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Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
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Zeitloser Klassiker mit schonungsloser Kritik Von Thomas Molke / Fotos: © Paul Andermann, Ursula Kaufmann, Oliver Look, Evangelos Rodoulis und Laszlo Szito
Ende Februar wurde bekannt, dass die Intendanz von Boris Charmatz, der das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch mit seinem Terrain Boris Charmatz zusammengeschlossen hatte, ausläuft. Während hinter den Kulissen die Suche nach einer neuen Intendanz, die auch Gründungsintendanz des zukünftigen Pina Bausch Zentrums sein wird, begonnen hat und ab August 2025 der derzeit stellvertretende Intendant Dr. Daniel Siekhaus den Theaterbetrieb, die Tourneen und Vorstellungen leiten wird, steht in Wuppertal wieder ein "Klassiker" auf dem Programm, der zuletzt 2020 gespielt wurde, bevor die Corona-Pandemie den Theaterbetrieb vorläufig unterbrach: Die sieben Todsünden. Seine Uraufführung erlebte der zweiteilige Tanzabend am 15. Juni 1976, als Pina Bausch gerade in der dritten Spielzeit die Geschicke des Tanztheaters Wuppertal leitete und bei großen Teilen des Publikums noch auf harsche Ablehnung traf. Wohl kaum einer hat wohl zu jenem Zeitpunkt damit gerechnet, welche Karriere Bausch in den nächsten Jahrzehnten mit ihrem Ensemble weltweit machen würde und dass sich gerade dieser Tanzabend mit Songs von Kurt Weill und Texten von Bertolt Brecht zu einem Meilenstein in Bauschs Schaffen entwickeln sollte, der bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat und immer noch quasi ohne Änderungen so funktioniert wie bei der Uraufführung. So verwundert es auch nicht, dass Musical-"Legende" Ute Lemper, die bereits vor 30 Jahren im zweiten Teil des Abends, Fürchtet euch nicht, zu erleben war, jetzt erneut als Anna I für den ersten Teil, dem Ballett mit Gesang Die sieben Todsünden, nach Wuppertal zurückkehrt. Der Weg zum Ruhm führt über die Männer (Herren-Ensemble, © Paul Andermann) Dieser erste Teil wurde 1933 auf ein Libretto von Bertolt Brecht in einer Choreographie von Georges Balanchine am Théâtre des Champs-Elysées in Paris uraufgeführt und handelt von den als Alter Ego angelegten Schwestern Anna I und Anna II, die von den Südstaaten der USA aufbrechen, um bei einer Tournee durch sieben Städte das nötige Geld für ihr kleines Haus in Louisiana zu verdienen. Jede Stadt, die sie bereisen, steht dabei für eine der sieben Todsünden. Der singende Part, Anna I, fungiert als eine Art Erzählerin und folgt wie ein mahnender Schatten dem zweiten Ich, das als tanzende Schwester Anna II auf dem Weg durch die von den Todsünden geprägten sieben Städte aller ihrer Illusionen beraubt wird. Wie ein naives Kind verfällt Anna II dem Traum von einem besseren Leben und vertraut zunächst den Versprechungen ihrer Schwester Anna I. Stephanie Troyak legt Anna II zunächst wunderbar unschuldig an, wenn sie sich auf dem Bühnenboden im Scheinwerferlicht einer einsamen Lampe sonnt, die von Anna I zu Beginn gelenkt wird. Das schnurlose Mikrofon, das Anna I wie bei der Uraufführung 1976 um den Hals trägt, ist aber mittlerweile nur noch Staffage und hat einen gewissen Nostalgie-Charakter. Für die Verstärkung werden jetzt Microports verwendet, die akustisch einen wesentlich besseren Klang liefern. Ute Lemper gelingt eine eindrucksvolle Umsetzung der Partie der Anna I. Mit leicht schneidendem Tonfall macht sie die Autorität deutlich, die sie ihrer Schwester gegenüber besitzt. Im Prolog wirkt die Beziehung noch recht harmonisch. Troyak räkelt sich auf dem Boden und