeichelnden abfallenden Dreiklängen und sanften Dissonanzen nach. "Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt, die Erde aber bleibt", heißt es im hier auszugsweise vertonten biblischen Buch Prediger. Einmal mehr imponiert der Chor. Langer Applaus im voll besetzten Haus.
Ein insgesamt überzeugender und vom Publikum gefeierter Tanzabend mit toller Musik von Chor und Schlagzeug verliert sich am Ende in einer etwas kraftlosen Zukunftsvision.
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Produktionsteam
Choreographie, Inszenierung und Konzept
Chor-Regie, szenische Mitarbeit
Lichtdesign
Kostüme
Mitarbeit Bühne
Chor
Choreographische Assistenz
Dramaturgie
Tänzerinnen und Tänzer* Besetzung der rezensierten Aufführung
Solo (Jeanne)
Ensemble
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- Fine -