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Vom Vergewaltigungsopfer zur Aktivistin für Frauenrechte
Von Stefan Schmöe / Fotos von Bettina Stöß (© Wuppertaler Bühnen)
Im Juni 2002 wurde die 30-jährige Mukhtar Mai in einer pakistanischen Provinz Opfer einer Gruppenvergewaltigung durch vier Männer. Zuvor war ihr zwölfjähriger Bruder "unzüchtiger Handlungen" mit einer Frau eines reichen Clans beschuldigt worden (vermutlich zu Unrecht und selbst Opfer einer Vergewaltigung). Gemäß der Tradition hatte Mukhtar Mai diesen Clan um Vergebung gebeten, um eine Bestrafung des Bruders zu verhindern. Anstatt dies zu akzeptieren, wurde sie von einem Stammesgericht zur Vergewaltigung freigegeben. Vater und Onkel wurden mit Waffengewalt gehindert, ihr zu helfen. Anstatt sich umzubringen (Suizid galt als das einzige Mittel, sich von der durch die Vergewaltigung erlittene "Unreinheit" zu befreien), zeigte die Frau ihre Vergewaltiger an - bestärkt durch die Predigten des örtlichen Imams, der Vergewaltigung als Sünde anprangerte. Der Fall erregte große öffentliche Aufmerksamkeit. In einem Schnellverfahren wurden vier Täter und zwei Anstifter zum Tode verurteilt. Mit dem Geld, das sie als Entschädigung vom pakistanischen Staat erhielt, gründete die Analphabetin Mukhtar Mai eine Schule für Mädchen. Die Unterschrift unter die Anzeige hatte sie mit einem Daumenabdruck, einem "Thumbprint", geleistet. ![]() Mukhtar Mai als Bühnenfigur und als Fotografie
Thumbprint heißt daher auch die Kammeroper von Kamala Sankaram, als Tochter eines indischen Vaters und einer amerikanischen Mutter 1978 in Kalifornien geboren. 2009 konzipierte die Komponistin zunächst einen Liederzyklus über den Stoff, der dann zur Oper für Kammerensemble (sechs Solistinnen und Solisten; Flöte, Violine, Viola, Bass, Klavier im Wechsel mit Harmonium, Schlagwerk mit zusätzlichen indischen Instrumenten) erweitert und 2014 uraufgeführt wurde. Das Libretto von Susan Yankowitz rafft die Geschichte weitgehend linear in holzschnittartigen Szenen mit aphoristisch knappen Texten zusammen. Bis auf die Hauptrolle, Mukhtar, verkörpern alle Sängerinnen und Sänger mehrere Figuren. Die Komposition folgt dem Prinzip der Nummernoper und gibt jeder Szene eine klare Struktur und Stimmung. Die Musik ist in der Nachfolge der Minimal Music aus einfachen Motiven aufgebaut, die zunächst eher spröde vorgestellt und dann nach und nach mit Schlagzeug oder zusätzlichen Klangfarben angereichert werden. Daraus entstehen recht eingängliche Formen. Hinzu kommen Modelle aus der indischen und pakistanischen Musik. Das durch indische Schlaginstrumente unterstrichene exotische Klangkolorit gibt der Musik eine delikate Note. Für das amerikanische (und jetzt deutsche) Publikum scheint es aus Sicht der Komponistin offenbar relativ egal, ob die Musik in diesem Kontext von indischen oder pakistanischen Quellen inspiriert ist. Bei einer Oper aus einem klar definierten islamischen (pakistanischen) Kulturkreis, die auf einer wahren Begebenheit basiert, ist eine solche Ungenauigkeit nicht unproblematisch. ![]() Noch träumen sie unbeschwert von der Zukunft: Mukhtar (links) mit Mutter und Schwester
In der deutschen Erstaufführung sitzt das Publikum auf der Bühne des Wuppertaler Opernhauses auf zwei Seiten eines weißen Kastens mit drei offenen Wänden, einer White Box: Ein Raum, der mit einer Geschichte beschrieben werden muss (Ausstattung: Bettina John-Taihuttu). In weißen traditionellen Gewändern treten auch die Figuren der Handlung auf. Den einzigen Farbkontrast stellt ein pinkfarbenes Tuch dar, das Mukhtar zusätzlich trägt und das sie als Opfer kennzeichnet, aber auch als handelnde Akteurin heraushebt. Regisseurin Katharina Kastening verzichtet vollständig auf konkrete Requisiten und deutet das Geschehen weitgehend nur pantomimisch an. Die Geschichte entwickelt sie wie ein mittelalterliches Volks- oder Mysterienspiel mit klar umrissenen Charakteren ohne Psychologisierung. Dadurch verschieben sich die Akzente weg vom Doku-Drama und hin zu einer allgemeingültigen Fabel über Frauenrechte und Widerstand. Im Prinzip erzählt Kastening ein modernes Märchen: Ein junges Mädchen erlebt die größtmögliche Schmach und Demütigung, lehnt sich dann aber gegen das Schicksal auf und bekommt auf unerwartete Weise Genugtuung durch ein höheres Gericht, die Bestrafung der Bösen eingeschlossen. Diese Herangehensweise entspricht gut der Prägnanz des Textes und der Einfachheit der Musik. Sparsam eingesetzte Videoprojektionen (Elena Tilli) von historischen Bildern und Live-Videos weisen andererseits auf die Aktualität und den dokumentarischen Charakter des Werkes hin, ohne die bewusste Künstlichkeit der Szene zu sprengen. ![]() Die Vergewaltigung wird im Stück nicht gezeigt. Diese tauartigen Objekte, die wie Würmer nach Mukhtar greifen, symbolisieren ihren Zustand danach.