zündet sich leicht lasziv eine Zigarette an. Doch bald muss sie erkennen, dass ihr Körper wie eine Ware vermarktet wird. Männer in dunklen Anzügen begutachten sie, und auch Anna I erwartet von ihr, dass sie sich den Gesetzen des Marktes unterwirft. Franko Schmidt übernimmt den Platz von Anna I am Scheinwerfer, während diese ihre Schwester immer schonungsloser in die ihr zugedachte Rolle drängt. Anna II (Stephanie Troyak) zwischen Fernando (Dean Biosca, vorne) und Edward (Michael Strecker, hinten) (im Hintergrund links: Ute Lemper als Anna I) (© Laszlo Szito) Das Sinfonieorchester Wuppertal, das für diesen Abend erneut unter der musikalischen Leitung von Jan Michael Horstmann steht, begleitet den Abend aus dem Bühnenhintergrund, so dass die Trennung zwischen Zuschauerraum und Bühne gewissermaßen aufgehoben wird. Auf der linken Bühnenseite ist die Familie platziert, die selbstsüchtig darauf wartet, dass Anna das Geld für das kleine Häuschen in Louisiana erwirtschaftet, um sich anschließend ins gemachte Nest zu setzen. Mit sauberer Diktion setzen Sergio Augusto, Sebastian Campione, Simon Stricker und Mark Bowman-Hester die Eltern und die beiden Brüder um, die wie ein Chor die Handlung kommentieren, dabei aber nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Die Tänzerinnen begleiten Anna II auf ihrem Weg mal als bunte, schillernde Revue-Girls, die den Schein über das Sein stellen und eine oberflächliche heile Welt vorgaukeln, mal in strengen schwarzen Bleistiftröcken, die in starkem Kontrast zum Bild des Müßiggangs stehen. Dabei überzeugen sie durch homogene Bewegungen. Troyak fällt es als Anna II im Verlauf der Geschichte immer schwerer, sich ihre Unbeschwertheit zu erhalten. Schonungslos wird ihre Beziehung zu Edward (Michael Strecker) dargestellt, der Anna II als sein Eigentum betrachtet und sie auch so behandelt. Da sind die weichen Töne, die Lemper bei den Erinnerungen an den Geliebten Fernando (Dean Biosca) anschlägt, ein regelrechter Schlag ins Gesicht. Recht erschöpft wirkt Anna II, wenn sie ihre Reise schließlich vollendet hat und wieder in Louisiana angekommen ist. Die Familie bezieht das kleine Haus, das durch einzelne Möbelstücke auf der Bühne dargestellt wird. Die Musik und Troyaks hingebungsvolles Spiel machen deutlich, welchen Preis Anna II dafür bezahlt hat. Stephanie Troyak (Mitte) und das Ensemble bei der Eröffnung von Teil 2 (© Evangelos Rodoulis) Der zweite Teil des Abends unter dem Titel Fürchtet euch nicht ist eine Collage aus aneinandergereihten Songs aus Kurt Weills Dreigroschenoper, Kleine Dreigroschenmusik, Happy End, Berliner Requiem und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und zeigt die sexuelle Übergriffigkeit noch schonungsloser als der erste Teil. Der Titel ist ein Zitat aus dem Heilsarmeechor in Happy End und zieht sich wie ein schauriges Leitmotiv durch den Teil. Ein Mann, der großartig unheimlich von Steffen Laube dargestellt wird, begibt sich mit diesem A-cappella-Gesang auf die Suche nach einem Opfer zur Befriedigung seiner sexuellen Gelüste. Zunächst klingt er sehr vertrauenerweckend, wenn er dieses Lied mit sanfter Stimme ansetzt. Nur die grauen Handschuhe und der Griff in den Schritt lassen Böses ahnen. Andere Männer sind in diesem Teil nicht existent. Die Tänzer treten allesamt als Frauen in bunten Revuekleidern auf. Diese Frauen wirken in ihrer schimmernden Welt sehr selbstbestimmt und in der Masse unverletzlich. Wenn eine allerdings die Gruppe verlässt, um auf eigenen Beinen zu stehen, bewegt sie sich am Rande des Abgrunds. Diese Erfahrung muss die Tänzerin Emily Castelli machen. Aus dem