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Mit voller Dröhnung in die Höllevon Stefan Schmöe / Fotos Von Wilfried Hösl und Ursula Kaufmann
Als der erste Ton der Musik brachial in die völlige Dunkelheit hinein schlägt, kreischen manche Besucher vor Schreck auf. Da steckt Choreograph Richard Siegal im Zusammenspiel mit Komponist Lorenzo Bianchi Hoesch gleich ab, was der Abend bringen wird. (Vorsorglich hält der Veranstalter Ohrstöpsel bereit.) Ein Spot geht an, beleuchtet eine starr stehende Tänzerin, verlischt schnell wieder. Der nächste Spot geht auf eine andere Tänzerin, der schnelle Lichtwechsel verwirrt das Auge. Nach und nach bilden sich Paare, kleine Gruppen, bis endlich leichtes Dämmerlicht die, nun ja, ziemlich hässlichen Kostüme (Alexandra Bertaut) erkennen lässt: Langärmlige schwarze Oberteile, die nach einer Mischung aus Plastik, Kunstleder und Glitzer aussehen, schwarzer Slip und - graue Socken. Für Männer wie für Frauen. Dazwischen viel unbekleidetes Bein.
Siegal, der von 1997 bis 2004 bei William Forsythe in Frankfurt getanzt hat und danach die interdisziplinäre "Plattform" The Bakery gegründet hat, lässt seine sechs Tänzerinnen und vier Tänzer wie Puppen agieren, mit beinahe mechanischen Bewegungsabläufen, wie fremdgesteuert. Die Bewegungen folgen offenbar einem höheren Plan, streng rechtwinklig. Alles Individuelle scheint auf den ersten Blick aufgehoben, nicht zuletzt durch die gleiche Kostümierung. Auf der anderen Seite hat Siegal das Ensemble aus denkbar unterschiedlichen Charakteren zusammen gestellt, teils Mitgliedern des Bayerischen Staatsballetts München, teils über The Bakery verpflichtete Solisten - darunter die unglaublich coole Katharina Christl, die sich immer wieder ins Zentrum der Aufführung tanzt. Oder den riesigen Corey Scott-Gilbert, der allein durch seine Länge alle Normen sprengt. Und das macht das Stück spannend: Bei allen Zwängen, die es gibt, bestehen doch Freiräume, ist da plötzlich ein unerwartetes Solo ganz frech über die Raumdiagonale, auch ein Pas de deux ist möglich, während die anderen in unterkühlter Pose, und das hat Siegal wahrlich virtuos choreographiert, diverses Tanzvokabular zwischen klassischem Ballett, Standard, Disco und Show Dance lässig in die energiegeladenen Bewegungen einbauen.
Dazu wummert, dröhnt, klingelt und jault die elektronische Musik, melodiefrei perkussiv, laut lärmend und meistens mit deutlichem Pulsschlag. Sie treibt die Tänzer an, 20 kurzweilige Minuten lang bis zur frühen und sehr langen Pause. Denn das eigentliche Stück kommt ja noch - Metric Dozen ist ja bereits 2014 für das Ballett in Marseille entstanden und auch schon in München gezeigt worden. Für diese Ruhrtriennale hat Siegal eine Uraufführung geschaffen, etwa 40 Minuten lang, mit dem Titel Model, aber diese Choreographie wirkt wie eine Antwort auf Metric Dozen. Im etwas wirren Programmheft werden die beiden Arbeiten kurzerhand zu "Part I" und "Part II" zusammengefügt.
Die Kostüme sind nach der Pause anders scheußlich, nicht mehr schwarz, sondern die Oberteile weiß und in Querstreifen zerschnitten, was an Skelette denken lässt (na gut, wir sind, siehe unten, ja auch in der Hölle). Bei den Damen hat die Kostümbildnerin immerhin so viel einsehen gehabt, dass die nun Ballettschuhe tragen dürfen (was womöglich daran liegt, dass sie mitunter auf Spitze tanzen müssen), bei den Herren bleiben die Socken grau. Eine Art Spiegelung gibt es nicht nur bei den Farben, sondern auch im Verhältnis der Geschlechter: jetzt sind es sechs Herren und vier Damen. Das Bewegungsrepertoire wirkt zunächst beliebiger, hat nicht die Prägnanz von Metric Dozen, dafür beherrschen etliche quadratische und mit eng LEDs bestückte Quadrate von vielleicht 60 cm Kantenlänge die Bühne, die stroboskopartig aufleuchten und ein wahres Lichtgewitter zu erneut dröhnenden Musik veranstalten.
Vorstellungen von der Hölle haben Siegal zu diesem Stück inspiriert, Sartres Hölle, die bekanntlich aus den "anderen" besteht, Dantes Inferno, und dazu ein Gedicht von Jorge Luis Borges. Am Ende feuert die Musik regelrecht Maschinengewehrsalven ab, wozu sich ein Körper am Boden wälzt, und da kratzt Siegals Ästhetik der akustischen und visuellen Dauerüberrumpelung ziemlich dicht an der Oberfläche. Berührender ist der vergleichsweise ruhige Mittelteil, bei dem zunächst ein vogelartiges Wesen auf die Bühne kommt, später eine Tänzerin wie im Delirium und unfähig, auf den eigenen Beinen zu stehen; vor allem aber in einem beinahe zarten Reigen der unseligen Geister. Eine poetische Episode im Powerballett. Am Ende erschöpfter Beifall..
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Ausführende
Choreographie, Bühne Video
Komposition
Kostüme
Licht
Programmierung LEDs
Dramaturgie Model
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- Fine -