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Begegnung mit der Vergangenheit Von Thomas Molke / Fotos folgen
Über 50 Jahre ist es mittlerweile her, dass der damalige Intendant der Wuppertaler Bühnen, Arno Wüstenhöfer, Pina Bausch als Leiterin der Tanzsparte nach Wuppertal holte. Bausch benannte das Ensemble nicht nur in Tanztheater Wuppertal um, sondern kreierte auch ein neues Bewegungsvokabular, welches das damalige Publikum zunächst irritierte und spaltete. Nachdem ihre ersten Stücke dabei in der Regel noch auf klassische Musik zurückgriffen, markierte Kontakthof 1978 einen Wendepunkt in ihrem Schaffen, weil sie hier durch die nahtlose Aneinanderreihung unterschiedlicher Szenen einen Stil entwickelte, der zum Strukturmerkmal ihrer weiteren Arbeit werden sollte. Zu Lebzeiten hat sie immer den Wunsch geäußert, dieses Stück 30 Jahre später noch einmal mit der Originalbesetzung aufzuführen. Bereits im Jahr 2000 studierte sie, gewissermaßen als Vorstufe, das Stück mit Damen und Herren ab 65 Jahren ein. Doch von 2003 bis 2009 war das Opernhaus wegen Sanierungsarbeiten geschlossen, und Bausch war wahrscheinlich klar, dass dieses Projekt nur am ursprünglichen Schauplatz realisiert werden sollte. So zeigte sie 2008, dass das Stück auch mit Jugendlichen ab 14 Jahren funktionierte. Im Juni 2009 verstarb Bausch, so dass die Idee zunächst in Vergessenheit geriet. Doch dann setzte sich Bauschs Sohn Salomon Bausch mit Meryl Tankard, einer ehemaligen Tänzerin der Originalbesetzung, in Verbindung, die von der Idee begeistert war, Bauschs Traum doch noch Realität werden zu lassen. Da mittlerweile 46 Jahre ins Land gegangen sind und nicht mehr alle Tänzerinnen und Tänzer von damals leben oder zur Verfügung stehen, hat sich immerhin eine Gruppe von neun Tänzerinnen und Tänzern zusammengefunden, um unter dem Titel Kontakthof - Echoes of '78 eine nostalgische Begegnung mit der damaligen Aufführung zu kreieren. Die Konzeption für den Abend stammt von Tankard, die die Idee hatte, die Original-Archivaufnahmen von Rolf Borzik zu verwenden und mit den verbliebenen neun Tänzerinnen und Tänzer in Interaktion treten zu lassen. So gibt es eine Mischung aus cineastischem Erlebnis und Tanz auf der Bühne, wobei die nicht mehr anwesenden Tänzerinnen und Tänzer wie Geister der Vergangenheit in die Aufführung einbezogen werden. Im Teil bis zur Pause befindet sich vor den Tänzerinnen und Tänzern auf der Bühne eine riesige Leinwand, auf der die Original-Archivaufnahmen von 1978 gezeigt werden. Dahinter sieht man die Tänzerinnen und Tänzer agieren. Jeder spielt dabei auf der Bühne nur seine eigenen Rollen. Die nicht mehr anwesenden Tänzerinnen und Tänzer werden auf der Bühne bewusst als Lücke gelassen und sind nur in der Projektion zu sehen, die bisweilen mit den Tänzerinnen und Tänzern auf der Bühne zu einer Einheit verschmilzt. Das ist ästhetisch absolut beeindruckend und rührt an einigen Stellen zu Tränen. Natürlich sind die Tänzerinnen und Tänzer in den 46 Jahren gealtert. Natürlich sieht man den Altersunterschied. Aber die Grenzen verschwimmen durch die Projektion, und man taucht in eine gewisse Zeitlosigkeit ein. Allerdings werden einige Kürzungen vorgenommen und auf manche Wiederholungen verzichtet, vielleicht um dem Ensemble keinen dreistündigen Abend