Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Eine Gesellschaft im Überfluss ist blind für Königskinder
Von Stefan Schmöe / Fotos © Thilo Beu Die Jugend begehrt auf. "Und die Kinder! […] Sie gehorchen nimmer, schaun uns böse an, sagen: Ihr seid schuld daran." So heißt's im dritten Akt von Engelbert Humperdincks Märchenoper Königskinder (uraufgeführt 1910), und da ist ein Kipppunkt der Beziehung zwischen der jungen Generation und den Eltern erreicht. Die Aussage passt natürlich auch auf unsere Zeit und eine Jugend, die zwischen "Fridays for Future" und der "Letzten Generation" gegen den allzu sorglosen Umgang der Elterngeneration mit unserer Umwelt protestiert. Das ist der Blickwinkel, unter dem Regisseurin Clara Kalus das Werk in Münster inszeniert. Keine Sorge: Klimakleber und Sitzstreikende bringt sie dafür nicht auf die Bühne. Die Regie gibt viele Andeutungen, bleibt aber immer nah an der Märchenhandlung. Erster Akt: Ziemlich nette Hexe in blühenden Münsterländer Waldlandschaften
Der Kinderchor in heutiger Alltagskleidung (warum Kostümbildnerin Carola Volles darauf noch Kreuze und Linienfragmente in pinker Signalfarbe aufsetzt, erschließt sich nicht) ist jedenfalls von Beginn an sehr präsent, und er trägt handgemalte Pappschilder, die den Satz ergeben: "Wie werden wir uns wiederfinden?" Die Inszenierung, die man oberflächlich ganz naiv als moderat modernisiertes Märchenspiel sehen kann, erzählt auf mehreren Ebenen von einer Entfremdung. Zum einen stellt sie einen Gegensatz von Natur und Zivilisation ins Zentrum. Im Vorfeld der Inszenierung gab es einen Fotowettbewerb, bei dem Bilder von Wäldern aus der Umgebung eingereicht werden sollten. Die beiden Siegerbilder (Fotografinnen sind Silke Worms-Dreisig und Franziska Hölscher) sind als großformatige Projektionen ins Bühnenbild von Dieter Richter eingegangen. Ein leuchtend grüner Sommerwald bildet den Rahmen für den ersten Akt. Hineingesetzt sind eine winzige Hütte und viele Blumen. In diesem zivilisationsfernen Paradies leben die Hexe und die junge Gänsemagd, die durch einen Zauber daran gehindert wird, den Ort zu verlassen. Ihr begegnet der junge Königssohn auf seiner Wanderschaft, und natürlich verlieben die beiden sich auf den ersten Blick. Die schnelle Trennung ist allerdings unvermeidlich. Kalus inszeniert diesen Akt als romantisches Märchen und gleichzeitig als Coming-of-Age-Geschichte des jungen Mädchens. Unschwer lässt sich, wenn man den Text kurz ignoriert, die Beziehung der (keineswegs unsympathisch gezeichneten) Hexe und der Gänsemagd als Mutter-Tochter-Konflikt und ein Nicht-loslassen-können interpretieren. Wenn der gute Spielmann erscheint und den Bann der Hexe bricht, darf man diesen wohl als den noch fehlenden Vater auffassen. Zweiter Akt: Die Bürger von Hellastadt vertreiben den Königssohn, den sie nicht erkennen, aus der Stadt
Die Personenregie dürfte insgesamt ein wenig genauer und deutlich subtiler sein. Wenn die Begegnung zwischen Gänsemagd und Königssohn haarscharf an der Defloration vorbeiführt, bleibt das in der Personenführung ein wenig plump. Der hier angedeutete Generationenkonflikt spiegelt auf der privaten Ebene die gesellschaftliche Spannung wider, die im nächsten Bild offensichtlich wird. Als Kontrast zum Naturidyll sieht man einen fensterlosen Festsaal mit dem Märchen von der Gänsemagd als Wandgemälde, in dem sich eine Gesellschaft der Wirtschaftswunder-Jahre kollektiv vor dem Fernseher versammelt, um die Ankunft des neuen Königs anzuschauen. Der, so hat die Hexe orakelt, soll zum Mittagsläuten am Stadttor erscheinen. Mit der Gänsemagd hat man freilich nicht gerechnet, und die wird ebenso wie der inkognito reisende Königssohn kurzerhand aus der Stadt vertrieben. Allein die Kinder spüren, dass die beiden jungen Leute "Königskinder" gewesen sein müssen. Die Verlegung des Geschehens in die Nachkriegszeit ist schlüssig, aber man denkt lieber nicht zu sehr darüber nach, welcher Form eines Herrschers die Sehnsucht dieser Erwachsenen gelten mag. Ganz glücklich scheint die Wahl dieses historischen Rahmens trotzdem nicht. Zwar werden so den drei Akten einigermaßen plausibel drei Zeitebenen zugeordnet (romantisierte Märchenvergangenheit, historische Vergangenheit und im dritten Akt dann die Gegenwart). Aber das hat zur Konsequenz, dass der zentral im zweiten Akt ausgetragene Konflikt zwischen Jung und Alt in die Vergangenheit rückt und somit historisiert wird. Dritter Akt: Hungernd und frierend erreichen Königssohn und Gänsemagd die Hütte der (inzwischen auf dem Scheiterhaufen verbrannten) Hexe.