ausgelassenen fröhlichen Ensemble zu Beginn dieses Teils löst sie sich, um sich selbst in einem Spiegelkabinett zu entdecken. Hier scheint erstmals ihre Sexualität in zarten Zügen zu erwachen. Castelli öffnet einen weiteren Knopf ihres Kleides und hebt das Kleid ein wenig an, um ihre Beine zu betrachten. Ute Lemper (rechts) und Emily Castelli (links) beim "Barbara-Song" (© Ursula Kaufmann) In der nächsten Szene legt sie sich unschuldig mit einem Paar Männerschuhe auf der Bühne schlafen. Zuerst umarmt sie einen imaginären Verehrer und lässt sich von ihm liebkosen. Ein witziger Moment entsteht, wenn die Schuhe sich wie von Zauberhand bewegen und in Schlafstellung aufrichten. Das harmonisch wirkende Bild wird durch Laubes Auftritt zerstört, der sofort erkennt, dass er in Castelli ein neues Opfer gefunden hat. Ganz langsam schleicht er sich in ihr Vertrauen. Die Darstellung geht nahezu an die Schmerzgrenze der Betrachtenden, weil Castelli zwar zunächst leichten Widerstand gegen seine Übergriffe leistet, ihm aber schließlich doch unterliegen muss. Zum "Moon from Alabama" tanzen die Tänzerinnen und Tänzer ausgelassen und fröhlich über die Bühne, während sich der Mann auf grausame Weise an dem Mädchen vergeht. Doch das Mädchen lässt sich nicht zerstören und bietet ihrem Peiniger anschließend die Stirn. Castelli hat sich scheinbar emanzipiert und führt den folgenden Gruppentanz an, während sich Laube mit Maria Giovanna Delle Donne das nächste Opfer sucht. Melissa Madden Grey (vorne) und das Ensemble (im Hintergrund) (© Oliver Look) Für den Gesang sind neben Ute Lemper Melissa Madden Grey und Erika Skrotzki verpflichtet worden. Madden Grey übernimmt den Part, der lange Zeit von Mechthild Großmann geradezu ikonisch verkörpert worden ist. Auch wenn Madden Grey nicht Großmanns markante tiefe Stimme besitzt, lässt ihre Interpretation von "Surabaya Johnny" keine Wünsche offen. Auch die Bühnenpräsenz und die Komik, die sie mit dreckigem Lachen beim Bilbao-Song versprüht, ist beeindruckend. Erika Skrotzki übernimmt aus Happy End den Song "Was die Herren Matrosen sagen" und umgibt sich mit den Tänzerinnen als Puppen auf der Bühne. Dabei agieren die Tänzerinnen als Puppen mit großartiger Körperbeherrschung. Anschließend folgt noch das melancholische Lied "Vom ertrunkenen Mädchen" aus Weills Berliner Requiem. Ute Lemper überzeugt stimmlich vor allem mit dem berühmten "Barbara-Song" aus der Dreigroschenoper, den sie Castelli scheinbar als Ratschlag mit auf ihren weiteren Weg gibt. Auch die Tänzerinnen des Ensembles zeigen ihre gesanglichen Fähigkeiten, wenn Julie Anne Stanzak, Stephanie Troyak, Blanca Noguerol Ramírez und Taylor Drury als Quartett das berühmte Streit-Duett um Mackie Messer singen und sich dabei auf ausgebreiteten Pelzen räkeln und mit kreischenden Stimmen angiften. Troyak übernimmt auch in der Eröffnungsszene den Part von Josephine Ann Endicott, den diese bei der Wiederaufnahme des Stückes 2018 noch selbst getanzt hat. Das Publikum feiert das Ensemble mit stehenden Ovationen und frenetischem Jubel. FAZIT Dieser Klassiker aus Pina Bauschs frühen Jahren hat auch
nach fast 50 Jahren nichts an Aktualität eingebüßt und begeistert
immer noch durch großartige, wenn auch teilweise sehr schonungslose, Bilder. |
ProduktionsteamMusikalische Leitung Inszenierung und Choreographie
Probenleitung 2025
Bühne und Kostüme Mitarbeit
Sinfonieorchester Wuppertal Solistinnen und SolistenDie sieben Todsünden Anna I Anna II Die Familie Tänzerinnen und Tänzer Klavier Gitarre Fürchtet euch nicht Gesang Tänzerinnen und Tänzer
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