Dazu passt auch, dass Sängerinnen und Sänger mit wenig Operngestus singen, sondern mit natürlicher, dem Sprechen angenäherter Stimme. Auch das gibt dem Werk den Charakter von Stehgreiftheater. Sharon Tadmor in der Rolle der Mukhtar wirkt zunächst zerbrechlich (und viel jünger als 30, dem Alter der realen Mukhtar Mai zum Zeitpunkt der Vergewaltigung) und singt die Partie mit schönem, mädchenhaft leichtem Sopran. Sie macht aber auch ihren Lebenswillen deutlich: Eine anrührend sanfte Anklägerin. In wechselnden Rollen (im unveränderten Kostüm) können auch Banu Schult, Oliver Weidinger, Merlin Wagner, Sergio Augusto und Nihal Azak überzeugen. Das Kammerensemble spielt unter der Leitung von Bonnie Wagner angenehm zurückhaltend und sensibel, trumpft nicht auf und vermeidet theatralische Klangeffekte. Hier und da legen die Ausführenden ihre Instrumente beiseite und klatschen komplexe Rhythmen. Die Musik unterlegt und koloriert das Drama als eigene Schicht mit interessanten Klängen, belässt den Schwerpunkt aber auf der Handlung. ![]() Nach dem Prozess ist Mukhtar eine von der Presse gefragte Person - hier bittet ein Reporter (Sergio Augusto) um ein Interview
Am Ende, wenn Mukhtar als Menschenrechtsaktivistin gefeiert wird, driftet die fesselnde Geschichte dann doch ein wenig ins Pathos ab. Sätze wie "ich bin nur ein Tropfen, aber mir wird der Regen folgen" klingen toll und können jedes Poesiealbum schmücken. Aber auf dem Weg dahin wirkt Thumbprint allzu glatt. Die Oper möchte kein Diskurstheater zeigen, sondern exemplarisch den Mut zum Widerstand würdigen. Das ist ehrenwert, aber doch stark vereinfachend. Mukhtar Mai hat sicher mehr Verletzungen davongetragen, als diese 90 Minuten zeigen wollen. Bedenklich angesichts des hier gezeigten Happy Ends ist, was die Oper verschweigt: Die Todesurteile wurden bereits 2005 (also lange vor der Komposition) in höherer Instanz aufgehoben, fünf der sechs Verurteilten freigelassen und Mukhtar Mai offenbar wegen Angst vor Racheaktionen der Täter unter Polizeischutz gestellt. (Eine Darstellung der schwierigen Rechtslage mit konkurrierenden weltlichen und religiösen Rechtssystemen in Pakistan findet man hier). In der Wirklichkeit gehen Märchen eben meist doch nicht so gut aus. Das allerdings wissen auch die Wuppertaler Bühnen und flankieren die Produktion unter dem Titel "Nebenton: Aufbegehren" mit einem gut durchdachten Begleitprogramm.
Kamala Sankaram glättet in Thumbprint die bewegende Geschichte vom Mukhtar Mai auf leicht konsumierbare Dimensionen. Die zurückhaltende, bei aller Abstraktion präzise Inszenierung von Katharina Kastening macht mit guten Darstellerinnen und Darstellern ziemlich viel daraus. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne und Kostüme
Videodesign
Dramaturgie
Solisten
Mukhtar
Mutter / Minister / Reporter
Vater /Richter/ Reporter / Mastoi
Faiz / Polizist/ Reporter/ Bewohner
Shakur / Imam/ Reporter / Mastoi/ Bewohner
Annu / Junge Frau / Reporter
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