zuzumuten. Ansonsten bleibt im Ablauf fast alles wie vor 46 Jahren. So sieht man zu Beginn die neun Tänzerinnen und Tänzer auf Stühlen an der Rückwand vor einer kleinen Bühne sitzen, hinter der sich eine Leinwand mit einem Vorhang befindet. Der Saal mit den hohen weißen Wänden, Fenstern und Türen ist wohl einem damaligen Probenraum der Compagnie in einem ehemaligen Kino nachempfunden. Zu dem Schlager "Frühling und Sonnenschein" von Juan Llossas schreitet Josephine Ann Endicott mit festem Schritt zur Bühnenmitte, um sich relativ emotionslos wie eine Ware anzubieten, indem sie sich vorwärts, rückwärts und seitwärts aufstellt, ihre Zähne und die Innen- und Außenfläche ihrer Hände präsentiert. Ihr folgen weitere Tänzerinnen und Tänzer mit den gleichen Posen. Meryl Tankard flieht vor einem imaginären Tänzer mit einer Maus, der nur in der Projektion zu sehen ist, da der legendäre Jan Minařík leider nicht mehr lebt. Absolut bewegend wird in den folgenden Szenen gezeigt, wie die Tänzerinnen und Tänzer bemüht sind, Kontakte zu knüpfen, und zarte Versuche unternehmen, um die Aufmerksamkeit des anderen Geschlechtes auf sich zu lenken. Die Männer erstarren beispielsweise in Tanzposen, in die die Frauen sich einzufügen versuchen. Auch der Kampf zwischen den Geschlechtern, der sich durch zahlreiche Bausch-Stücke zieht, spielt in Kontakthof eine bedeutende Rolle und wird recht makaber vorgeführt. Einzelne Pärchen posieren zu romantischer Musik quasi wie für ein Foto und fügen dabei dem Partner oder der Partnerin kleine Gemeinheiten zu, ohne dabei mit der Wimper zu zucken. Doch auch der verletzte Part zeigt kaum eine Regung und holt stattdessen scheinbar unerwartet zum Gegenschlag aus. Diese Verletzungen werden von den beobachtenden Tänzerinnen und Tänzern mit Applaus bedacht. Doch die Tänzerinnen und Tänzer fügen sich auch selbst Verletzungen zu, wenn sie sich beispielsweise in den Arm beißen. Auch die Szene, in der sich die Frauen auf einer Seite aufstellen und die Männer sich ihnen mit den Stühlen in hektischen Bewegungen zu schneller Musik nähern, während die Frauen in abgehackten Bewegungen versuchen, dieser Annäherung zu entfliehen, wird mit viel Energie von den Tänzerinnen und Tänzern beeindruckend umgesetzt. Das gleiche gilt für die andere "Kampfszene", in der sich Frauen und Männer als Gruppe gegenüberstehen und wechselseitig, mit immer schnellerer und aggressiverer Nennung einzelner Körperteile das andere Geschlecht in die Enge zu treiben. Die Darstellung hat in den Jahren nichts an Brutalität und Kraft eingebüßt. Eine Sequenz kurz vor der Pause unterliegt dann allerdings doch einer großen Änderung. Im Originalstück nehmen alle Tänzerinnen und Tänzer an der Rampe Platz und reden gleichzeitig auf das Publikum ein. Dabei geht ein Tänzer mit einem Mikrofon herum, das er nacheinander den einzelnen Tänzerinnen und Tänzern hinhält, so dass man einen Teil einer Geschichte aufschnappt, die sich bei allen um das Thema Beziehungen dreht. Nun sitzen die neun Tänzerinnen und Tänzer an der Rampe, nachdem die Leinwand in den Schnürboden hochgezogen worden ist, und stellen sich mit einem Mikrofon vor. Dabei nennen sie ihr Alter und erzählen, was sie bewegt. Das hat bisweilen humorvolle Momente, wenn beispielsweise Endicott ihren zweiten Nachnamen nennt und scheinbar