Der dritte Akt zeigt den Wald des ersten Aktes als abgestorbene Winterlandschaft, und hier sterben Gänsemagd und Königssohn in Liebe vereint an einem Ort, der sich vom Idyll zum Schrottplatz einer Wegwerfgesellschaft entwickelt hat. Dem Bild wohnt eine eigenartige Poesie inne, die die Märchenwelt sanft mit der Wohlstandskritik verbindet. Ganz so traurig und trostlos möchte Clara Kalus Hellastadts Kinder und das Münsteraner Publikum aber doch nicht entlassen, und so dürfen die traurigen Königskinder, deren Adel in ihrer edlen Haltung besteht, in einer optimistischen Version wiederauferstehen und als Anführer einer besseren Generation die Kinder in die Zukunft führen. Das ist eine Spur zu niedlich gedacht, aber die verschiedenen Stränge der Regie finden hier wieder zusammen. Ob die gar nicht so selten gespielten Königskinder bei deutlich über drei Stunden Spieldauer (mit einer Pause) und dem mühsam zusammengereimten Libretto von Elsa Bernstein-Porges, veröffentlicht unter dem Pseudonym Ernst Rosmer, als Familienoper taugen, ist ohnehin eine andere Frage. Dritter Akt: Der Spielmann
Die schöne Musik kommt in dieser insgesamt schlüssigen Inszenierung gut zur Geltung. Kapellmeister Henning Ehlert findet einen fließend-leichten und unpathetischen Tonfall, der eher an Schubert und Mendelssohn als an Wagner orientiert ist. Das Sinfonieorchester Münster spielt mit duftigem, ausgewogenem Klang, nie schwer und wuchtig, sondern mit gehöriger Melancholie und sehr gemäßigten Lautstärken. Das kommt den recht leichtgewichtigen Stimmen zugute, vor allem dem hellen Tenor von Garrie Davislim als Königssohn. Der lyrische Sopran von Anna Schoeck verleiht der Gänsemagd auch vokal mädchenhafte Züge. Johan Hyungbong Choi singt mit agilem Bass den gutmütigen Spielmann, der als gesellschaftlicher Außenseiter das Bindeglied zwischen der saturierten Bürger-Erwachsenen-Gesellschaft und den Kindern fungiert. Wioletta Hebrowska ist eine warm klingende, ziemlich liebe Hexe. Gregor Dalal als prägnant singender Holzhacker und Youn-Seong Shim als recht matter Besenbinder dürften als hartherzige Vertreter einer die Augen verschließenden Bürgergesellschaft ruhig ein wenig gefährlicher auftreten. Neben dem zuverlässigen Opernchor trägt der aufmerksame "Theater Kinderchor Gymnasium Paulinum" mit luftigem, schwebendem Klang zum Erfolg der Aufführung bei.
Clara Kalus findet für diese - in der musikalischen Interpretation sehr lyrisch angelegten - Königskinder eine gute Balance aus Märchenspiel und Parabel auf unsere Wohlstandsgesellschaft.
Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Regie
Bühne
Kostüme
Lichtdesign
Chor
Kinderchor
Dramaturgie
Solisten* Besetzung der rezensierten Aufführung
Der Königssohn
Die Gänsemagd
Der Spielmann
Die Hexe
Der Holzhacker
Der Besenbinder
Sein Töchterchen
Der Ratälteste
Der Wirt
Die Wirtstochter
Der Schneider
Die Stallmagd
Zwei Torwächter
Eine Frau
|
- Fine -