beleidigt ins Publikum sagt, dass sie nun einmal so heiße und auch nichts dafür könne, oder bei der Erwähnung ihres Alters auch auf die Monate eingeht und hervorhebt, dass jeder Monat zählt. Im Zusammenspiel mit Tankard wirkt sie wie ein junger Teenager, wenn sie Tankard als Stichwortgeberin dient und ihr erklärt, dass sie sich mit ihrem kompletten Namen vorstellen müsse. Andere Monologe rühren zu Tränen, wenn Beatrice Libonati beispielsweise ganz offen bekennt, dass sie ihren verstorbenen Gatten Jan Minařík jeden Tag vermisst. Nach der Pause rücken die neun Tänzerinnen und Tänzer mehr in den Vordergrund. Die Projektionen der Archivaufnahmen befinden sich nun auf der Leinwand im Hintergrund der Bühne, über die dann auch ein kurzer Ausschnitt der Dokumentation über die Enten flimmert. Jetzt steht auch das Schaukelpferd auf der Bühne, auf dem Elisabeth Clarke "reitet", nachdem sie sich von einer Person im Publikum 20 Cent hat geben lassen. Zu Beginn des zweiten Teils hat Endicott erneut einen überwältigenden Auftritt. In ihrem zartrosafarbenen Mädchenkleid sitzt sie vor der Leinwand und betrachtet ihr jüngeres Ich in der Projektion. Dabei fragt sie das Publikum, ob das Mädchen im Film nicht einfach reizend sei. Nachdem sie "verraten" hat, dass sie es selbst sei, steigt sie in den Tanz in der Projektion ein und bewegt sich immer noch mit erfrischender Leichtigkeit über die Bühne. Auch mit Tankard macht Endicott als junges Mädchenpaar eine wunderbare Figur auf der Bühne. Nun geht es Schlag auf Schlag. Die einzelnen Szenen aus dem Originalstück werden größtenteils nur angerissen. Im Stechschritt jagen die Tänzerinnen zu "Mein schönes Vis-a-Vis" über die Bühne, wobei Arthur Rosenfeld und John Giffin beim zweiten Durchlauf aussteigen und Kopf schüttelnd der Meinung sind, dass das jetzt doch zu viel sei. Die Szene kurz vor Schluss, in der Tankard von allen Männern des Ensembles angefasst und begutachtet wird, wird auf der Bühne nicht nachgestellt. Tankard steht allein auf der Bühne und macht die Bewegungen der Projektion nach. Wahrscheinlich hätte man mit vier Tänzern die Bedrohlichkeit dieser Szene nicht wirklich einfangen können. Deswegen beschränkt man sich auf die Projektion. Tankards Blicke zur Projektion reichen jedoch völlig aus, dass einem immer noch bei dieser Szene ein kalter Schauer über den Rücken läuft. So ist man nahezu erlöst, wenn Anne Martin zu "Gnädige Frau" auftritt und die Aufmerksamkeit nun auf sich lenkt. Zu dem Lied bewegen sich die Tänzerinnen und Tänzer mit großartiger Körperspannung und bewegender Mimik und Gestik im Kreis über die Bühne, bis das Licht verlischt. Das begeisterte Publikum spendet stehende Ovationen für das sichtlich gerührte Ensemble, das diese Größe der Anerkennung bei der Uraufführung 1978 vielleicht nicht erfahren hat, so dass es für alle ein ganz besonderer Moment sein dürfte. FAZIT Ein Abend, der unter die Haut geht, für das Publikum
sicherlich genauso wie für die Tänzerinnen und Tänzer von 1978 |
ProduktionsteamKonzeption und Inszenierung
Original Archivaufnahmen
Konzeption Video Video-Editor Design Projektionen Lichtdesign Sounddesign Künstlerische Assistenz von Künstlerische Mitarbeit Probenassistenz
Tänzerinnen und TänzerElisabeth Clarke
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